Zugegeben: Wenn es nur nach Größe geht, kann es der Idrosee nicht mit seinem großen Bruder aufnehmen. Dafür empfiehlt sich das malerisch von Bergrücken gerahmte Gewässer auch in der Hochsaison – als entschleunigende Oase und als Dorado für Outdoorfans.
Fast schüchtern schickt die Sonne erste Strahlen über die gezackten Kuppen der Berge. Golden schimmern ihre Spiegelbilder auf dem tiefgrünen See. Irgendwo in der Ferne läuten Kirchenglocken. Ein Sommersonntagmorgen am norditalienischen Idrosee. Auf einer Wiese am Ufer macht Surflehrerin Annica Hein Yogaübungen. Nochmal dehnen, nochmal tief durchatmen. Der Arbeitstag kann beginnen. Seit ihrer Kindheit hat die junge Frau fast jeden Sommer an dem tiefen, sauberen Gewässer verbracht, das sich – zehn Kilometer lang und einen guten Kilometer breit – in den südlichen Ausläufern der Alpen erstreckt. Langweilig wurde es nie. „Im Gegenteil“, lacht die Studentin, die nun in den Semesterferien auf dem Campingplatz jobbt und Urlaubern Wasser-Trendsportarten zeigt. Gemeinsam mit „ihren Jungs“ schleppt Hein Kajaks und Paddel an den schmalen Kieselstrand. Als die ersten Gäste in die Boote rutschen, hat es die Sonne immer noch nicht ganz über die Gipfel der Bergkette geschafft. Die durchtrainierte Studentin zeigt, wie Paddel richtig gehalten werden. „Nicht nur die Unterarme bewegen, nehmt auch den Oberkörper“, sagt sie und setzt sich mit ein paar Paddelschlägen an die Spitze. Beinahe lautlos folgen ihr die bunten Boote über den spiegelglatten See.
Langweilig wird es hier nie
Anders als am etwa 40 Kilometer entfernten Gardasee, wo oft schon morgens ein kräftiger Nordwind weht, streicht über den Idrosee bis zur Mittagszeit allenfalls ein laues Lüftchen. Erst nachmittags sorgt die Ora, ein thermischer Wind aus südlicher Richtung, auch hier für Windstärken von drei bis vier Beaufort. Das macht den kleinen See auch für Surf-Anfänger und Kinder zu einem idealen Revier. Hier oben – der Lago d’Idro liegt 368 Meter über dem Meeresspiegel – sind aber nicht nur die Windverhältnisse ganz anders als am rund 300 Meter tiefer gelegenen Gardasee. Mondäne Villen und Parks, Luxushotels, unzählige Restaurants und Cafés gibt es am Idrosee nicht. Auch keine Reisebusse und Touristenscharen. Der See und seine weitgehend unbebauten Ufer sind Camper-Dorado und Spielwiese für Outdoor-Freaks. Selbst in der Hochsaison geht es hier ganz entspannt zu. Wer hier Urlaub macht, beginnt den Tag lieber mit einem Sprung ins prickelnde Nass als mit Champagner auf der Hotelterrasse. Auch Motorboote stören die beschauliche Atmosphäre nicht. Lediglich der Liniendampfer „Idra“ verbindet von Juni bis September mehrmals täglich Idro, Anfo und die anderen kleinen Orte am See.
Das bergige Hinterland bietet Wanderern und Mountainbikern aussichtsreiche Trails. Mit Panoramablicken vom Feinsten wird der Aufstieg zur Festung Rocca d’Anfo belohnt. Kräftige Adrenalinschübe sind indes im Parco delle Fucine zu erwarten. Der Freizeitpark für Kletterfreaks und solche, die es werden wollen, liegt auf dem Gebiet der Gemeinde Casto, etwa 15 Kilometer von der Südspitze des Sees entfernt. Bis vor wenigen Jahrzehnten waren in diesem von einem munteren Gebirgsbach durchflossenen Tal diverse Eisenschmieden aktiv. Metallgewinnung und Metallverarbeitung haben den Wohlstand der Region begründet. An die harte Arbeit am Schmiedehammer erinnert sich Santo Piccinelli, ein drahtiger Pensionär. Als Junge hat er seinem Vater geholfen, im Takt des Hammers Schrauben herzustellen. „Kinderarbeit nach der Schule war in den 60er- und 70er-Jahren noch gang und gäbe“, sagt Piccinelli. Heute begleitet der braungebrannte Mann mit dem silbrigen Stoppelschnitt Outdoor-Fans über Klettersteige und sorgt dafür, dass auch Ungeübte den Kletterparcours durch die spektakuläre Klamm sicher bewältigen. Als Freiwilliger war er dabei, als hier Wanderwege angelegt und Kletterhilfen in die Felswände gehauen wurden: „Unsere Idee war, die Relikte der lokalen Industriegeschichte zu erhalten und sie harmonisch in die Natur einzugliedern.“ Das ist gelungen. Im Parco delle Fucine lassen sich Mühle, Schmiedehammer, Kalk- und Schmelzöfen aus ungewöhnlichen Perspektiven in Augenschein nehmen – auch von einer Tibetanischen Seilbrücke aus oder beim Flug an der Zipline.
Mit Kletterhilfe die Klamm überwinden
Im höher gelegenen Ortsteil Auro hat Jacopo Fontana in den 1990er-Jahren seinen Agriturismo „Le Cole“ eröffnet. „Damals haben mich die meisten hier mitleidig belächelt“, erinnert sich Fontana, ein Hippie-Typ mit Leinenhemd und schulterlangem, zum Zopf gebundenem Haar. „Ausflügler und Feriengäste hatte hier noch keiner auf dem Schirm.“ Längst aber zählen auch Bewohner der Gardasee-Orte zu seiner Stammkundschaft. „Die Leute kommen an ihren freien Tagen, um sich vom Trubel da unten zu erholen“, sagt Fontana. Unter der weinberankten Pergola seiner urigen Bauernschenke können sie Fünfe gerade sein lassen – und in lokalen Spezialitäten schwelgen. Rohmilchkäse und Dips, luftgetrocknete Wurst und Schinken, Gemüse aus dem eigenen Garten in allen Variationen, hausgemachte Polenta, Pasta, duftendes Brot. Dazu kommt lokaler Wein auf den Tisch. Samstags und sonntags backt der Wirt Pizza für seine Gäste – und weil er gerne mit ihnen plaudert und singt, kann es spät werden. Geschickt ist es, sich rechtzeitig eines der rustikalen Gästezimmer zu reservieren.
Etwa 20 Autominuten vom Nordufer des Idrosees entfernt, in dem engen Seitental Val Sabbia, liegt Bagolino, ein mittelalterlich geprägter Ort, der es auf die Liste der „borghi più belli d’Italia“, der schönsten Städtchen Italiens, geschafft hat. Vier- und fünfstöckige Häuser stehen dicht an dicht, scheinen sich gegenseitig Halt und Schutz zu geben. Pflasterstraßen, Gassen, Treppchen, Torbögen und Terrassen mit beeindruckender Aussicht laden zu Erkundungstouren ein. Am höchsten Punkt thront die Kathedrale San Giorgio, die für Bagolino mit seinen knapp 4.000 Einwohnern viel zu imposant geraten scheint. Doch im Mittelalter war Bagolino wichtig, eine Station an einer Handelsroute über die Alpen und auch ein Zentrum der Eisenerzgewinnung.
Uraltes Rezept macht Bagòss unverwechselbar
Heute ist der Ort für anderes bekannt. Für seinen urigen Karneval und für den Bagòss, einen würzigen Alpenkäse, der nur in dieser Gegend und ausschließlich mit der Milch der Alpen-Braunviehrasse „bruna alpina“ hergestellt wird. In den kleinen Käsereien, von denen es noch 28 in der Gegend gibt, wird der Milch nach uraltem Rezept Safran beigemischt. Das macht den Bagòss unverwechselbar. Probieren kann man bei Andrea Pelizzari, der im Zentrum den Feinkostladen „Alimentari da Nello“ betreibt. Nebenan, in einer kühlen „Cantina“, reifen wagenradgroße Käselaibe. Wenn sich interessierte Besuchergrüppchen anmelden, bestücken Pelizzari und Ehefrau Laura kleine Teller mit tortenförmig geschnittenen Käsehappen. Verkostungen ergänzen das Angebot des Geschäfts, das Pelizzari vor ein paar Jahren von den Eltern übernommen hat. Nicht einen Tag habe er es bereut, nach dem Studium in der Großstadt zurückgekehrt zu sein, beteuert der junge Mann und gibt die Teller in die Runde. „Kenner“, sagt er, „schmecken sofort, ob ein Bagòss mit Sommer- oder Wintermilch hergestellt wurde.“ Sommer- oder Winter-Käse, zwölf Monate, zwei Jahre oder noch länger gereift – wie immer sind die Vorlieben der Verkostenden unterschiedlich. In einem Punkt aber sind sich alle einig, die auch zu einem Glas gegriffen haben. Der würzige Bagòss und der trockene Schaumwein sind ein unschlagbares Doppel.