Marius Müller-Westernhagen war der erste Deutschrocker, der Stadien füllte. Mit 73 Jahren ist ihm künstlerische Selbstverwirklichung heute wichtiger als Erfolg. Wir sprachen mit ihm über sein neues Album „Das eine Leben", seine Anfänge als Sänger, Gefahren für die Demokratie und seine Zusammenarbeit mit Bob Dylans Gitarristen.
Herr Müller-Westernhagen, der Gitarrist und Grammy-Preisträger Larry Campbell war viele Jahre Bob Dylans Sideman. Haben Sie auch diesmal wieder mit ihm gearbeitet?
Ja, „Das eine Leben" ist meine vierte Platte mit ihm. Kennengelernt haben wir uns bei „Williamsburg", und es war Liebe auf den ersten Blick. Die Zusammenarbeit war wieder göttlich, weil wir uns blind verstehen und einen ähnlichen Geschmack besitzen. Wir lernen voneinander. Larry ist viel mehr als nur ein Countryman, er kann so unfassbar viel. Für diese Platte wollten wir weder textlich noch musikalisch Effekthascherei betreiben.
Inwiefern befeuert es Sie als Sänger, mit Leuten wie Campbell zu musizieren?
Meine Maxime war immer, zu versuchen, mit Musikern zu arbeiten, die ich als besser ansehe, als ich es selbst bin. Nur an solchen Leuten wächst du. Sie bringen dich zu einem anderen Selbstverständnis und Selbstbewusstsein. Ich hatte mein ganzes Leben mit dem Problem zu kämpfen, nicht gut genug zu sein. Als ich dann anfing, in Amerika mit Musikern wie Larry Campbell zu arbeiten, die es lieben, meine Songs zu spielen, war das ein Schub für mich.
Können die Ansprüche, die Sie an sich und Ihre Musik stellen, in Deutschland mit deutschen Musikern nicht erfüllt werden?
Mir stellte sich immer die Frage: Spielen die Leute, mit denen ich arbeiten will, das auch so, wie ich es in meinem Kopf höre? Und das tun Gitarristen wie Campbell! Ich bin sehr eng mit angloamerikanischer Musik aufgewachsen, weil es für mich keine andere gab. Das gibt mir auch die Berechtigung, das zu spielen, was ich spiele. Ich fing an, mit Engländern zu arbeiten, und dann kam der erste Amerikaner zu mir. Bei denen ist es mehr in den Genen drin. Die müssen nicht mehr beweisen, wie gut sie sind. Das heißt, es fällt viel weg, weil sie nur für den Song arbeiten und den anderen auch zuhören. Die Qualität beim Live-Spielen entsteht, indem du hörst, wo die Lücke ist und dann einen musikalischen Dialog eingehst. Ich bin durch die großen Poeten in der Popmusik wie Bob Dylan und Randy Newman sozialisiert worden. Mich stört an der heutigen populären Musik, dass sie keine Seele hat. Sie unterhält dich, aber sie berührt dich nicht wirklich. Sie ist viel zu sehr Geschäft geworden und viel zu wenig Kunst.
Sie sind in den 60er-Jahren aufgewachsen. Haben Sie das Lebensgefühl von damals verinnerlicht?
Natürlich. Deshalb verurteile ich auch nicht, wie die Leute heute so sind. Sie sind ja in einer anderen Zeit groß geworden. Wir hatten nie die Illusion, mit unserer Musik Karriere zu machen, das war unvorstellbar. Uns ging es nur ums Spielen. An Wochenenden sind wir mit der Band zu den Kneipen und Clubs gefahren und haben gefragt, ob wir dort auftreten können. Einmal haben wir einen ganzen Abend für eine Flasche Martini gespielt, weil wir unbedingt auf die Bühne wollten. Das war das A und O. Ich habe auf meine Gesangsboxen jahrelang gespart. Bei meinem Musikhändler befand sich eine Zigarrenkiste mit der Aufschrift „Marius". Dort hinein kam jeder Pfennig, den ich zu viel hatte. Eines Tages kaufte ich mir davon Gesangsboxen – und die sind mir dann aus dem Übungsraum heraus geklaut worden.
Wie sind Sie damit umgegangen?
Man entwickelt eine Leidensfähigkeit für die Musik. Und deshalb ist einem das auch viel wichtiger als Karriere zu machen und berühmt zu werden. Den Gedanken hatte ich nie, weil es sehr anstrengend ist, populär zu sein. Es hat viele Vorteile, aber auch sehr viele Nachteile.
Die Essener Songtage von 1968 mit Guru Guru Groove, Tangerine Dream und Amon Düül gelten als Coming-out der Rock-Kultur in Deutschland. Sind Sie dabei gewesen?
Nein, ich bin erst durch meine Filmerei aus Düsseldorf wirklich rausgekommen. Ich bin das erste Mal geflogen mit 17 Jahren für einen Dreh im italienischen Touristenort Alassio. Ich spielte einen Sporttaucher, obwohl ich gar nicht schwimmen konnte.
Um das neue Album „Das eine Leben" zu schreiben, mussten Sie auch fliegen – und zwar nach Südafrika. Wie haben Sie dort die Pandemie erlebt?
Der Lockdown war strenger in Südafrika, man durfte noch nicht einmal spazieren gehen, geschweige denn einen Hund ausführen. Man saß also im Haus und wurde gezwungen, über sein Leben zu reflektieren. Irgendwann fing ich an aufzuschreiben, was ich so beobachte. Ich bin jemand, der sehr genau und tief über Dinge nachdenkt. Wenn Songs in einem gewissen Zeitraum entstehen, entsteht auch eine Dramaturgie. Ich finde, es ist die Aufgabe von Künstlern, sich einzumischen und die Realität zu reflektieren.
„Gott hat es nie gegeben/Er ist nur eine Illusion/Um sich selber zu verzeihen ... Glaubt selbstverliebt an die schamlosen Lügen derer, die über die Macht verfügen". Diese Zeilen aus „Achterbahngedanken" wirken sehr aktuell, aber den Krieg in der Ukraine konnten Sie ja nicht ahnen, oder?
Ich habe das schon vor über einem Jahr geschrieben. Es sieht erst einmal aus, als wäre es prophetisch, aber das ist Blödsinn. Ich kann einfach nur diese Entwicklungen sehen. Ich glaube nicht, dass die Politik die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat, aber sie hat sie ignoriert.
Aber was jetzt gerade passiert, hat sich niemand in seinen dunkelsten Fantasien vorstellen können.
Die Politik muss sich davon verabschieden, zu denken, dass alles, was diese Herrschaften machen, auch wirklich Sinn ergibt. Alle Amerikaner, die ich persönlich kenne, haben damals gesagt, Trump werde niemals gewählt werden. Aber er ist gewählt worden, was absolut keinen Sinn ergibt. Der Krieg in der Ukraine macht für die Russen geopolitisch Sinn, weil sie unbedingt den Zugang zum Meer wollen, aber ihre Zerstörungswut ist durch nichts zu rechtfertigen. Vom Westen sind aber auch klare Fehler gemacht worden. Warum hat er nie vorgeschlagen, dass die Ukraine ein neutraler Staat bleibt und darüber verhandelt? Der Westen begreift das von Putin verkörperte russische Machotum nicht. Dass eine einzige Person das ganze Weltgefüge durcheinanderbringen kann, ist viel zu gefährlich.
Der Song „Spieglein, Spieglein an der Wand/Wer ist der Mächtigste in diesem Land" liest sich wie das Psychogramm eines Autokraten. Haben Sie beim Schreiben an eine konkrete Person gedacht?
Nein. Was mich wütend macht, ist, wenn Impfgegner erzählen, uns werde ein Chip unter die Haut gelegt, damit man uns total überwacht. Die Überwachung ist ja längst passiert – durch Facebook und andere Tech-Companys. Wir sind gläsern. Es gibt nichts, was sie von jedem einzelnen nicht wissen. Mehr überwacht, durchleuchtet und manipuliert zu werden als wir, geht gar nicht. In der Politik passiert das genauso. Wir waren alle nicht vorbereitet auf die digitale Revolution. Die Menschen verlieren ihre Aufmerksamkeit und können keinen Film mehr konzentriert gucken. Die sozialen Medien überfordern uns. Man kann gar nicht so viel speichern wie man eigentlich müsste und vergisst wichtige Dinge. Kein Mensch formuliert mehr eigene Gedanken; es ist alles zitiert, weil man irgendwo irgendwelchen Mist gelesen hat und sich dann da dranhängt. Das könnte durchaus das Ende der Demokratie sein.
Gibt es Ihrer Meinung nach einen Weg zurück?
Man kann sich dem kaum entziehen, weil es einen Weg zurück nicht gibt. Die sozialen Medien brauchen Regeln, weil man durch sie eine rechtsfreie Zone geschaffen hat. Da, wo keine Regeln sind, gibt es Chaos.
Sind Sie selber auf Facebook und Co. aktiv?
Es gibt von der Plattenfirma diese Portale, aber ich verlange, dass sie rein als Werbung genutzt werden. Ich habe auch kein Interesse an dem Privatleben anderer. Privatsphäre ist für mich das höchste Gut. Posts wie „Ich bin gerade auf Mallorca" produzieren negative Gefühle wie Neid, aber auch Narzissmus oder Voyeurismus.
Kann man diese chaotischen Zeiten nur ertragen, indem man sich besäuft, wie Sie es in „Schnee von gestern" so anschaulich beschreiben?
(lacht) Man kann es ertragen, indem man neugierig und ehrlich bleibt und sich da informiert, wo man glaubt, Tatsachen geliefert zu bekommen. Indem man bei sich bleibt und sich nicht in diesen Strom hineinbegibt. Es hat auch etwas mit dem extremen Kapitalismus zu tun. So wie der Kommunismus gescheitert ist, wird auch der Kapitalismus irgendwann scheitern. Ich bin nicht der Meinung, dass alle Menschen das Gleiche besitzen sollten, aber was mich in der Welt insgesamt stört, ist die extreme Unfairness. Wir sind einfach eine verwöhnte degenerierte Gesellschaft. Zum Beispiel das Theater um die Masken. Masken haben nichts mit Freiheitsbeschränkung, sondern mit Notwendigkeit zu tun. Die Leute sollten mal anfangen, nachzudenken und gesunden Menschenverstand zu entwickeln.
Sie haben auf Ihrem Instagram-Profil ein Foto veröffentlicht, das Sie beim Impfen zeigt, dazu schrieben Sie das Wort „Freiheit". Ihr gleichnamiges Lied wird auch von Gegnern der Corona-Maßnahmen bei öffentlichen Protesten gespielt.
Ich habe es erst ignoriert, weil ich deren Bühne nicht noch vergrößern wollte. Aber dann begannen Zeitungen, darüber zu schreiben. Nicht, dass ich diese Leute als Idioten bezeichne, aber ich musste einfach meinen Standpunkt darlegen. Es ist auch nicht so, dass ich mich deshalb jetzt auch habe impfen lassen. Sobald ich das tun konnte, war ich natürlich da. Es gibt dazu effektiv keine Alternative, die man mir begründen könnte. Hätte die Bundesregierung am Anfang der Pandemie klar gesagt, dass sich jeder impfen lassen muss, sobald der Stoff da ist, hätte es nie diese Ausmaße genommen. Alle, die da rumlaufen, haben sich ja gegen Typhus oder Masern impfen lassen und leben immer noch. Vor dieser Pandemie wurde seit Jahrzehnten gewarnt, aber die Bundesregierung war auch darauf nicht vorbereitet.
In „Ich will raus hier" listen Sie auf, was Sie während der Pandemie alles vermisst haben. Was ist für Sie das Schlimmste an Corona?
Man vermisst ja ganz profane Dinge wie Umarmungen von Freunden, Restaurantbesuche oder Reisen ins Ausland. Ich spreche in dem Song eigentlich nur aus, was viele empfunden haben. Die Pandemie ist wirklich ein historisches Ereignis wie der Fall der Mauer. Die Leute vergessen so viel in dieser schnelllebigen Zeit. Es gibt Dinge, an die man sie erinnern muss. Ich wollte versuchen, das Gefühl aus der Zeit wiederherzustellen, in der man gefangen war.
Wie haben Sie sich seit Beginn der Pandemie verändert?
Mir wurde bewusst, was für ein Leben wir alle geführt haben und wie sehr wir daran gewöhnt sind, dass es uns grundsätzlich gut geht. Aber uns zerplatzen gerade Illusionen. In der Ukraine herrscht Krieg, was zu umfassenden Sanktionen gegen Russland geführt hat. Die hat es damals gegen Syrien so nicht gegeben. Aber da diesmal der Krieg nah an uns dran ist, sind die Reaktionen ganz anders.
Muss Kunst in Zeiten wie diesen politisch sein?
Natürlich. Wir Künstler haben die Funktion des Hofnarren, der die Wahrheit ausspricht. Man findet heute vielleicht noch ein paar Ohren, in die dieses Virus einfach einsinkt. Das war in den 1960er und 1970er Jahren anders, als die Popmusik zu einer Kunstform wie Jazz wurde. Schwierige Künstler wie Bob Dylan, Jimi Hendrix oder Led Zeppelin wären heute nicht möglich. Das haben wir durch Geldgier verspielt. Denen kann man nicht sagen: „Spring mal da durch den brennenden Reifen!" Die wollen ihr Ding machen, aber inzwischen kann das kaum noch einer. Ich muss immer wieder meine Plattenfirma loben, denn hier bei Sony gab es nie eine Diskussion über die Inhalte meiner Songs. Schon als Dreikäsehoch, den keiner kannte, habe ich bei meiner damaligen Plattenfirma Warner Music künstlerische Freiheit eingefordert. Und die ist mir auch gewährt worden. Sie haben es ganz offensichtlich nicht bereut.
Wird von Plattenfirmen heute eine künstlerische Lebensleistung noch honoriert?
Nein. Heute wirst du danach beurteilt, wie viele Platten du verkaufst, wie viele Klicks oder Rundfunkeinsätze du hast. Dadurch wird der Popkultur jede Möglichkeit genommen, den Anspruch zu erheben, Kunst zu produzieren. Zu einer Band wie Velvet Underground würde man heutzutage sagen: „Ihr könnt nicht spielen. Geht nach Hause!" Es gibt in der gesamten Gesellschaft keine Leute mehr, die sagen: „Scheiß drauf, ich zieh das durch, weil ich daran glaube und es für mein Herz und meinen Kopf wichtig ist!" Dafür muss man auch bereit sein, Opfer zu bringen. Leidensfähigkeit ist ein großes Thema in der Gesellschaft.
Hat politische Kunst das Potenzial für mehr Tiefe?
Ja klar. Aber man kann auch über sehr tiefe Gefühle schreiben, ohne dabei in Kitsch oder Pathos zu verfallen. Die Kunst ist herausgefordert, die Wahrheit zu sagen. Kunst entsteht nur aus dir selbst heraus und nicht aus der Meinung von 100 anderen Leuten. Bei den meisten jungen Künstlern ist die Company heute vom ersten Ton an involviert. Dass aus dieser Art von Kontrolle nichts zutiefst Persönliches entsteht, ist klar. Die sehr jungen Menschen von heute sind so erzogen worden, dass Karriere das wichtigste und Geld das höchste Gut ist. Nach meiner Lebenserfahrung macht dich das definitiv nicht glücklicher.
Sie waren erst 14, als Ihr Vater starb. Wie hat er Sie erzogen?
Mein Vater war sehr spirituell. Ich glaube, er hat etwas in mir gesehen, weil er mir immer wieder einbläute: „Marius, egal wie reich und berühmt du einmal wirst – bleib demütig und bescheiden! Du bist nicht wichtiger oder besser als irgendjemand anders". Das hat er als Saat gesetzt. Er hat mir gezeigt, dass es Grundsätze ethischer und moralischer Natur gibt, die man nicht überschreitet.