Jahrelang blamierte sich die Fußball-Bundesliga im Uefa-Cup und dem Nachfolge-Wettbewerb Europa League nach Kräften. Nun kam Eintracht Frankfurt. Und schrieb das Märchen eines Underdogs, dem europaweit viele Herzen zufliegen.
Der Traum von einem deutschen Finale hatte sich im letzten Moment zerschlagen. Weil RB Leipzig wie zuvor schon Borussia Dortmund an den zähen Glasgow Rangers scheiterte, treffen nun die Schotten im Europa-League-Finale von Sevilla am 18. Mai auf Eintracht Frankfurt. Ein rein deutsches Endspiel hätte durchaus seinen Reiz gehabt, es wäre erst das dritte im Europacup gewesen nach dem im Uefa-Cup 1980 zwischen Frankfurt und Borussia Mönchengladbach und dem in der Champions League zwischen dem FC Bayern und Borussia Dortmund 2013. Doch unabhängig von der Kritik vieler Fans am Konstrukt RB Leipzig sieht manch einer es auch als positiv an, dass nur die Eintracht im Endspiel steht. Denn so gehört diesem Verein alleine die Bühne in Deutschland. Dieser Eintracht, die eines der schönsten deutschen Europacup-Märchen überhaupt schrieb. Eintracht-Präsident Peter Fischer gab nach dem Final-Einzug noch auf dem Platz, umarmt von Fans, eine Spitze gegen RB ab. „Unglaublich wird das", sagte er mit Blick auf das Endspiel: „Und dann auch noch gegen Glasgow. Das ist Tradition gegen Tradition."
Knapp vorbei an deutschem Finale
Es begann eigentlich schon im Jahr 2018. Durch den überraschenden Pokalsieg im Finale gegen den FC Bayern qualifizierten sich die Hessen für die Europa League. Und schlossen sie gleich in ihr Herz. Es ist kein Zufall, dass Deutschland den einst „Uefa-Cup" heißenden zweitgrößten Europacup seit Schalke 1997 nicht mehr gewonnen hatte. Ja sogar seit 13 Jahren, seit Bremens Niederlage 2009 gegen Schachtjor Donezk, nicht mehr im Endspiel gestanden hatte. Auch wenn viele Clubs eine ganze Saison auf die Teilnahme hinspielten, sahen sie den von Franz Beckenbauer einst „Cup der Verlierer" genannten Wettbewerb nach erfolgter Qualifikation oft als Belastung. Jammerten über die Doppel- oder gar Dreifachbelastung, beschwerten sich intern über beschwerliche Reisen in die europäische Fußball-Provinz am Donnerstagabend und daraus folgende zahlreiche Sonntag-Spiele in der Bundesliga. Und wechselten für diese Spiele kräftig durch. Meist mit dem klaren Zeichen, dass das Hauptaugenmerk auf der Bundesliga liegt. Das Problem dabei war vielleicht aber auch einfach jenes, dass der Bundesliga ein breiter Mittelbau fehlte. Mussten erfahrene Europacup-Teilnehmer wie Borussia Dortmund oder Bayer Leverkusen in der Europa League ran, empfanden sie sie unbewusst vielleicht tatsächlich als unwürdig. Schafften es Außenseiter wie Mainz, Augsburg, Köln oder Freiburg, fehlte ganz einfach die Qualität. Und nicht selten rutschten diese dann in der Liga in den Abstiegskampf und mussten dann tatsächlich ihr ganzes Augenmerk auf die Liga legen.
Ganz anders die Frankfurter: Sie zeigten 2018 schon in der Vorrunde, wie viel Lust sie auf diesen Wettbewerb hatten. Holten in einer Gruppe mit Lazio Rom und Olympique Marseille Platz eins mit sechs Siegen aus sechs Spielen. Setzten sich anschließend gegen Schachtjor Donezk, Inter Mailand und Benfica Lissabon durch. Und scheiterten nur denkbar knapp im Halbfinale am FC Chelsea nach zweimal 1:1 im Elfmeterschießen. In Martin Hinteregger und Goncalo Paciencia verschossen damals zwei Spieler, die heute noch dabei sind. Doch schon damals gewann die Eintracht viele Sympathien, bundesweit und auf dem ganzen Kontinent. Der englische „Telegraph" schrieb von einem „wunderbaren Team". Die bittere Pointe war jedoch die: Im Saison-Endspurt hatte Frankfurt so viele Kräfte verschlissen, dass es in der Liga die erste Qualifikation für die Champions League verpasste.
Die könnte – auch damit würde sich ein Kreis schließen – nun gelingen. Und zwar durch einen Triumph im Europa-League-Finale. Deutschland wäre damit erstmals mit fünf Teams in der Champions League vertreten. Und die Eintracht wäre ein Sinnbild dafür, was in diesem Wettbewerb möglich ist. Sportlich, finanziell, aber auch vom Renommee her.
„Die Gefühle werde ich mitnehmen"
Es begann wieder mit einer ungeschlagenen Gruppenphase als Erster vor Olympiakos Piräus und Fenerbahce Istanbul. Und nach dem Achtelfinale gegen Betis Sevilla folgte schon Historisches. Nach einem 1:1 gegen den FC Barcelona – der zwar nicht mehr die Größe und Magie alter Tage hat, aber in der Liga deutlich vor Bayerns Champions-League-Bezwinger FC Villarreal steht – eroberten die Frankfurter in mehrerlei Hinsicht das legendäre Stadion Camp Nou. 30.000 Fans ergatterten eine Karte und sorgten dafür, dass Barcelona-Anhänger den Beginn der zweiten Halbzeit boykottierten und der Verein eine Aufarbeitung der Geschehnisse und Änderung der Kartenverteilung ankündigte. Die Mannschaft machte das Spiel ihres Lebens und gewann 3:2, führte dabei bis kurz vor Schluss mit 3:0. Und der gesamte Verein zeigte sich extrem volksnah. Allen voran Präsident Peter Fischer, der sich am Mittag unter die Fans am Placa Catalunya gemischt und ein Dosenbier getrunken hatte und danach ankündigte, nun wolle er auch „aus dem verdammten Pokal saufen". Trainer Oliver Glasner, sonst in der Öffentlichkeit nicht als ekstatischer Typ bekannt, machte auf dem Rasen den „Diver" und zerstörte sich beim Rutschen über den Platz seine Hose. „Egal" sei dies, sagte der Österreicher: „Diese Gefühle werde ich mitnehmen, bis ich irgendwann hoffentlich mal eine Etage höher bin."
Den Rausch nahmen die Hessen mit, gewannen im Halbfinal-Hinspiel mit 2:1 bei West Ham United. Wieder in London, dort, wo die Reise drei Jahre zuvor so tragisch geendet hatte. Im Rückspiel spielte ihnen zunächst alles in die Karten: eine Rote Karte für West Ham in der 20. Minute, die Führung kurz darauf. Doch dann hatten die Hessen auf dem Weg nach vorne immer mehr bleierne Füße. Den Erfolg vor Augen, das Scheitern im Hinterkopf, konnten sie nicht mehr nachlegen. Doch diese Mannschaft lebte ohnehin von ihrer Leidenschaft. Und die behielt sie und verteidigte das 1:0 gegen tapfer anlaufende Engländer über die Zeit. Die Fans, die vor dem Spiel mit einer riesigen Choreo und während des Spiels immer wieder mit zweifelhaften Bengalos, vor allem aber gnadenlos lautstarken Unterstützung für Aufsehen gesorgt hatten, stürmten den Rasen. Noch eine Stunde nach Schlusspfiff hatte kaum jemand in Schwarz und Weiß gekleidet die Arena verlassen. Die Feier der Mannschaft dauerte bis 4 Uhr morgens. „Das war das schönste Spiel und der schönste Tag in meiner Karriere", sagte Nationaltorhüter Kevin Trapp.
„Der schönste Tag in meiner Karriere"
Selbst, dass die Eintracht die Liga-Spiele, wo ein Europacup-Platz aussichtslos schien, zu Trainingseinheiten unter Wettkampf-Bedingungen umfunktionierte, tat ihrer Beliebtheit keinen Abbruch. Er habe niemanden, der gegen West Ham spielen solle, länger als 45 Minuten auf dem Platz lassen wollen, sagte Glasner nach dem 0:2 in Leverkusen zwischen den beiden Halbfinals. „Diese Rücksicht haben wir genommen. Das ist unüblich für die Bundesliga. Aber das war richtig, und da stehe ich zu." Nach dem Final-Einzug kündigte er für die letzten beiden Spiele an: „Ich werde kein Risiko mehr eingehen."
Doch das verstanden alle. Denn zum einen hatte die Eintracht auf ihrem Weg durch Fußball-Europa viele Herzen erobert. Vor allem aber schrieb sie dadurch eine Geschichte, die für den deutschen Fußball unheimlich wichtig ist. In Zeiten, in denen vermehrt über Entfremdung der Fans wegen der großen Kommerzialisierung geredet wird und niemand weiß, wie nachhaltig die Fans nach langer Zeit mit Geisterspielen zurückkommen werden, ist es ein Märchen, das kein PR-Mensch besser hätte erfinden können. Ein Traditionsverein mit riesiger und überwiegend friedlicher Fan-Schar mischt als Underdog mit großer Leidenschaft und echten Typen die europäische Elite auf. Zeigt allen in Deutschland, welch wunderbare Geschichte diese Europa League sein kann. Und könnte sich am Ende gar mit dem Titel und der ersten Champions-League-Teilnahme krönen.
Denn im Finale ist die Eintracht plötzlich Favorit. Vor dem Halbfinale hatte RB als dieser gegolten, doch gegenüber den Rangers, die noch mehr über Leidenschaft kommen und oft von der Heimstärke in ihrem Hexenkessel Ibrox profitieren, sehen die meisten Experten den Bundesligisten im Vorteil. Und bei der Eintracht bemühen sie sich auch gar nicht mehr um unglaubwürdiges Understatement. „Jetzt wollen wir das Ding auch holen", sagte Präsident Fischer: „Und ich bin sicher: Wir werden es holen!" Es wäre tatsächlich ein unglaubliches Happy End eines modernen Fußball-Märchens.