In wichtigen Fragen des Ukraine-Kriegs ist sich der Westen nicht mehr einig
Nach Beginn der russischen Invasion in die Ukraine zeigte der Westen eine nie dagewesene Geschlossenheit. Die EU und die G7-Industriestaaten legten harsche Sanktionspakete auf. Viele Länder lieferten Waffen an die Ukraine. Die Nato sandte Signale der Entschlossenheit Richtung Moskau.
Doch gut drei Monate nach dem Einmarsch sind Risse in der westlichen Front zu sehen. Wie lange wird der Krieg dauern? Kann er sich über die Ukraine hinaus ausweiten? Ist der Westen in der Lage, sich von russischen Energiequellen abzukoppeln – trotz der Querschüsse Ungarns? Wie viel militärische Unterstützung soll die Ukraine erhalten? Bei diesen Fragen gehen die Einschätzungen immer weiter auseinander. Die Kriegs- und Friedensziele des Westens sind unscharf und schwammig geworden.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat in seiner Davos-Rede bekräftigt: „Putin darf seinen Krieg nicht gewinnen." Was er damit genau meint, hat Scholz nicht gesagt. Bedeutet ein Nicht-Sieg des Kremlchefs, dass die russischen Truppen das gesamte Territorium der Ukraine verlassen? Oder heißt das, dass sie auf der annektierten Krim und in den von Moskau anerkannten Volkrepubliken Luhansk und Donezk bleiben können?
US-Präsident Joe Biden fährt zwar gegenüber Russland einen härteren Kurs, lässt es aber ebenfalls an Klarheit vermissen. Einerseits greifen die Amerikaner der Ukraine militärisch unter die Arme wie sonst kein Land. Andererseits zieht Biden aber auch Grenzen des Engagements. So, wie er zu Beginn des Angriffs eine Flugverbotszone über der Ukraine abgelehnt hat, weist er die Option einer direkten Konfrontation zwischen den USA und Russland mit der Begründung zurück: „Das nennt man den Dritten Weltkrieg."
Dennoch deutet alles darauf hin, dass Washington Moskau einen militärischen Schlag und einen politischen Denkzettel verpassen will. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin ließ Ende April mit der Bemerkung aufhorchen: „Wir wollen Russland in einem solchen Maße geschwächt sehen, dass es Aktionen wie die Ukraine-Invasion nicht mehr durchführen kann." Die amerikanische Botschafterin bei der Nato, Julianne Smith, formulierte es ähnlich: Russland solle eine „strategische Niederlage" beigebracht werden.
Dieser Ansatz ist richtig. Der Westen muss die Ukraine militärisch so ausstatten, dass sie Putins Eroberungsfeldzug standhalten kann. Ihre Bürger kämpfen für den Aufbau einer freiheitlichen Gesellschaft und für die Werte, die in New York, London, Paris oder Berlin gefeiert werden. Ließe man sie im Stich, würde sich der Westen als Gemeinschaft der Heuchler entlarven.
Einige in der Bundesregierung und in Paris fordern eine „gesichtswahrende Lösung" für Putin. Der französische Präsident Emmanuel Macron warnte gar davor, Putin zu „demütigen". Eine falsch verstandene Rücksichtnahme. Nach den Kriegsverbrechen von Butscha, Borodjanka oder Mariupol sowie den gezielten Angriffen auf zivile Infrastruktur wäre „Gesichtswahrung" reiner Zynismus. Die Autokraten und Diktatoren dieser Welt dürften sich ermutigt sehen, dass Aggression belohnt wird.
Putin wird erst verhandeln, wenn er militärisch nichts mehr gewinnen kann. Solange seine Truppen vorrücken, wird er seinen Zerstörungsfeldzug fortsetzen. Der Mann, der einst den Zusammenbruch der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichnet hat, würde es nicht beim Überfall auf die Ukraine belassen. Die Regierungschefs in Polen und den baltischen Ländern, die aufgrund ihrer historischen Erfahrungen mit Moskau über feine Sensoren verfügen, haben immer wieder auf Putins „imperialen Hunger" hingewiesen. Sie sollten ernst genommen werden.
Dennoch ist es nicht Aufgabe des Westens, auf einen Regime-Wechsel in Russland hinzuarbeiten. Auch wäre eine direkte militärische Einmischung der Nato in der Ukraine kontraproduktiv. Sähe sich Putin völlig in die Ecke gedrängt, ist nicht auszuschließen, dass er sein Heil in einer Eskalation sucht und vielleicht auch taktische Atomwaffen einsetzt. Der Krieg könnte völlig außer Kontrolle geraten. Daher gilt: Der Ukraine Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Den Druck auf Moskau hochhalten. Die Politik des Westens gegenüber Russland ist ein Balanceakt, der Klugheit, Stärke, Einheit – und Klarheit erfordert.