Nach seinem Aufstieg in die Top Ten wird der 19-jährige Spanier in der Tenniswelt schon als legitimer Erbe der Big Three und als Geheimtipp für die anstehenden French Open gehandelt.
Fünfmal stand er bislang in seiner noch jungen Karriere im Endspiel eines ATP-Turniers. Und fünfmal ging er dabei als Sieger vom Platz. „Mir wurde von klein auf beigebracht, dass Endspiele nicht gespielt, sondern gewonnen werden." Dieses Statement von Carlos Alcaraz nach seinem jüngsten Triumph am 24. April 2022 beim Sandplatzturnier in Madrid mag für einen 19-jährigen Youngster ziemlich abgehoben klingen. Mit Novak Djokovic, Rafael Nadal und Alexander Zverev hat er nacheinander gleich drei Top-Fünf-Spieler aus dem Weg geräumt und seinen deutschen Konkurrenten im Finale gleichsam demontiert – was mit dem Aufstieg auf den sechsten Platz der ATP-Weltrangliste belohnt wurde. Doch dürfte der Ausspruch letztlich nur jugendlicher Euphorie geschuldet gewesen sein, weil der am 5. Mai 2003 in El Palmar, einem zur südostspanischen Stadt Murcia gehörenden Ort mit 25.000 Einwohnern, geborene Carlos Alcaraz Garfia ansonsten in der Szene völlig bescheiden aufzutreten pflegt. „Es ist toll für das Tennis", so der geschlagene Zverev nach seiner Madrid-Schlappe, „dass wir so einen neuen Superstar haben, der in seiner Karriere viele Grand-Slam-Titel gewinnen wird." Auch Djokovic zollte der Leistung des jungen Tennisspielers in Madrid seine Anerkennung: „Für jemanden in seinem Alter spielt er schon sehr reif und unerschrocken, das ist beeindruckend."
Seine Bescheidenheit ehrt ihn, obwohl er in seiner bisherigen Laufbahn schon eine ganze Reihe von Rekorden gebrochen oder eingestellt hat. Inzwischen wird Carlo Alcaraz von den meisten Experten als legitimer Erbe der Big Three, nämlich von Roger Federer, Rafael Nadal und Novak Djokovic gehandelt – weil kein Spieler seit Nadal die Tenniswelt in frühen Jahren ähnlich radikal aufmischen konnte wie das 1,85 Meter große und 72 Kilogramm schwere Muskelpaket. Doch nicht nur körperlich ist der Jungspund für sein Alter schon weit fortgeschritten, er verfügt außerdem schon über eine immense mentale Stärke, verblüffende Spielintelligenz und psychische Stabilität auf dem Court. „Seine technische und psychische Entwicklung ist enorm", so bewundernd Toni Nadal, Onkel und langjähriger Trainer von Rafael Nadal, „Überall hat sich Carlos massiv verbessert."
Allerdings versucht sein Coach Juan Carlos Ferrero, in dessen Akademie Alcaraz, der schon mit vier Jahren das Racket geschwungen hatte, im August 2018 eingetreten war und der den Spieler seit 2019 betreut, etwas auf die Hype-Bremse zu treten: „Er ist schon sehr weit für sein Alter. Ausgelernt hat er aber natürlich noch nicht."
Wie Nadal sehr stark auf Sand
Wobei man auf der Suche nach etwaigem Nachholbedarf schon sehr kritisch herangehen muss. Allenfalls die Präzision beim Aufschlag ist wohl noch verbesserungsfähig. Wenn diese klitzekleine Schwäche noch behoben werden kann, dürfte in absehbarer Zeit einem Aufstieg zur Nummer eins der Welt kaum noch etwas im Wege stehen. Ähnlich wie Nadal fühlt sich Alcaraz auf Sand am wohlsten, mag aber auch die Hartplätze. Dennoch hat der wieselflinke Rechtshänder die French Open schon mal zu seinem Lieblingsturnier auserkoren, obwohl er dort 2021 bei seiner ersten Teilnahme in der dritten Runde am deutschen Altmeister Jan-Lennard Struff gescheitert war, sich aber für das anstehende Pariser Turnier viel vorgenommen hat. Seine stärkste Waffe ist die Vorhand, mit der er das Spiel diktieren kann. Aber auch seine beidhändige Rückhand kann aus dem Nichts heraus die Gegner vor unlösbare Probleme stellen. Vor allem bei Passbällen erinnert die Rückhand stark an Nadal, auch wenn dieser natürlich Linkshänder ist. Alcaraz beherrscht meisterhaft das Einstreuen von Stoppbällen, gefürchtet sind aber auch seine Lobe. Monotones Grundlinientennis ist ihm völlig fremd, stattdessen verhilft er dem lange ausgestorbenen Serve-and-Volley mit schnellem Aufrücken zum Netz nach einem gelungenen Aufschlag zu einer Wiederauferstehung. Und er bietet aggressives Power-Tennis, wofür er sich vor jedem Match mit dem „Rocky"-Song „The Eye of the Tiger" in Stimmung bringt, gespeist durch schnelle Bälle bei überlegener Spielkontrolle und vor allem durch die Härte seiner Schläge. Wovon sich der griechische Spitzenspieler Stefanos Tsitsipas, der Alcaraz sowohl bei den US-Open 2021 als auch jüngst in Barcelona unterlegen war, besonders beeindruckt zeigte, weil er noch nie auf einen Gegner getroffen sei, der „so hart auf den Ball schlägt wie Carlos".
Starke Körperliche Voraussetzungen
Natürlich wird Alcaraz nicht zuletzt wegen seines Körpers, seines enormen Kampfgeists und dem unzähmbaren Siegeswillen längst mit Nadal verglichen, gegen den er beim Sandplatz-Masters in Madrid 2021 klar und beim renommierten Masters in Indian Wells im März 2022 knapp im Halbfinale verloren hatte, und den er Anfang Mai 2022 in Madrid im Viertelfinale erstmals nach großem Kampf besiegen konnte. Beide haben zudem mit Real Madrid den gleichen Lieblingsfußballverein. „Mein Trainer Juan Carlos Ferrero, der für mich fundamental wichtig ist, mag es nicht, wenn ich mit Rafa verglichen werde", so Alcaraz, „Er will, dass ich mich auf mich fokussiere, auf Carlos Alcaraz, und nicht versuche, jemand anders zu sein. Dieser Rat hat mir sehr geholfen." Zudem sei Nadal eine Legende: „Es wird nie einen anderen Rafa geben. Ich bin Carlos." Was die Dynamik im Spiel angeht, so hat Alcaraz selbst schon mal mehr Parallelen zu Roger Federer aufgezeigt. „Ehrlich, ich kopiere keinen Stil von Spielern, sondern spiele mein Spiel. Aber wenn ich einen Spieler nennen müsste, der ähnlich wie ich spielt, denke ich, dass es Roger wäre. Auch er versucht, die gesamte Zeit aggressiv zu sein."
Außerhalb der Szene wurde Alcaraz erst in der Saison 2021 so richtig bekannt. Im kroatischen Umag konnte er im Juli im Finale gegen Richard Gasquet seinen ersten ATP-Titel gewinnen und war damit seit Kei Nishikori 2008 der jüngste Spieler, der dies erreichen konnte. Nachdem er bei den Australian Open im Februar 2021 in der ersten Runde zwar sein erstes Grand-Slam-Match gewinnen konnte, aber in der zweiten Runde ausscheiden sollte, sorgte er bei den US-Open im Spätsommer durch den Einzug ins Viertelfinale, wo er beim Match gegen Felix Auger-Aliassime wegen Adduktorenproblemen verletzt aufgeben musste, für Furore. Was einem 18-Jährigen bei einem Grand Slam-Turnier seit Michael Chang 1990 in Paris und bei den US-Open seit Thomaz Koch im Jahr 1963 nicht mehr gelungen war. Zum Saisonabschluss triumphierte er bei den ATP Next Gen Finals und konnte sich in der Weltrangliste innerhalb eines Jahres um mehr als 100 Plätze bis auf Position 32 verbessern. Mit seinen insgesamt 32 siegreichen Matches war er nach Andrei Medvedev 1992 der jüngste Spieler, der in einer Saison die Marke von 30 Erfolgen knacken konnte.
Mit 19 Jahren unter den Top Ten
Das Tennisjahr 2022 sollte für Alcaraz noch weitaus erfolgreicher werden, in den ersten Monaten sollte einzig Nadal bis zu seiner Rippenfraktur Ende März noch mehr Matches gewinnen als sein junger Landsmann, der schon seit seinem zwölften Lebensjahr beim Vermarktungsriesen IMG unter Vertrag steht und seit 2013 vom Schlägerhersteller Babolat gesponsert wird. Wobei Alcaraz nur 70 Matches benötigte, um 50 Siege bei der ATP-Tour einzufahren, während Nadal für diese Marke einst 81 Begegnungen gebraucht hatte. Nachdem Alcaraz noch bei den Australian Open in der dritten Runde im Tie-Break des fünften Satzes an Matteo Berrettini gescheitert war, gelang ihm im Februar auf Sand in Rio de Janeiro sein zweiter ATP-Titelgewinn und gleichzeitig der erste Sieg bei einem ATP-500-Tour-Event, was erstmals mit dem Sprung unter die Top-20 belohnt wurde und im Alter von 18 Jahren zuletzt Andrei Medvedev 1993 gelungen war. Der nächste Paukenschlag ließ nicht lange auf sich warten. Denn Anfang April konnte Alcaraz, der schon als 14-Jähriger seinen ersten Punkt in der ATP-Weltrangliste verbuchen konnte – was nicht einmal einem Nadal gelungen war – 2017 ein Einladungsturnier für 14-Jährige im Vorfeld der ATP-Tour-Finals gewonnen hatte und 2018 U16-Europameister geworden war, in Miami durch den Finalsieg gegen Casper Ruud sein erstes Master-Turnier der 1.000er-Kategorie gewinnen. Damit konnte er sich zum jüngsten Sieger aller Zeiten in Ablösung des 2007 gerade mal 19-jährigen Novak Djokovic bei diesem Event küren und auf den elften Platz im ATP-Ranking klettern.
Nach Nadal in Monte Carlo 2005 und Michael Chang in Toronto 1990 war Alcaraz der jüngste Sieger eines solch hoch eingestuften Events. Dann folgte der Sieg beim Sandplatzturnier in Barcelona am 24. April, wodurch er erstmals den Sprung unter die Top-Ten der Tennis-Weltrangliste (Platz neun) geschafft hatte. Grund genug für den spanischen König Felipe VI., dem Champion gleich nach dem Match persönlich per Handyanruf zu gratulieren. „Carlos ist nicht mehr die Zukunft des Tennis", so der ehemalige Weltranglistenerste Andy Roddick, „sondern schon die Gegenwart."