Als Titelverteidiger hat Niklas Kaul für die WM ein automatisches Startrecht, für die EM danach in München muss er sich dagegen noch qualifizieren. Seine erste Chance verpasste der Zehnkämpfer – mal wieder wegen einer Verletzung.
Die Kauls sind eine Sportlerfamilie durch und durch. Das geht sogar so weit, dass sich Mutter, Vater, Sohn und Tochter regelmäßig zum Training auf dem Sportplatz oder in der Halle treffen. Der 24-jährige Niklas erhält dann seine Anweisungen von Papa Michael, einst Deutscher Meister über 400 Meter Hürden. Und Emma, mit 16 Jahren das Küken der Familie, wird gecoacht von Mama Stefanie, die früher österreichische Leichtathletik-Meisterin war. „Ich finde das superschön", sagte Niklas Kaul. Weil er inzwischen aus dem Elternhaus im rheinhessischen Saulheim ausgezogen ist, sind die gemeinsamen Trainingseinheiten auch immer eine gute Gelegenheit, um sich gegenseitig auf den neuesten Stand im Privatleben zu bringen – um die Familienbande weiter zu stärken.
„Dann verbringe ich eben doch viel Zeit mit meiner Schwester, obwohl ich nicht mehr bei meinen Eltern wohne", erklärte Kaul: „Das ist unser Bezugspunkt, dass wir dasselbe Hobby teilen." Niklas ist in diesem Hobby, das er längst professionell betreibt, mit dem WM-Titel 2019 im Zehnkampf zum König der Leichtathletik aufgestiegen. Seine acht Jahre jüngere Schwester zieht es auch magisch zum Mehrkampf hin, 2020 holte sie in ihrer Altersklasse den nationalen Meistertitel. Ihr international erfolgreicher Bruder ist dabei – wenig überraschend – das große Vorbild. „Ich bin echt glücklich, so einen großen Bruder zu haben", sagte Emma dem SWR: „Er pusht mich, er gibt mir Ratschläge und Tipps, gerade bei technischen Sachen."
Sportlerfamilie durch und durch
Im Moment hat Niklas Kaul aber nicht so viel Zeit und Muße für seine Schwester. Er steht selbst unter enormem Druck und muss liefern. Nachdem er den ersten Zehnkampf-Wettkampf des Jahres in Ratingen verletzungsbedingt abbrechen musste, hat er nur noch zwei Möglichkeiten für die Qualifikation zur Heim-EM in München in der zweiten August-Hälfte. Die erste steht an diesem Wochenende (28./29. Mai) in Götzis/Österreich an. Sollte er hier die für die Norm geforderten 8.100 Punkte nicht erreichen, bliebe noch eine letzte Quali-Chance: bei der WM in Eugene (15. bis 24. Juli), für die er als Titelverteidiger eine Wildcard besitzt.
Die Punkte-Forderung ist eigentlich kein Problem für den besten deutschen Zehnkämpfer. Zum Vergleich: Bei seinem WM-Triumph hatte er 8.691 Zähler geholt. Doch es stellt sich zweifelsohne die Frage: Wie fit ist Kaul? Nach seinem Abbruch in Ratingen, bei dem er über „Kopfschmerzen und Schwindel" geklagt hatte, schossen die Spekulationen ins Kraut. Der Athlet selbst gab auf seinem Instagram-Account wenig später leichte Entwarnung: Es habe sich lediglich um „eine kleinere Verletzung" im Halsbereich gehandelt, die „den weiteren Verlauf der Saison nicht gefährden" werde.
Die Verantwortlichen des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) würde das freuen, denn Kaul ist neben Malaika Mihambo das große DLV-Zugpferd. Und er ist – sofern in Topform – einer der wenigen deutschen Goldanwärter im Highlight-Jahr 2022 mit WM und EM innerhalb von nur drei Wochen. Verlässliche Prognosen im Zehnkampf abzugeben ist zwar generell schwierig – doch bei Kaul ist es nahezu unmöglich. Er hat seit seinem Gold-Coup 2019 erst einen einzigen Zehnkampf beendet. Im Vorjahr war er auch in Götzis an den Start gegangen und hatte 8.263 Punkte gesammelt. Die würden jetzt für das EM-Ticket reichen – und nur das ist so früh in der Saison das Ziel. Aber bitte keine neue Verletzung! Davon hatte er in den vergangenen zwei Jahren genügend.
Die Saison 2020 war für ihn nicht nur wegen der Corona-Pandemie ein Reinfall, sondern auch wegen einer Ellbogen-Operation. Die lange Wettkampfpause von 19 Monaten ging am Shootingstar, dem bis dahin alles scheinbar mühelos zu gelingen schien, nicht spurlos vorbei. Kaul hatte viel Mühe, rechtzeitig für Olympia in Tokio in Form zu kommen. Das gelang ihm mit einer großen Willensleistung – doch ausgerechnet bei den Sommerspielen kehrte das Verletzungspech zurück. Kaul lag auf Medaillenkurs, erzielte in den ersten vier Disziplinen zwei Bestleistungen, aber beim 400-Meter-Lauf zum Abschluss des ersten Wettkampftages gab er auf. Die Fußverletzung, die er sich zuvor bei einem Fehltritt im Hochsprung beim Versuch über 2,11 Meter zugezogen hatte, war zu schmerzhaft.
Die Bilder, wie er danach im Rollstuhl aus dem Olympiastadion gefahren wurde, liefen im TV rauf und runter. „Shit happens" – so lapidar hatte der Physik- und Sportstudent damals die große Olympia-Enttäuschung kommentiert. Lamentieren oder hadern liegt nicht in Kauls Natur, aufgeben schon mal gar nicht. „Das Ziel der Olympia-Medaille muss ich mir dann wohl noch für Paris aufsparen", sagte er.
Titelverteidigung das große Ziel
Bis dahin will er sich aber noch ein paar andere Träume erfüllen. In Eugene den WM-Titel zu verteidigen, das wäre eine echte Hausnummer. Aber noch etwas wertvoller wäre für ihn Gold bei der Heim-EM in München. „Sportlich hat die WM natürlich einen höheren Wert", sagte der Mainzer, „aber das Highlight des Jahres ist München. Deswegen ist für mich München das ganz große Ziel". Er habe schon 2018 in Berlin eine Europameisterschaft vor heimischem Publikum erleben dürfen. „Das war mein bisher schönster Zehnkampf", erinnerte sich Kaul zurück. Damals fehlten dem Nachnominierten im zarten Alter von 20 Jahren lediglich 70 Punkte auf den Bronze-Rang. Der vierte Platz war aber schon damals ein deutlicher Fingerzeig für das Riesentalent, das Kaul für den Mehrkampf mitbringt. Bestätigt hat er das dann auch mit dem Sieg bei der U23-EM 2019, und mit diesem Glücksgefühl war er zur WM nach Katar geflogen. Das Ende ist bekannt: Kaul düpierte die versammelte Weltelite und krönte sich zum jüngsten Zehnkampf-Weltmeister der Geschichte!
Dass seitdem der Körper nicht mehr ganz so zuverlässig mitspielt, weil der Kopf nun eine viel größere Erwartungshaltung verarbeiten muss, glaubt Kaul nicht. „Ich mache mir da wenig Druck", sagte er. Auch generelle Zweifel, ob sein Körper dem Hochleistungssport noch gewachsen sei, lasse er nicht zu: „Ich habe in den vergangenen zwei Jahren so viel Pech gehabt, dass das jetzt erst mal aufgebraucht sein sollte." So sah es vor Ratingen auch aus, Kaul war auf einem guten Weg, habe „einen guten Eindruck" gemacht und im Training „sehr gute Leistungen gebracht", wie Zehnkampf-Teamleiter Frank Müller versicherte: „Aber es ist alles noch nicht stabil. Das ist typisch am Anfang der Saison." Sein größter Wunsch für Kaul: „Dass wir ihn häufiger mal lachen sehen." Denn mit Spaß und Freude kehren bei Kaul fast immer auch die Top-Leistungen zurück.
Von denen war er in Ratingen bis zu seinem Abbruch aber weit entfernt, was ganz sicher mit seiner Verletzung zu tun hatte. Die Probleme im Halsbereich waren gleich zu Beginn des Wettkampfs beim 100-Meter-Lauf aufgetreten. Die Aufgabe nach wenigen Metern im 400-Meter-Rennen sei alternativlos gewesen, so Müller: „Alles andere wäre unverantwortlich gewesen." Auch der WM-Dritte Kai Kazmirek konnte den Wettkampf nicht beenden, doch geteiltes Leid ist diesem Fall nicht halbes Leid. Kazmirek wird ebenfalls in Götzis an den Start gehen, genau wie Ex-Europameister Arthur Abele, Tim Nowak, Mathias Brugger und Malik Diakite. Das Feld ist also gut besetzt, was Kauls Motivation nicht schaden dürfte. Auch wenn die auch so schon riesig ist.
„Ich versuche jedes Jahr schneller zu laufen, höher zu springen und weiter zu werfen", sagte Kaul über seinen inneren Antrieb. Es ist genau diese Ganzheitlichkeit, die ihn am Zehnkampf fasziniert. „Das große Ganze ist wichtiger als die elf Sekunden über 100 Meter." Zum Glück für Kaul, denn der Sprint ist seine größte Schwachstelle. An der hat er in den Trainingslagern in Südafrika und in der Türkei gearbeitet, beim Diskuswerfen fehlen noch ein paar Feinheiten. Aber ansonsten sah sich Kaul gut gerüstet. An den technischen Feinheiten werde er erst jetzt langsam arbeiten. Die beste Nachricht der Trainingslager lautete ohnehin: Die Fußverletzung ist komplett ausgeheilt, auch das Hochspringen ist kein Problem mehr.
Problematisch wird jedoch für alle europäischen Top-Athleten das Zeitmanagement in diesem Sommer. Dass zwischen WM und EM nur drei Wochen liegen, weil die Veranstalter der kontinentalen Titelkämpfe unbedingt mit dem Zehnkampf als Highlight starten wollen, ist für das Training eine enorme Herausforderung. Für die Zehnkämpfer, die während des Wettbewerbs großen Belastungen ausgesetzt sind, erst recht. „Das wird ganz schön sportlich, eine echte Herausforderung", meinte Kaul. Doch die Not macht erfinderisch. „Wir stehen in Kontakt mit Experten aus der Schlafforschung, um die Regeneration und Zeitumstellung bestmöglich zu gestalten", verriet Müller: „Dazwischen heißt es besonders im Zehnkampf eigentlich nur noch: ausruhen und Beine hochlegen." Klar scheint: Wer bei der WM nicht in Topform ist, wird es bei der EM auch nicht sein – zumal die Athleten einen Jetlag von neun Stunden verarbeiten müssen. „Das Training muss gemacht sein, wenn der Abflug nach Eugene ansteht", bestätigte der Zehnkampf-Teamleiter.
Bis dahin will Kaul auch das EM-Ticket in der Tasche haben, denn dann kann er sich komplett auf die Jagd nach einer neuen Bestleistung konzentrieren. Er sei „sehr daran interessiert zu erfahren, bei welcher Punktzahl ich lande, wenn ich meine Leistung nach den ersten vier Disziplinen durchziehen kann", erklärte der Weltmeister. Also ganz ohne Wehwehchen. Er will es sich vor allem selbst beweisen: „Ich weiß jetzt, dass ich alles für mich mache". Aber ein bisschen auch für seine Schwester, die ihm so gerne nacheifern möchte.