Nach der fulminanten Premiere in Miami ist das „Raubtier" Formel 1 wieder in Europa „auf der Pirsch". An diesem Sonntag, 22. Mai, ist der Nimmersatt beim Grand Prix in Spanien auf „Beutesuche". Auf dem Circuit de Catalunya will Miami-Sieger Max Verstappen im Red Bull weiter am 19-Punkte-Vorsprung von Ferrari-Star Charles Leclerc knabbern.
Verharren wir noch in der schönen, neuen Formel-1-Welt, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, in Amerika. Im Sonnenstaat Florida „brannte" nicht nur der helle Planet, sondern auch das Feuer in Hunderttausenden von Formel-1-Fans. Kaum zu glauben, aber seit dem Großen Preis von Miami wahr: Amerika hat die Formel 1 entdeckt und die Formel 1 Amerika. Für diese Erkenntnis hat es allerdings fünf Jahrzehnte, ein halbes Jahrhundert, gedauert. Bemüht, das Interesse der Amerikaner an der Königsklasse des Motorsports zu wecken, hatten es immerhin neun interessante Veranstalter mit ihren Schauplätzen versucht, angefangen 1950 mit Indianapolis, anschließend Sebring, Riverside, Watkins Glen, Long Beach, Las Vegas, Detroit, Dallas, und Phoenix. Erst mit dem wilden Ritt der Formel 1 nach Austin in Texas 2012 hatten die Amerikaner „so richtig" wahrgenommen, was es mit der „Champions League" des Rennsports auf sich hat und ihnen diesen rasanten und rasenden Sport „verständlich" zu machen und näherzubringen. Es scheint aber, erst mit Schauplatz Nummer elf, dem Grand Prix von Miami im Bundes- und Sonnenstaat Florida, ist der US-Knoten in der 73-jährigen Grand Prix-Geschichte geplatzt. Auch der Netflix-Serie „Drive to Survive" sei dank.
Miami in 40 Minuten ausverkauft
Rund eine Viertelmillion, 250.000 Fans, strömten am F1-Wochenende zum Spektakel in das Miami International Autodrome. Die teilweise sündhaft teuren Karten sollen innerhalb von 40 Minuten ausverkauft gewesen sein. Der Gegenwert für die zahlungskräftigen Fans war gigantisch – bizarre Unterhaltungsshows und Disneyland-Stimmung inklusive. Eine bisher nie gekannte Promi-Dichte „regierte" im „Paddock" (deutsch: Pferdekoppel), in der Formel 1 in deutscher Sprache übertragen: im Fahrerlager. Die F1-Premiere in Magic City war vor dem Hauptereignis, dem Rennen, ein glamouröses Schaulaufen von Megastars, Sport-Legenden und -größen, Sternchen und Möchtegerns. Die Kameraleute der TV-Anstalten wurden nicht müde, diese VIPs auf Schritt und Tritt zu verfolgen. Entsprechend begeistert zeigte sich auch Mercedes-Teamchef Toto Wolff bei Sky: „Diese Veranstaltung war spektakulär. Die Stadt war total heiß auf die Formel 1. Die Unterstützung der Fans war großartig", schwärmte der smarte Österreicher mit dem Wiener Schmäh. Er sei noch nie bei einem Rennen gewesen, das eine solche Begeisterung an einem Ort und ein solches Interesse für die Formel 1 hervorgerufen habe wie Miami. „Man konnte das Fahrerlager nicht durchqueren, weil so viele Leute da durchgingen. Und das war gut so. Ich denke, wir sollten froh sein, dass wir so eine starke Unterstützung haben", freute sich der „gute Wolf(f)". Alpine-Renault-Star Fernando Alonso stellte fest: „Miami hat uns, die Formel 1, mit offenen Armen empfangen. Diese Elektrizität habe ich in einer GP-Stadt selten so gespürt."
Bis zu dieser positiven Erkenntnis waren sich auch die Fahrerkollegen des Spaniers einig. Und einig waren sie sich auch in puncto Strecke – einig aber im negativen Sinn. Die Rennstrecke sei rutschig und mit einem eigenwilligen Belag schwierig gewesen, eine raue Oberfläche habe die Vorderreifen beeinflusst. „Es ist klar, dass die Fahrer sagen, das ist nicht optimal. Aber für den Rennsport und die Unterhaltung war es eine tolle Sache. Genauso sollte es sein. Alles in allem würde ich für ein erstes Mal neun von zehn Punkten geben", so „Punkterichter" Toto Wolff. Wie dem auch sei: Mit Miami hat sich jedenfalls ein neuer F1-Veranstalter, ausgestattet mit einem Zehnjahres-Vertrag, in die großen, charismatischen „M"-Mitveranstalter wie Melbourne, Monaco, Montreal und Monza in den F1-Kalender eingereiht. In der nächsten Saison wird es mit drei US-Rennen in Miami in Südflorida, im Spielerparadies Las Vegas und im texanischen Austin einen „amerikanischen Formel-1-Fächenbrand" geben. F1-Geschäftsführer Stefano Domenicali, ehemals erfolgloser und geschasster Ferrari-Teamchef, hat aber versprochen: „Wir werden immer einen Kern von Rennen in Europa haben, aber wir wollen uns in Amerika und Asien breiter aufstellen, wir wollen uns mit unserem Sport in aufregende Städte ziehen und den Fans ein Spektakel bieten."
Bei all dem Brimborium und Zinnober vor der F1-Premiere schien das Hauptereignis, das Rennen auf der 5,410 Kilometer-Rennstrecke im International Autodrome, fast zur Nebensache zu geraten. Doch mit dem Start dieses ersten Miami-Grand-Prix, gleichzeitig fünfter Saisonlauf, kamen auch endlich die 85.000 euphorischen und enthusiastischen Zuschauer auf den Rängen zu ihrem Vergnügen – und auf ihre Kosten. Zunächst die Ferrari-Fans. Erste Startreihe: der „rote" Pilot Charles Leclerc vor seinem Ferrari-Stallgefährten Carlos Sainz. In Lauerstellung Max Verstappen im Red Bull auf Position drei. Der Titelkampf um die WM spielt sich nur noch zwischen den ehemaligen Kontrahenten aus früheren Kart-Jahren Leclerc und Verstappen ab. Davon sind die F1-Experten überzeugt. Machen wir’s kurz:
Leclerc versus Verstappen
Leclerc verteidigt seinen erst en Startplatz, übernimmt die Spitze. Verstappen setzt sich vor Kurve eins neben Sainz, drückt sich an dem Spanier vorbei und jagt das galoppierende „Pferd" Leclerc. In Runde neun war Leclerc fällig, der „Bulle" quetschte sich am Ferrari vorbei, übernahm die Führung und raste hochkonzentriert zu seinem dritten Saisonsieg (nach Saudi-Arabien und Imola) und dem 23. Triumph seiner F1-Karriere (gleich viele wie Nelson Piquet und Nico Rosberg). Gleichzeitig stand der 24-Jährige nach 146 Grand Prix zum 63. Mal auf dem F1-Podest. Max nach seinem Miami-Sieg: „Mein Start war super, ich sah gegen Sainz eine Lücke und nutzte sie. Später erkannte ich, dass die Reifen von Leclerc abbauten, ich attackierte, ging an ihm vorbei und kontrollierte das Rennen bis zum Schluss", schilderte ein völlig erschöpfter, körperlich ausgeknockter Pilot seine Siegesfahrt. Leclerc musste sich mit Platz zwei und Sainz mit Rang drei begnügen. Vierter wurde der zweite „Bulle" Sergio Perez." Mercedes-Jungstar George Russell (24) fuhr erneut in die Top Fünf (als bisher einziger Pilot in jedem Rennen) und (wieder einmal) vor seinen Vize-Champion Lewis Hamilton. „Mit diesen Plätzen haben wir das bestmögliche Ergebnis eingefahren. Wir machen uns jedoch keine Illusionen darüber, dass wir den Rückstand bei den Rundenzeiten in den nächsten Wochen verringern müssen, wenn wir Red Bull oder Ferrari in irgendeiner Form herausfordern wollen", heißt es in der Mercedes-Pressemitteilung.
Für den Höhepunkt und Aufreger der Miami-Premiere aber sorgten ausgerechnet zwei Teutonen. Zwei Deutsche. Zwei Freunde. Der Sohn eines siebenmaligen Weltmeisters gegen einen gestandenen viermaligen Champion. Mick Schumacher gegen Sebastian Vettel. Schumi junior in seiner zweiten F1-Saison gegen ein „Auslaufmodell" in seiner 16. F1-Saison. Die Schlussphase zwischen „Jung-Schumi" (23) und „Oldie" Vettel (34) wurde zu einem Krimi. Beide Piloten kämpften um Punkte. Schumi träumte in seinem 26. Grand Prix von ersten WM-Punkten. Drei Runden vor Schluss, in der 54. Runde von 57 Umläufen dann das Ungemach. Vettel auf Position acht, Schumacher auf neun. Der Youngster aber wollte mehr. An Vettel vorbei auf Platz acht – bedeutet vier WM-Punkte. Und so flogen die beiden Freunde auf Kurve eins zu. Da war der „Haase" sprich, der Haas-Pilot, einfach zu ungestüm. Es kam dann zur folgenschweren Berührung. Es hat gescheppert. Schumacher hebelte den Aston Martin von Vettel aus, der drehte sich, musste an die Box und aufgeben. Schumacher konnte mit einer neuen Nase seinen 26. WM-Lauf auch nur punktlos auf Rang 15 beenden. Dabei waren seine ersten WM-Punkte zum Greifen nahe. Schöner hätte die Erfolgsgeschichte kaum sein können, doch sie geriert zum Drama und endete in einem Desaster. Und das ausgerechnet beim glamourösen Heimrennen seines Haas-Rennstalls. Vettel gestand nach dem „sonderbaren Zwischenfall" bei Sky: „Das war doof für uns beide. Es tut mir leid, dass wir aus dem Rennen sind. Ich dachte, ich hätte die Kurve und war vorn. Ich hatte nicht mit Mick gerechnet, und als ich ihn dann gesehen habe, war es zu spät." Schumacher gab sich nach dem Crash versöhnlich und erklärte: „Es ist im Nachhinein immer einfach darüber zu sprechen. Wenn man es so sieht, hätte ich einfach dahinter bleiben können oder stärker versuchen können vorbeizufahren. Im Endeffekt sehr schade für uns beide." Onkel Ralf, F1-Experte bei Sky, steht seinem Neffen zur Seite. „Sebastian muss auch mal Platz lassen. Mick kann sich nicht in Luft auflösen. Da muss Sebastian in den Spiegel gucken, das ist so. Ungünstige Situation. Man kann sagen: Klar, ein bisschen Rennunfall. Aber trotzdem muss Sebastian Platz lassen", so die Analyse des Experten. Beide „Kampfhähne" pflegen aber weiter ihre Freundschaft.
„Das sind sichere Punkte gewesen"
Die Kritik an Schumacher aber wächst. Harte Worte fand Ex-Rennfahrer Christian Danner. Der Experte erklärte bei Sport 1: „Mick Schumacher muss mal ein Rennen ohne Unfall zu Ende fahren. Er muss auch mal etwas abgeklärter über die Renndistanz kommen. Sein Teamchef wird ihm jetzt ordentlich die Leviten lesen." Starker Tobak von Danner, der ergänzt: „Das sind sichere Punkte gewesen, und jetzt hat er nix. Und auch Vettel wird ihn schon auch mal fragen, ob er sie noch alle hat."
Haas-Teamchef Günther Steiner ist nach der Nullnummer „sehr enttäuscht" und stellt klar: „Das haben wir uns selbst zuzuschreiben." Statt Punkte einzufahren stehe man mit leeren Händen da und mit einer Menge Schrott. „Wir können nicht immer sagen, dass es am nächsten Wochenende auch noch ein Rennen gibt", so der grantige Südtiroler. Denn irgendwann sei die Saison dann vorbei …
Aber noch nicht so schnell. Am Sonntag steht in Barcelona (15 Uhr auf Sky) erst das sechste von 23 Saisonrennen auf dem Programm. Dieser Traditionskurs mit 4,675 Kilometern in dem Örtchen Montmélo, in dem bergigen Umland 20 Kilometer nördlich von Barcelona, ist für die Piloten so gut wie ein Heimrennen. Denn diese Strecke können sie im Schlaf fahren, kennen die Piste wie ihre Westentasche. Tausende Kilometer haben sie auf diesem Kurs abgespult, denn er gilt seit Jahren als Teststrecke für eine neue Saison. Das Besondere dieser Strecke: Sie bietet nur wenig Überholmöglichkeiten. Meistens ist das Rennen eine Sonntagnachmittag-Prozession. Daher ist das Qualifying von besonderer Bedeutung, will man an der Spitze vorwegfahren. 23-mal gewann der Fahrer, der auf Startplatz eins stand, auch das Rennen. Die letzten fünf Jahre, von 2017 bis 2021 hieß der Sieger auf dem Circuit de Catalunya Lewis Hamilton im Mercedes. 2022 aber eher unwahrscheinlich. Die Kräfteverhältnisse in der „neuen Formel 1-Welt" haben sich ver- und geändert.