Nach elf Jahren in der Zweiten Liga feiert der VfL Bochum eine märchenhafte Saison in der Bundesliga. In Zeiten wirtschaftlicher Grenzerfahrungen im Profifußball schreibt der VfL damit Geschichte.
Bei jedem Heimspiel des VfL Bochum stellt im „VfL-Echo" immer ein Spieler seine Wunschelf vor und damit seine ganz eigenen Helden des Fußballs. In seine Traum-Mannschaft berief etwa der Flügelflitzer Takuma Asano Spieler wie Luka Modrić, Cristiano Ronaldo und Lionel Messi. Der Linksverteidiger Danilo Soares nominierte unter anderem Kylian Mbappé. Der Rechtsverteidiger Cristian Gamboa wagte mit Diego Maradona, Fabio Cannavaro und Paolo Maldini einen Ausflug in die Vergangenheit, auch der Stürmer Danny Blum adelte mit Ronaldinho, Zinédine Zidane und Gennaro Gattuso historische Heroen – und der junge U21-Nationalverteidiger Armel Bella-Kotchap brachte in seiner Traumelf sogar Pelé, Lothar Matthäus und Franz Beckenbauer zusammen. Aktuelle Bundesligaspieler nannte ausgerechnet der Japaner Asano: Robert Lewandowski und Manuel Neuer. Würden die Fans des VfL Bochum nach ihren Helden des Fußballs befragt werden, würde die Mannschaft wohl ungefähr so aussehen: Manuel Riemann – Cristian Gamboa, Armel Bella-Kotchap, Maxim Leitsch, Danilo Soares – Anthony Losilla – Gerrit Holtmann, Milos Pantovic, Elvis Rexhbecaj, Takuma Asano – Sebastian Polter. Das ist in dieser Saison die typische Startelf jenes Aufsteigers VfL, der trotz eines weit unterdurchschnittlichen Lizenzspieler-Etats von 24,05 Millionen Euro bereits am drittletzten Spieltag den überraschenden Klassenverbleib geschafft hatte – und das ausgerechnet mit einem 4:3-Sieg vor 81.365 Zuschauern im Tempel des Ruhrpott-Nachbarn Borussia Dortmund. „Das ist die Krönung einer traumhaften Saison", sagte gerührt und anständig biergeduscht der Trainer Thomas Reis.
Bayern-Klatsche als Schlüsselmoment
Bei aller Routine, mit dem ständigen Meister FC Bayern München und den schwächelnden Dortmundern, gibt es sie tatsächlich noch, die Überraschungen, die sämtliche Herzen der Fußballromantiker höherschlagen lassen. In der Stunde nach der 85. Spielminute der Partie des VfL Bochum bei Borussia Dortmund wurde der Gästeblock im Norden des Westfalenstadions zu einem Ort, an dem die Menschen voller Überschwang um Fassung rangen. Ihr Club hatte ein verrücktes Spiel 4:3 gewonnen und damit „die Krönung" für eine hinreißend schöne Saison geschaffen, wie Trainer Thomas Reis sichtlich stolz in einem Interview nach dem Spiel verkündete. Nun rannten die Spieler immer wieder auf ihre Anhänger zu, brüllten, sangen, ließen ihre Fäuste kreisen. Berauscht von der Mischung aus der Freude über ein für sich genommen schon riesengroßes Fußballspiel und dem noch größeren Glück, den Klassenverbleib geschafft zu haben. „Ich habe keine Worte dafür, das ist unfassbar", sagte Torhüter Manuel Riemann. Sie hatten 2:0 geführt, 2:3 zurückgelegen und jubelten am Ende über einen 4:3-Sieg. Erstmals in diesem Jahrtausend haben sie im Stadion des Giganten aus der Nachbarstadt gewonnen. Milos Pantovic, der fünf Minuten vor dem Ende das Siegtor geschossen hatte, war sich nicht einmal sicher, ob die Party rechtzeitig vor der nächsten Trainingseinheit am kommenden Dienstag enden würde. „Keine Ahnung, ob wir das schaffen", sagte der Mittelfeldspieler, während Reis voller Stolz verkündete: „Was hier in den letzten zwei Jahren entstanden ist, ist ein Traum."
Die ganz großen Geschichten wurden zwar anderswo erzählt. Es gab etwa das Dauerkrisendrama beim BVB, dem an diesem Tag ein neues Kapitel mit der mittlerweile gut bekannten Fehlerflut und wieder einmal zornig pfeifenden Fans hinzugefügt wurde. Für Schlagzeilen sorgten auch die von vielen Bedenken und Zweifeln begleitete Meisterschaft des FC Bayern, das Niedergangsdrama des Big-City-Clubs aus Berlin, und vielleicht bewegen sogar die Höhenflüge des SC Freiburg und des 1. FC Köln mehr Menschen als der VfL Bochum, schrieb die „FAZ". Damit hat sie recht. Doch die emotionalen Ausschläge, die nach dem Spiel gegen Borussia Dortmund rund um den Signal-Iduna-Park wahrgenommen wurden, waren kaum zu übertreffen. „Nach den letzten beiden Spielen, die nicht so gut liefen, ist es umso schöner, so zurückzukommen", sagte Gerrit Holtmann, „Das ist der Charakter unserer Truppe. Wir haben heute wieder Geschichte geschrieben. Schon gegen Bayern haben wir Geschichte geschrieben, heute wieder."
Als Schlüsselmoment auf dem Weg zu diesem Erfolgsjahr wird immer wieder die krachende 0:7-Niederlage beim FC Bayern am fünften Spieltag genannt, in deren Folge die Trainer und ihre Spieler erkannten, dass sie gemeinschaftlich und maximal intensiv verteidigen müssen, um in der Bundesliga mithalten zu können. Das Team stabilisierte sich und schlug die Münchener im Rückspiel in einer sensationellen Partie 4:2. „Wir haben überragend gelernt aus den Dingen, die uns widerfahren sind", sagte der Bochumer Sportdirektor Sebastian Schindzielorz. „So richtig hinten reingerutscht sind wir nie. Das ist eine absolut beeindruckende Leistung." Hinzu kam, dass das altmodische Bochumer Stadion auch unter Pandemie-Bedingungen mit deutlich reduzierter Zuschauerzahl hervorragend funktionierte. „Keine Nadelstreifen, kein weißes Ballett, kein Brimborium – Castroper Straßenfußball!", lautet der Claim einer schlauen Imagekampagne. Aber es gab auch finstere Momente beim VfL. Immer wieder wurden Bierbecher in Richtung Spielfeld geschmissen, das Duell gegen Borussia Mönchengladbach musste sogar abgebrochen werden, nachdem ein Schiedsrichterassistent getroffen worden war. Und der in der Hinrunde noch bei Union Berlin spielende Max Kruse sagte nach einer Partie beim VfL, er habe „selten so asoziale Fans erlebt wie hier". Schindzielorz bezog die Anhänger dennoch explizit ein in seine Schwärmerei, nachdem das Saisonziel erreicht war: „Das war eine fantastische Leistung von allen, angefangen von den Zuschauern. Alle Mitarbeiter haben VfL-like immer wieder gegen die Widerstände angekämpft." Die erstaunlichsten Fortschritte hat jedoch die Mannschaft gemacht. Im Gegensatz zu Mitaufsteiger Greuther Fürth hat der VfL eine bundesligataugliche Spielweise entwickelt. Nicht mit beeindruckenden Laufleistungen, sondern mit vielen langen Bällen und einer enormen Frustrationstoleranz. Als Schlüsselspieler Simon Zoller sich ein Kreuzband riss und monatelang ausfiel, stürmten eben Holtmann, Antwi-Adjei, Asano oder Polter. Torhüter Reimann, der erst im Alter von 33 Jahren in der Bundesliga ankam und dort gleich zu den Besten zählte, hat sich ebenso gut entwickelt wie Kapitän Losilla oder die Außenverteidiger Gamboa und Soares. Zudem haben sie eine charakterstarke Mannschaft, die mit Konflikten umgehen kann. „Wir haben das Wunder aus eigener Kraft geschafft, ich empfinde puren Stolz", sagte Reis, der nun mit seinem Team vor der für Aufsteiger oftmals noch schwereren zweiten Saison steht.
Keine Angst vor dem zweiten Jahr
Diese schwere zweite Saison zu handeln, wird Reis aber auf jeden Fall zugetraut. Der Fußballlehrer, der sich beim VfL jetzt endgültig zur absoluten Legende hochgearbeitet hat, ist der Vater dieses Erfolgs. Diesen bodenständigen Weg, zu wissen, wo man herkommt und was man verkörpert, möchte der VfL weitergehen. „Ob wir mit einem Lizenzspieler-Etat von 24, 25 oder 31 Millionen Euro an den Start gehen", hat VfL-Geschäftsführer Ilja Kaenzig klug gesagt, „ist doch völlig egal – weil die anderen eh mehr Geld haben." Seit Jahren hat der VfL, mit dem zweitkleinsten Budget ausgestattet, für neue Spieler keine Ablöse gezahlt, viele sind ausgeliehen. Die gleichen Probleme hatte Reis auch schon, als er den gegen den Abstieg kämpfenden Club in der Zweiten Liga übernahm. Auf den Klassenerhalt folgte ein Jahr später der Aufstieg – und in diesem Jahr die Krönung mit dem erneuten Klassenerhalt im deutschen Oberhaus.
Ob der VfL jetzt eine Erfolgsgeschichte schreibt, wie beispielsweise Union Berlin, die eine ähnliche Vereins-DNA vorzuweisen haben, ist offen. Entscheidend wird sein, welche Schlüsse aus diesem erfolgreichen ersten Jahr gezogen werden. Bleiben die Verantwortlichen ihrer Marschroute treu, ist vieles möglich – und die Bundesliga um einen weiteren Traditionsverein, der zurückkehrt, um zu bleiben, reicher.