Bis 2030 werden in Deutschland rund 180.000 zusätzliche Pflegekräfte benötigt. Doch woher sollen die Fachkräfte kommen? Claudia Moll, Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, spricht über gute Arbeitsbedingungen, Akquise im Ausland und die Lehren aus der Pandemie.
Frau Moll, Sie kommen vom Fach, haben jahrelang in der Pflege gearbeitet. Inwiefern ändert das Ihren Blick und motiviert Sie, Probleme, die Sie von ihrer Pflegearbeit kennen, für die jetzt Betroffenen aus dem Weg zu räumen?
Ich kenne die Praxis durch und durch und habe sowohl ambulant als auch stationär gearbeitet. Dazu in der Kurzzeitpflege und in der Tagespflege und zuletzt auch im Behindertenbereich. Wenn jemand aus der Pflege mit Sorgen und Problemen zu mir kommt, weiß ich ganz genau, wovon sie reden und wo es Veränderungen braucht. Und in der Politik kann ich Mehrheiten dafür gewinnen. Das ist ja gerade der Grund, warum ich in die Politik gegangen bin.
Sie haben schon 2020 in einem Thesenpapier zur Pflege, die für Sie zentrale Frage formuliert: „Wie schaffen wir es, dass sich mehr Menschen dazu entschließen, diesen Beruf zu ergreifen?". Haben Sie als neue Pflegebeauftragte eine Antwort?
Ich bekomme jetzt bei meinen Terminen immer öfter mit, dass es wieder mehr Auszubildende im Pflegebereich gibt. Das belegen auch die Zahlen. Vielleicht hängt das auch mit der Pandemie zusammen, während der sich viele junge Leute umorientieren mussten, zum Beispiel aus der Gastronomie.
„Viele ausländische Fachkräfte kommen bereits mit einer guten Ausbildung"
Und ganz wichtig ist: Wir dürfen Pflegeberufe nicht pauschal schlechtreden. Denn wenn wir das weiter so tun, warum sollte dann ein junger Mensch diesen Beruf erlernen wollen? Wir müssen doch auch erzählen, wie toll der Beruf sein kann, wie anspruchsvoll er ist und welche verschiedenen Möglichkeiten er bietet.
Trotzdem, Fakt ist: Die Arbeitsbedingungen in der Pflege sind alles andere als gut. Was muss sich ändern?
Zentral sind gute Arbeitszeitmodelle, verlässlich freie Zeiten und Wochenenden. Und ein Punkt ist natürlich auch die Bezahlung nach Tarif, die jetzt ab September 2022 verpflichtend kommt. Ich muss hier gleichzeitig sagen, dass es mir selbst, als ich in der Pflege arbeitete, weniger ums Geld ging. Aber ich bin auch immer nach Tarif bezahlt worden. Ich kenne eine Reihe von Einrichtungen, die viel für ihre Mitarbeiter tun und gut bezahlen, um ihre Pflegekräfte zu halten.
Was wäre denn Ihrer Meinung nach ein angemessener Lohn?
Das ist pauschal schwer zu beantworten und variiert regional. Aber ich kann Forderungen nach 4.000 Euro brutto nachvollziehen.
Vorsichtig geschätzt benötigt Deutschland bis 2030 etwa 180.000 zusätzliche Pflegekräfte. Die Zahl der ausländischen Pflegekräfte in Deutschland ist heute dreimal höher als noch 2013. Ihr Anteil dürfte noch weiter steigen, genau wie die Zahl der Pflegebedürftigen. Schon jetzt fehlen Zehntausende. Wie rekrutieren wir ausländische Fachkräfte? Wie sorgen wir für eine gute fachliche Ausbildung?
Zunächst einmal: Viele ausländische Fachkräfte kommen bereits mit einer guten Ausbildung hierher. Das gilt es dann rasch formal und in der Arbeit anzuerkennen. Viele werden aber auch hier in Deutschland qualifiziert oder weiterqualifiziert. Das halte ich auch für einen guten Weg. Man lernt besser Deutsch und kann sich von Anfang an mit den kulturellen Herausforderungen vertraut machen, die es in Deutschland für ausländisches Pflegepersonal gibt.
Hilft die angestrebte Tarifbindung der Löhne hier und bedeutet sie „gleicher Lohn für gleiche Arbeit"?
Natürlich. Fachkräfte aus dem Ausland sind ja hier beschäftigt und nicht im Ausland. Und dann arbeiten sie hier selbstverständlich zu den gleichen Bedingungen wie ihre Kolleginnen und Kollegen. Also ja, sie profitieren dann auch von den neuen Regelungen.
Die Herausgabe des Gütesiegels „Faire Anwerbung Pflege Deutschland" regelt das Gesetz zur Sicherung der Qualität der Gewinnung von Pflegekräften aus dem Ausland, das am 1. Juli 2021 in Kraft getreten ist. Was bringt dieses Gütesiegel?
Mit dem Gütesiegel werden Vorgaben zur Sicherung eines hohen Standards für die Anwerbung von Pflegekräften gesetzt, zum Beispiel Kostenfreiheit der Anwerbung für die Pflegekräfte und individuelle Unterstützung bei Integration, Sprachförderung und Berufsanerkennung.
Ziel ist es hier, den Anwerbungsprozess ethisch, fair und transparent zu machen.
Wir stehen mit vielen Ländern in Konkurrenz um Pflegekräfte, weil auch dort die Bevölkerung altert und Pflegekräfte gebraucht werden. Wie lösen wir das?
Ein Beispiel wäre die Ukraine. Schon vor dem Krieg sind von dort viele Pflegekräfte wegen des Lohngefälles nach Polen gegangen. Auch zum Teil, weil polnische Kräfte durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU zu uns nach Deutschland kommen. Bei Drittstaaten, also Ländern außerhalb der EU, ist ein ethisch vertretbarer Anwerbungsprozess wichtig. Heißt: Wir dürfen nicht unbegrenzt Fachkräfte abwerben und diese Länder quasi ausbluten lassen, nur weil wir besser zahlen können. Solche Entwicklungen müssen wir aufmerksam im Blick behalten.
Ein besseres Miteinander von Pflegekräften, Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen
Grundproblem ist, dass Deutschland nun mal viel mehr alte Menschen hat als andere europäische Staaten. Beispielsweise gibt es in Spanien oder Polen viel mehr jüngere Menschen als bei uns, die dem Ausbildungs- oder Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Wenn diese keinen Arbeitsplatz finden, muss es natürlich möglich sein, dass sie auch bei uns in der Pflege arbeiten können. Neben der fachlichen Qualifikation ist für mich das A und O, dass sie sehr gut Deutsch sprechen. Denn es darf nicht sein, dass bei einem Notfall die Verständigung zum Problem wird. Das wäre für beide furchtbar – für Pflegebedürftige oder Patienten und für die Pflegekraft.
Müsste man, um die Attraktivität des Pflegeberufes für junge Leute aus dem Ausland zu erhöhen, nicht auch noch ein Integrationsangebot machen? Offensiv zu sagen, du kannst bei uns arbeiten und wenn du willst, darfst du auch Teil der deutschen Gesellschaft werden.
Das ist kein „auch", das muss Grundvoraussetzung sein. Es gibt jetzt schon Einrichtungen, die sich professionell um ihre ausländischen Pflegekräfte kümmern, ihnen zusätzliche Sprachkurse anbieten, bei der Wohnungssuche helfen und sie bei Problemen nicht alleine lassen. Eben nicht nach dem Motto: Du kommst jetzt sieben Stunden arbeiten und was du danach machst, ist uns egal. Die Einrichtungen, die ich, seit ich im Amt bin, kennengelernt habe, kümmern sich mit Herzblut, dass es den neuen Pflegekräften auch gut geht.
Alles, was die Pflege verteuert, erhöht die Beiträge der Versicherten oder den Eigenanteil der Heimbewohner. Der liegt schon im Schnitt bei 2.179 Euro im Monat. Ist das noch akzeptabel?
Die Eigenanteile müssen wir weiter im Blick behalten, das haben wir aber im Koalitionsvertrag auch so vereinbart. Wir wollen sie stabilisieren und nach Möglichkeit weiter senken, zum Beispiel indem wir die Ausbildungskostenumlage herausnehmen.
Viele Pfleger und Pflegerinnen beklagten auch schon vor Corona, dass die Anspruchshaltung bei Angehörigen von Pflegebedürftigen hoch und nicht zu erfüllen sei. Was muss da passieren, dass man Ansprüche auf ein realistisches Maß herunterschraubt?
Das ist eine gute Frage, und diese Frage habe ich mir auch schon lange gestellt. Da könnte ich Ihnen viele Beispiele aus der Praxis nennen: Du sitzt am Bett einer Pflegeheimbewohnerin und reichst ihr das Essen an, weil die Dame das alleine nicht kann, und dann platzt die Angehörige aus dem Zimmer nebenan rein: ‚Hören Sie mal, meine Mutter hat einen Flecken auf der Bluse, kommen Sie mal. Oder, was immer wieder passiert: „Ich weiß, Sie haben gerade Pause, aber…"
Ich beobachte, wie sich das in den letzten 30 Jahren entwickelt hat. Wir brauchen ein besseres Miteinander von Pflegebedürftigen, Angehörigen und Pflegekräften. Mehr Verständnis dafür, wie sich Angehörige sorgen und wie Pflegekräfte in einer Einrichtung arbeiten. Dass sie dabei – abgesehen von Notfällen, in denen natürlich jeder aufspringt – ihre Pausen brauchen. Und wir dürfen dabei nie vergessen, dass bei allen Bemühungen immer die Belange der Pflegebedürftigen im Fokus stehen müssen.
Die Corona-Pandemie hat uns auf schmerzhafte und auch dramatische Weise die Mängel im Pflegebereich vor Augen geführt. Was haben wir daraus gelernt?
Das darf nicht mehr passieren, dass Menschen in Pflegeheimen komplett isoliert werden.
Aber man muss auch dazu sagen: Eine solche Pandemie hatten wir noch nie. Das war Neuland für alle. Da war oberstes Gebot, zuerst die besonders gefährdeten Menschen zu schützen. Denn die Sterberate bei den vulnerablen Gruppen und bei den älteren Menschen war extrem hoch. Auch, weil wir nicht gleich einen Impfschutz hatten. Wir wussten zu dem Zeitpunkt leider vieles noch nicht. Aber mit dem heutigen Wissen wäre es unverantwortlich, wenn wir die vulnerablen Gruppen noch mal so isolieren, wie das gesehen ist.
Virologen sagen, dass es keine Frage ist, ob wieder eine neue Pandemie kommt, sondern wann. Haben wir heute ein Regelwerk in der Schublade, dass uns das Handwerkszeug gibt, die Fehler der Pandemie nicht zu wiederholen?
Ich denke, wir sind das nächste Mal besser vorbereitet. Aber ich habe keine Glaskugel, in die ich schauen kann und sehe, ob schon bald noch mal eine Pandemie kommt oder erst in 100 Jahren. Aber was bei Corona wirksam ist, FFP2-Masken, Desinfektionsmittel, Schutzkleidung, das ist auch bei vielen anderen Krankheiten wirksam. Das sind oft Cent-Artikel. Diese Sachen müssen ausreichend vorhanden sein.
Es zieht sich wie ein roter Faden durch das Interview, man merkt, sie kommen vom Fach. Gesundheitsminister Lauterbach, hat Ihre Praxiserfahrung sicher auch als große Stärke gesehen. Hilft Ihnen Ihr Know-how, Lösungen zu sehen und Verbesserungen durchzusetzen?
Das hoffe ich. Aber, ob das so ist, muss man sehen. Herr Lauterbach ist ja als Mediziner selbst vom Fach und so gesehen ist er da konsequent, dass er auch als Pflegebevollmächtigte jemanden vorgeschlagen hat, die ebenfalls vom Fach ist. Ich bin da auch froh drüber. (lacht)