Der Große Preis ist das Kronjuwel der Formel 1. Vor 93 Jahren hatte der Dinosaurier seine Premiere. An diesem Sonntag dreht sich das Auto-Roulette zum 79. Mal in dem mondänen Steuer- und Zockerparadies.
Monaco, der zweitkleinste Staat nach dem Vatikan, steht für Glamour und Glitzer in der Formel-1-Welt.
Monaco ist die Legende im F1-Kalender. In ihrer Historie trug sie unter anderem entscheidend zur Mythenbildung um Ayrton Senna, sechsmaliger, und Michael Schumacher, fünfmaliger Monaco-Sieger, bei. Was aber hat es mit dem Begriff „Mythos" überhaupt auf sich?
Das Wort stammt ursprünglich aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie Rede, Erzählung, Legende, Überlieferung oder auch „sagenhafte Geschichte". Mit einer solchen „Überlieferung" und „Geschichte" wollen wir in den „Mythos Monaco" eintauchen und blicken weit zurück ins Jahr 1297.
Es war eine stürmische Winternacht am 8. Januar, in der ein gewisser Francesco Grimaldi, genannt „Malizia" oder „der Listige", als Mönch verkleidet mit einigen Kumpanen den beschwerlichen Weg zur Festung von Monaco emporstieg und an das Tor der Burg klopfte. Arglos öffneten die Wachen dem Geistlichen und baten gastfreundlich die verfrorenen Wanderer herein. Da wirft der vermeintliche Franziskaner-Mönch seine Soutane zu Boden, zieht das unter ihr verborgene Schwert und eroberte im Handstreich die Festung. Diese Nacht war der Beginn der bis heute währenden Herrschaft des Geschlechts der Grimaldi über Monaco. Niemand hätte sich vor 725 Jahren träumen lassen, dass dieses kleine Fleckchen Erde an der Côte d’Azur einmal die Berühmtheit erlangen sollte, die es heute genießt. Allein der Name Mo-na-co, das Fürstentum mit den sechs Buchstaben in drei Silben, versetzt Millionen von Menschen in fast schwärmerische Ekstase. Zu ihnen zählen auch die Motorsportfans und Zuschauer auf der ganzen Welt, die dem Geschwindigkeitsrausch verfallen sind.
Zu seiner Berühmtheit haben dem Zwerg- und Operettenstaat auch die jährlichen Grand-Prix-Rennen verholfen. Ihren Platz im monegassischen Jahreskalender haben diese Veranstaltungen einem gewissen Anthony Noghès zu verdanken. Er war der Sohn des Präsidenten des Automobile Club de Monaco. 1940 beerbte er seinen Vater in dessen Position. Die Familie Noghès hatte ausgezeichnete Kontakte zur Fürstenfamilie und war mit den Grimaldis befreundet. Unterstützung für seinen Plan, Rennautos durch die Stadt rasen zu lassen, bekam der Monegasse von dem einheimischem Piloten Louis Chiron und dem Ingenieur Jacques Taffe. Beide haben Noghès bei seinem Vorhaben beraten. Am 14. April 1929 wurden unter dem Patronat des Prinzen Louis II. 16 Teilnehmer zum Rennen eingeladen. Die Starterliste wurde noch ausgelost. Auf ihr standen: acht Bugattis, drei Alfa Romeos, drei Maseratis, ein Licorne, ein Mercedes SSK. Der Sieger dieses Rennens war William Charles Frédérik Grover-Williams, ein britischer Geheimagent, der unter dem Pseudonym „W. Williams" an den Start ging und mit seinem grünen Bugatti nach 100 Runden, einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 80,4 km/h und in 3:56:11Stunden ins Ziel kam. Allerdings fuhr man damals noch eine andere Strecke und auch um die 50 Kilometer weiter als heute. Nebenbei: Im vergangenen Jahr 2021 betrug die Durchschnittsgeschwindigkeit 160 km/h bei einer Renndistanz von 260,520 Kilometer (78 Runden). Der Sieger hieß Max Verstappen im Red Bull.
1929 wurden 16 Fahrer eingeladen
Bis zum Zweiten Weltkrieg (neun Rennen in Folge) entfaltete sich das Rennen und bestätigte Jahr für Jahr seinen Erfolg. Während des Krieges (1938 bis 1947) fanden keine Rennen statt. 1948 nahm Monaco seinen Großen Preis wieder auf (Sieger: Giuseppe Farina/Maserati). Zwei Jahre später, am 13. Mai 1950, begann in Silverstone/England das neue Zeitalter der Formel 1. Monaco war am 21. Mai 1950 der zweite Grand Prix der Neuzeit und der erste im Fürstentum: Massencrash in Runde eins, neun Autos Schrott, der Sieger hieß Juan-Manuel Fangio (Argentinien) im Alfa Romeo. Von 1951 bis inklusive 1954 fielen die Rennen an der Côte d’Azur aus. Fangio, der Brite Stirling Moss und der Franzose Maurice Trintignant prägten mit ihren Siegen im Fürstentum die 50er-Jahre. In den 60ern übernahmen Stirling Moss und sein Landsmann, der Fünffach-Monaco-Sieger Graham Hill, die Spitze, in den 70ern dominierten Jackie Stewart und Niki Lauda, in den 80ern Alain Prost (Frankreich) und Ayrton Senna (Brasilien) während in den 90er-Jahren erneut Senna und der Deutsche Michael Schumacher die Szene bestimmten. In den 2000ern war der Spanier Fernando Alonso der „Monaco-King".
Im vergangenen Jahrzehnt drückte Mercedes mit Nico Rosberg und Lewis Hamilton dem Monaco-GP seinen Stempel auf. Wer vom Mythos Monaco spricht, wird dabei meist auch die sogenannte „Triple Crown" im Sinn haben, die Krone des Motorsports. Sie wird dem Fahrer verliehen, der neben dem F1-Rennen in Monaco auch die prestigeträchtigen 24 Stunden von Le Mans sowie das Indy 500 gewonnen hat. Mit Rennsportlegende Graham Hill erreichte bisher erst ein einziger Fahrer diese Triple Crown. Er ist zugleich Grand-Slam-Sieger. Der Mythos von Monaco ist auch der Grand Prix von Fahrern, die nie über Sieges-Schampus außer im Fürstentum hinauskommen sollten – wie Oliver Panis (1996), Jean-Pierre Beltoise (1972), wie Jarno Trulli (2004) und Maurice Trintignant (1955 und 1958).
Die Angst vor einem Crash fährt mit
Seit der Geburtsstunde seiner Rennstrecke 1929 nutzt das Fürstentum Autorennen zur Imagepflege. Fast ein Dutzend Mal änderte sich das Layout zwischen Hafen und Casino. Trotz Faceliftings, Streckenverbesserung und aufwendigem Sicherheitsstandard – die Angst vor einem schweren Unfall auf dem engen Stadtkurs mit seiner verwirrenden Kurvenorgie und Zentimeter entlang an den „surrenden" Leitplanken durch die Häuserschluchten in den Stadtbezirken Monte Carlo und Condamine fährt bei den Fahrern mit und ist allgegenwärtig. Am 22. Mai 1955 flog Alberto Ascari in der Hafenschikane mit seinem Lancia-Ferrari ins Hafenbecken. Die Mannschaft einer Luxusjacht des Reeders Onassis fischte den zweimaligen Weltmeister mitsamt Auto heraus. Ascari kam mit einem Nasenbeinbruch und Prellungen davon. Vier Tage später kam der Champion der Jahre 1952 und 1953 bei privaten Tests mit einem Ferrari-Sportwagen in Monza jedoch ums Leben. Der Australier Paul Hawkins kam 1965 nach seinem Sturz ins Meer jedoch mit dem Leben davon.
Am 7. Mai 1967 wurden dem Italiener Lorenzo Bandini die eigentlich zur Absicherung gedachten Strohballen zum tödlichen Verhängnis. Bandini jagte in seinem Ferrari den führenden Neuseeländer Denny Hulme im Brabham. Die Hatz durch die engen Straßenschluchten endete für Bandini in einer Tragödie. Nach seinem Unfall in der Hafenschikane fing sein Auto Feuer, das schnell auf die Strohballen übergriff. Drei schier endlose Minuten saß der 31-jährige Bandini im Feuer. 70 Prozent seiner Haut verbrannten, dazu hatte er etliche Knochenbrüche erlitten. Die damals noch unzureichend ausgerüsteten Streckenposten mit ihren kleinen Feuerlöschern konnten den Piloten nicht schnell genug aus dem Flammeninferno retten.
Drei Tage lang kämpften die Ärzte im Krankenhaus um sein Leben, dann verloren sie den Kampf. Bandini verstarb nach 42 Grands Prix am 10. Mai 1967 mit 32 Jahren. Es war einer jenen fatalen Feuerunfälle, die es in der Formel 1 der 1960er- und 1970er-Jahre viel zu oft gab. Für den Grand Prix in Monaco hatte der Feuerunfall Folgen. Die ursprüngliche Renndistanz wurde ab 1968 von 100 auf maximal 80 Runden verkürzt. Der letzte folgenschwere Unfall war am 15. Mai 1994 der Crash von Karl Wendlinger ausgangs des Tunnels. Der Österreicher verlor die Kontrolle über seinen Sauber-Mercedes und krachte in der Hafenschikane seitlich in die Streckenbegrenzung.
Dabei erlitt er ein Schädel-Hirn-Trauma und lag 21 Tage im Koma. Nach 41 Grands Prix beendete Wendlinger seine F1-Karriere. Auch aus dem Unfall des „Ösis" haben die Verantwortlichen gelernt: Die Hafenschikane wurde durch Reifenstapel gesichert, für das Cockpit wurde ein seitlicher Kopfschutz Vorschrift. Den Tunnel in Richtung Hafenschikane verlassen die Fahrer mit rund 300 km/h – die Angst vor einem Horrorunfall am Ende des Tunnels oder gar in der nicht einsehbaren Kurve innerhalb des Tunnels fährt immer mit. Wurz (1998), Sato (2002), Button (2003) und Perez (2011) entgingen an dieser Stelle nur knapp einer Katastrophe.
Wendlingers Unfall änderte die Regeln
Die Fahrer verbindet eine Art Hassliebe mit dem Mythos Monaco. Sie fahren mit 260 Stundenkilometern den Casinoberg hinauf, vorbei an den Edeljuwelieren, bremsen am Loews in einer Sekunde von 180 auf 50 km/h herunter, so nah wie möglich an der Leitplanke auf der Ideallinie, um dann im Tunnel wieder auf 280 zu beschleunigen.
Die Fahrer müssen oft in halsbrecherischen Manövern um die engen Kurven zirkeln. 78 Runden lang hochkonzentriert. Auf der 3,337 Kilometer kurzen Strecke sind es pro Runde 19 Kurven (elf rechts, acht links), heißt: insgesamt 1.482 Kurven, die bewältigt werden müssen. Davon gehen 624 nach links und 858 nach rechts, – ohne die wippenden Kurven, die tagsüber durchs Fahrerlager gestöckelt werden. 50 Gangwechsel pro Runde bedeuten, dass die Fahrer über 4.000-mal schalten müssen – aber kein einziges Mal in den achten Gang. Das wiederum heißt: lange Geraden – Fehlanzeige. Vollgas-Kurven – Fehlanzeige. Auslaufzonen – Fehlanzeige. Überholen – fast unmöglich. Zur Erinnerung: 2021 gab es ein Überholmanöver, 2019 sogar zwei. Jeder Fehler wird auf dem legendären Stadtkurs mit Streckenabschnitten wie Rascasse, Mirabeau, dem Tunnel oder entlang des Schwimmbads gnadenlos bestraft. Die Leitplanken sind bedrohlich nah. Kein anderes Rennen fordert und fasziniert die 20 Piloten gleichermaßen wie der kurvenreiche Straßenkurs von Monaco. Am Sonntag, 29. Mai, (15 Uhr/Sky) ist es wieder so weit mit dem legendären Grand Prix von Monaco. Und dann fährt ein echter Monegasse mit: Charles Leclerc.
Der 24 Jahre alte Ferrari-Pilot kennt jeden Winkel, geholfen hat ihm das bei seinen bisherigen vier Heimrennen noch nicht. Kein Sieg, kein Podium, nicht mal ein Punkt – nicht mal ins Ziel kam der einzige Monegasse. Im vergangenen Jahr gelang dem viermaligen GP-Sieger sensationell die Poleposition (erster Startplatz), konnte aber nicht starten, weil das Getriebe streikte. „Mir fehlen die Worte, das ist sehr schwer, hier zu Hause nicht zu starten", klagte Leclerc.
Immerhin aber hält ein Monegasse einen Rekord – den des ältesten F1-Piloten: In Monaco 1958 war Louis Chiron stattliche 58 Jahre alt! Doch Chiron, Monaco-Sieger 1931, konnte sich nicht für den Grand Prix qualifizieren. 1955 bestritt er sein letzten Heimrennen, als 55-Jähriger. Bis zu diesem Alter hat Leclerc noch Zeit, seinen ersten Heim-Grand-Prix zu gewinnen. Vielleicht wird der Automobile Club von Monaco ihn wie den Haudegen Chiron mit einer Büste unten am Hafen ehren.