Die vor 20 Jahren verstorbene Niki de Saint Phalle gilt als eine der bedeutendsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Viele kennen nur ihre Nana-Skulpturen, und nur wenige wissen, dass die Autodidaktin ihr Werk als Therapie gegen Verletzungen und als Auflehnung gegen männliche Dominanz geschaffen hatte.
Jeder, der schon mal bei einem Paris-Besuch einen Abstecher zum Centre Pompidou gemacht hat, wird sich an die bunten Fabelwesen und die unter dem Namen „Nanas" bekannten drallen Frauen-Skulpturen im riesigen Wasserbecken des Strawinski-Brunnens erinnern. Geschaffen wurden sie 1983 von der französisch-amerikanischen Künstlerin Niki de Saint Phalle. Zusätzlich profitiert das Werk von dem spielerisch-reizvollen Gegenpart, den ihr ebenso bekannter zweiter Ehemann, der Schweizer Jean Tinguely, mit seinen schwarzen Metall-Maschinen-Plastiken beigesteuert hat. Auch in der niedersächsischen Landeshauptstadt, die sich als frühe Förderin der Künstlerin einen Namen gemacht und daher für das Sprengel-Museum Ende 2000 eine über 400 Exponate umfassende Schenkung von de Saint Phalle erhalten hatte, thronen schon seit 1974 drei übergroße, aus Polyester gestaltete Nana-Figuren am Leineufer. Anfangs waren die Dramen ziemlich umstritten, inzwischen gelten sie als eines der Markenzeichen Hannovers.
Dessen Stadtoberen hatten die zur Ehrenbürgerin aufgestiegene Künstlerin auch mit der Ausgestaltung der Grotte im Großen Garten von Herrenhausen mit bunten Frauenfiguren sowie schillernden Mosaiken aus Glas- und Spiegeln betraut – ihr letztes, 1998 begonnenes und noch kurz vor ihrem Tod am 21. Mai 2002 fertiggestelltes Großprojekt. Niki de Saint Phalle war vor 20 Jahren im Alter von 71 Jahren im kalifornischen San Diego infolge jahrzehntelanger Lungenschädigung durch giftige Polyester-Dämpfe gestorben.
Jeanne d’ Arc der neuen Kunstszene
Auch in der Bonner Bundeskunsthalle hatte Niki de Saint Phalle, die ihre letzten Jahre auf ärztlichen Rat hin im milden Klima des kalifornischen La Jolla verbracht hatte und seit 1971 auch das Schweizer Bürgerrecht besaß, 1992 zu den Gründungsausstellerinnen gezählt. Wie überhaupt die Künstlerin schon zu Lebzeiten mit Ausstellungen in nahezu allen wichtigen Museen der Welt gefeiert wurde. Der Direktor des Stockholmer „Moderna Museet" Pontus Hultén hatte als einer der ersten Kunst-Insider ihr außergewöhnliches Talent entdeckt und ihr schon 1966 seine hehren Hallen für eine Riesen-Nana namens „Hon" geöffnet. Diese war durch die „Vagina" betretbar und entwickelte sich seinerzeit innerhalb von drei Monaten mit 100.000 Besuchern zum Publikumsmagneten.
Gleiches galt später für ihre „Golem" (Monster) getaufte Monumentalskulptur mit Rutschen auf einem Kinderspielplatz in Westjerusalem oder für das von ihr zu ihrem Lebenswerk ernannte Parkskulpturen-Paradies in der toskanischen Gemeinde Capalbio. In rund 20 Jahren schuf sie dort bis 1996 22 bunte, mit Keramik, Glas und Spiegelelementen geschmückte Figuren mit Motiven aus dem Tarot-Universum. Womit sie etwas Vergleichbares schaffen wollte, wie es Antoni Gaudi in Barcelona mit dem Park Güell gelungen war. Da ihr zwar das Gelände von einer ihrer alten Freundinnen, Marella Caracciolo, die aus einer steinreichen neapolitanischen Adelsfamilie stammte und mit dem Auto-Tycoon Gianni Agnelli verheiratet war, unentgeltlich zur Verfügung gestellt wurde, sie aber sämtliche Kosten des Großprojekts selbst tragen musste, beging sie das in klassischen Künstlerkreisen als unverzeihlich angesehene Sakrileg, sich durch den Entwurf eines blau-goldenen Parfum-Flakons mit eigenem Duft erfolgreich zu vermarkten und unter ihrem Namen auch noch Kunsthandwerk oder Möbel vertreiben zu lassen.
Alle bislang genannten Werke mögen den Eindruck einer fröhlichen Welt erwecken und könnten durchaus als Zeugnis einer glücklichen Gefühlswallung ihrer Schöpferin missverstanden werden. Zudem scheinen sie im Unterschied zu vielen Erzeugnissen der Modernen Kunst leicht verständlich und konsumierbar zu sein. Doch mit all diesen Einschätzungen liegt man bei Niki de Saint Phalle völlig falsch. Schließlich hat sie sich selbst immer wieder als „Terroristin der Kunst" bezeichnet. Zudem wurde ihr als der bekanntesten weiblichen Protagonistin der europäischen Pop Art schon früh der Spitzname „Jeanne d’ Arc" der zeitgenössischen Kunstszene verpasst.
Damit nicht genug, wurde sie zusammen mit ihrem Kollegen Jean Tinguely als „Bonnie and Clyde" der Kunstwelt tituliert – weil beide es liebend gerne krachen ließen. Gemeinsam sprengten sie beispielsweise 1962 in der Wüste Nevadas Skulpturen mit hunderten Stangen Dynamit, nachdem sie kurz zuvor auf Anregung von Salvador Dalí einen aus Gips und Papier gestalteten Stier am Ende einer spanischen Corrida in die Luft gejagt hatten.
Als Kind vom eigenen Vater missbraucht
Im Jahr 1961 hatte Niki de Saint Phalle für Furore mit ihren ersten sogenannten Schießbildern gesorgt, die sie sogleich in die erste Reihe der damaligen Kunstavantgarde befördert hatten. Anfangs noch unter Verwendung von Pfeil und Bogen, kurze Zeit später durch Einsatz eines Gewehrs, wurden sogenannte Assemblagen, bei denen es sich um Holzplatten handelte, auf denen unter einer Schicht aus Gips oder Kunststoff alltägliche Gegenstände wie Knöpfe, Nägel, Scherben, Pistolen, Kaffeebohnen und vor allem Farbbeutel oder später auch Farbsprühdosen angebracht waren, unter Beschuss genommen. Damit sollte bis 1963 eine Serie von „blutenden Bildern" erzeugt werden – teils von der Künstlerin selbst in einer öffentlichen Performance vorgeführt, teils unter Mitwirkung prominenter Kollegen, teils unter Mitwirkung des Besucherpublikums.
Damit hatte Niki de Saint Phalle eine Frühform des künstlerischen Happenings geschaffen, zu einer Zeit, als dieser Begriff noch völlig unbekannt war. Die Begeisterung im Kollegenkreis war so groß, dass Niki de Saint Phalle als einzige Frau in den vom Kunstkritiker Pierre Restany gegründeten elitären Kreis des „Nouveau Réalisme" aufgenommen wurde, dem unter anderem Yves Klein, Jean Tinguely, Christo oder Daniel Spoerri angehörten und der eine Abwendung von der zweidimensionalen Malerei hin zum Objekthaften als Maxime propagiert hatte. „Ich hatte das Glück, die Kunst zu entdecken", schrieb Niki de Saint Phalle in ihren Erinnerungen, „denn psychisch war ich bereit, Terroristin zu werden." Und weiter: „Ich schoss gegen Daddy, gegen alle Männer."
Um dies zu verstehen, muss man sich den Lebenslauf der am 29. Oktober 1930 in Neuilly-sur-Seine, einem Nobelvorort von Paris, als Catherine Marie-Agnès Fal de Saint Phalle und als Spross einer der ältesten, bis zu den Kreuzzügen zurückreichenden Adelsfamilie Frankreichs geborenen späteren Künstlerin vergegenwärtigen. 1937 siedelte die Familie nach New York um, weil der Vater dort nach dem Zusammenbruch des eigenen Bankhauses Saint Phalle & Company in Folge des Börsencrashs von 1929 als Börsenmakler allmählich wieder Oberwasser gewonnen hatte. Die Mutter, eine amerikanische Schauspielerin, hatte ihrer Tochter schon im Alter von vier Jahren nur noch „Niki" genannt. Nach einer schwierigen Schullaufbahn, die Niki de Saint Phalle 1947 mit dem High School-Diplom abschloss, begann sie eine Laufbahn als Fotomodell und schaffte es 1948 sogar auf das Cover der „Vogue". Gegen den Willen der Eltern heiratete sie 1949 den späteren Schriftsteller Harry Mathews, sollte mit ihm die beiden Kinder Laura und Philip bekommen und 1952 nach Paris zurückkehren, um dort eine Schauspielschule zu besuchen.
Beginn eines starken Feminismus
Ein Jahr später folgte ein schwerer Zusammenbruch, sie wurde in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und mit Elektroschocks behandelt. Im begleitenden Malunterricht erkannte sie für sich eine viel bessere Therapie für die Heilung ihrer tiefen inneren Wunden, die sie durch den väterlichen Missbrauch im Alter von elf Jahren erlitten hatte, was sie 1973 auch in einem eigenen Film „Daddy" thematisieren sollte. „Ich lief durchs Innerste der Hölle", beschrieb sie ihren damaligen Zustand. Den sie anfangs im naiven Stil eines Henri Rousseau malend und durch Studium von Werken berühmter Kollegen wie Klee, Matisse, Picasso, Jackson Pollock, Jasper Johns, Willem de Kooning oder Robert Rauschenberg überwinden und der Welt, besonders der dominierenden männlichen Hälfte in der Gesellschaft und vor allem auch in der Kunstszene der 50er- und 60er-Jahre, mit geballter, ihr Schaffen prägender Wut entgegentreten sollte.
So werden ihre „Schießbilder" heute schon als Beginn eines starken Feminismus‘ gedeutet. Ebenso ihre Nanas, die Ähnlichkeiten mit Archetypen frühester Fruchtbarkeitsgöttinnen aufweisen und mit denen sie seit 1965 auf eine von ihr ersehnte baldige Rückkehr des Matriarchats verweisen wollte. Nach der Scheidung von Harry Mathews 1960 begann ihr Liebesverhältnis mit Jean Tinguely, mit dem sie auch beruflich häufig zusammenarbeitete. Zu den Nanas sollten sich noch riesige Frauen-Kopf-Skulpturen gesellen, die manchen Männern ebenso große Ängste eingeflößt haben dürften wie die ab 1970 produzierte Serie der „Verschlingenden Mütter".