Vor 50 Jahren veröffentlichte Alice Cooper mit „School’s Out" eine Hymne, die Geschichte schrieb. Mit dem 74-jährigen US-Rocker sprachen wir über seine Kunstfigur, über Joints mit Jimi Hendrix und darüber, wie es ist, mit einer Nachfahrin von Johann Strauss Musik zu machen.
Mr. Cooper, wie geht es Ihnen?
Gut. Ich bin in New York. Es ist hier 8 Uhr morgens, und wir sind gerade auf Tournee.
Im Juni wollen Sie Ihr aktuelles Studioalbum „Detroit Stories", welches in Deutschland ein Nummer-eins-Erfolg war, endlich auch in Europa live vorstellen.
Ich war sehr überrascht von dem Erfolg des Albums. Es ist ja eine Hommage an meinen Geburtsort Detroit, der Hauptstadt des Hardrocks. Wir haben eigentlich nur versucht, ein gutes Hardrock-Album zu machen. Als wir dann in Detroit waren, haben wir beschlossen, mit Musikern von dort Songs über und aus Detroit aufzunehmen. Glauben Sie mir, wir waren wirklich überrascht, als wir auf Platz eins landeten.
Von den legendären Politrockern The MC5 aus Detroit haben Sie „Sister Anne" gecovert. Was verbinden Sie mit dieser Band?
Nun, Wayne Kramer von The MC5 spielt auf meinem Album Gitarre. Wenn ich ganz Detroit einfangen wollte, brauchte ich all die verschiedenen Elemente dieser Stadt. Das meiste ist Hardrock, aber es gibt auch einen Punksong, einen Motown-Song und einen Blues mit Joe Bonamassa auf dem Album.
Darüber hinaus interpretieren Sie den Velvet-Underground-Klassiker „Rock’n’Roll" neu. Waren Lou Reed und Sie Brüder im Geiste?
Ich kannte Lou Reed seit ungefähr 1970, als wir im „Chelsea Hotel" in New York City lebten. Alle Bands waren dort untergekommen. Mein Produzent Bob Ezrin hat auch mit Lou gearbeitet, das war unsere Verbindung. Lou hätte bestimmt nichts dagegen gehabt, dass wir in seinem Text „New York Station" in „Detroit Station" änderten. Es hätte ihm gefallen, denn es ist ja eine Hommage an ihn.
Michigan war bis 1972 die ständige Heimat der Band Alice Cooper. Warum haben Sie sich dort besser aufgehoben gefühlt als in Los
Angeles?
Anfangs lebten wir als Band in Los Angeles, mussten aber feststellen, dass dort nicht wirklich verstanden wurde, was wir taten. In Kalifornien waren eher psychedelische Acts wie The Doors, Love oder Buffalo Springfield angesagt. Der einzige Ort, an den wir passten, war Detroit, denn es war die Hauptstadt des Hardrocks. Wir lernten dort, wie The Yardbirds und The Who zu spielen. In Detroit gab es harte Rocker wie The MC5, Bob Seger, Ted Nugent, Suzi Quatro.
Der Sound von Detroit war das Gegenteil des Hippie-Ideals von Frieden und Liebe. Was war der Grund für die Dunkelheit und Schwere im Detroit-Sound?
Es ist eine sehr industrielle Stadt. Alle Autos wurden dort hergestellt, und das Publikum war nicht unbedingt anspruchsvoll, sondern bevorzugte eher eine Art Rock’n’Roll der Straße. Die Leute wollten einen Sound, der dem entsprach, was sie jeden Tag in den Fabriken hörten. Die großen Maschinen eben. Die Einstellung in Detroit war sehr unabhängig. Das letzte, was die hart arbeitenden Amerikaner wollten, war Softrock.
Auf dem Album befindet sich der Song „Don’t Give Up". Er handelt von der Pandemie und von Selbstmord. Warum hat Detroit ein Suizid-Problem?
Uns ist klar, dass die Pandemie nur eine begrenzte Lebensdauer hat, aber das Phänomen Selbstmord wird uns immer begleiten. Das ist eine andere Krankheit, ein Zustand. Die meisten Selbstmorde sind das Resultat klinischer Depressionen, über die ich nicht viel weiß. Es sind Menschen davon betroffen, von denen ich das nicht erwartet hätte. Es herrscht ein ständiger Aufruhr in ihrem Leben. Ich kann das irgendwie verstehen. Selbstmord wird uns immer begleiten, deshalb habe ich ein Lied geschrieben, in dem es heißt: „Was immer du tust, gib nicht auf! Denn es gibt Menschen, die dir helfen können."
Hat Ihre Auffassung von Entertainment sich während Ihrer Zeit in Detroit herausgebildet?
Ich habe dort dauerhaft gelebt, bis ich zehn Jahre alt war. In der Zeit war Rock’n’Roll zu einer „gefährlichen" Musik geworden. Jeder hatte Angst vor dieser neuartigen Bewegung. Ich hingegen habe mich sofort zu Elvis Presley hingezogen gefühlt. Das erste Mal, dass ich Rock’n’Roll bewusst hörte, war, als mein Onkel mir eine Chuck-Berry-Platte vorspielte – mit einer elektrischen Gitarre darauf. Das war der Grund, weshalb ich später beim Hardrock landete.
Ihr größter Single-Hit „School’s Out" wird dieses Jahr 50 Jahre alt. Die Inspiration zu diesem Song waren die letzten drei Minuten Ihres letzten Schultages, „wenn man da sitzt und die Lunte langsam brennt". Waren Sie ein guter Schüler?
Ich war definitiv der Klassenclown. Die Lehrer liebten mich, weil ich meine Mitschüler zum Lachen brachte. Ich war eine verdrehte Persönlichkeit. Sie haben sich nicht wirklich daran gestört, dass ich mich nicht um die Hausaufgaben kümmerte. Ich ließ sie einfach von meinen Freundinnen erledigen. Ich war zufrieden mit Durchschnittsnoten und versuchte nicht, mehr zu tun. Denn ich sah mich als Entertainer und nicht als Biologe oder Chemiker. Ich wollte ein Rock’n’Roll-Sänger werden. Als ich erstmals die Beatles und die Rolling Stones hörte, war ich 15 Jahre alt und wusste sofort, dass ich das auch machen wollte.
Haben Sie die Beatles und Stones damals live erlebt?
Die Rolling Stones sah ich in Phoenix/Arizona, als ich 16 war. Die Beatles habe ich nie gesehen, denn sie sind in Amerika nur acht- oder neunmal aufgetreten. Mit meiner ersten Band habe ich viele ihrer Songs nachgespielt. Zum Hardrock kam ich erst viel später durch The Who und The Yardbirds.
Einige Radiosender verbannten „School’s Out" aus dem Äther mit der Begründung, der Song vermittle den Schülern den Eindruck von Rebellion gegen die kindliche Erziehung. Haben Sie damals gegen die Werte und Normen der Gesellschaft rebelliert?
Nun, wir haben uns über die Gesellschaft eher lustig gemacht. Ich glaube nicht, dass wir unbedingt gegen sie waren. Aber wenn man ein Teenager ist, ist man eigentlich gegen alles. Man will ja seine Stimme und seine Identität finden. Als wir schließlich zu einer wirklich guten Rockband herangewachsen waren, brachten wir es auf die nächste Stufe, indem wir die Figur Alice Cooper erschufen, die ein fiktiver Hardrock-Bösewicht war. Das machte es lustig, denn es war eine Menge Humor im Spiel. Wenn die Leute den ersten Schock über Alice überwunden hatten, dann sahen sie, wie clever diese Figur eigentlich ist.
Die Zensur war damals sehr streng. Während Ihres Auftritts beim „Toronto Rock and Roll Revival" 1969 brachte Ihr Manager Shep Gordon ein Huhn auf die Bühne, das Sie kurzerhand in die Menge warfen, die es daraufhin in Stücke riss und die blutigen Überreste zurückschmiss. Welche Folgen hatte das für die Band in Bezug auf Ihre Auftritte?
Das Einzige, was diese Geschichte wirklich bewirkt hat, war: Sie hat Alice Cooper größer gemacht! Denn jeder liebte die Tatsache, dass das passierte. Außer dem Huhn! Es war ganz bestimmt nicht verrückt danach. Es war aber ein totaler Unfall. Ich hatte nicht erwartet, dass die Leute es in Stücke reißen würden. Am nächsten Tag stand in der Zeitung: „Alice Cooper killt Hühner!" Was natürlich nicht stimmte, aber das Ganze hat mir gezeigt, dass das Publikum nach einem Wilden verlangte. Sie hatten Lust auf einen sehr extremen Charakter. Aha – dieses Bedürfnis werde ich erfüllen! Das war der Moment, als ich Alice Cooper erfand.
Und das brachte Ihnen schließlich den ersehnten Erfolg ein?
Ich glaube, die Musik war wichtiger als der Charakter. Wenn die Leute ein Album kaufen, bekommen sie ja keine Bühnenshow. Sie erwerben es, weil sie Songs wie „I’m Eighteen" und „School’s Out" mögen. Wenn sie jetzt zu meinen Shows kommen, wollen sie diese Stücke hören und das Theater drum herum ist das Sahnehäubchen.
In den späten 1960er-Jahren lernten Sie Jimi Hendrix persönlich kennen. Haben Sie je mit ihm gejammt?
Nein. Ich habe Jimi im Haus der Psychedelic-Band The Chambers Brothers in Los Angeles kennengelernt und mich mit ihm angefreundet. Er war ein ziemlich cooler Typ. Mich kannte damals noch niemand, aber Jimi war sehr freundlich zu mir und machte mich mit Shep Gordon bekannt. Der sollte dann mein Manager werden.
Ich habe gehört, dass Gras Ihre erste Droge war, und zwar zusammen mit Jimi Hendrix. Stimmt das?
(lacht) Ja. Mit Jimi habe ich das allererste Mal Gras geraucht. Ich saß da rum, Jimi reichte mir einen Joint weiter und ich nahm einen Zug, obwohl ich so etwas noch nie getan hatte. Es war nicht dunkel oder düster, sondern das Gras ließ mich albern werden, und die Situation wurde immer lustiger. Mir kam alles komisch vor. Ich habe diese Droge nicht wirklich missbraucht, und ich habe auch später keinen Alkohol missbraucht. Mir war nicht klar, dass Alkohol für mich zu einer Medizin geworden war und nicht nur zu einem Getränk.
Inzwischen sind Sie seit 40 Jahren trocken und clean. Welche Einstellung hält Ihren kreativen Motor am Laufen?
Das Kuriose war, dass ich dem Alkohol einen großen Teil meines Erfolgs zuschrieb. Ich dachte, ich schreibe diese großartigen Songs, weil ich trinke und ab und zu high bin. Also glaubt man, eine Formel gefunden zu haben, die funktioniert. Die Wahrheit ist aber, dass ich wahrscheinlich noch mehr Platten gemacht hätte, wenn ich nicht getrunken hätte. Ich hätte mehr Nummer-eins-Hits gehabt, wäre ich nicht die ganze Zeit high gewesen. Wenn man alkohol- oder drogenabhängig ist, beschuldigt man immer die falsche Stelle. Der Alkohol hat wirklich überhaupt keine Anerkennung verdient.
Im Moment arbeiten Sie an zwei verschiedenen Rock-Alben. Ist Ihr alter Freund Bob Ezrin bei beiden wieder der Produzent?
Ja. Dies ist das Ergebnis der Covid-Sache. 18 Monate lang konnten wir nichts tun. Wir konnten nicht touren. Was soll ein Musiker also tun? Er schreibt Songs. 18 Monate lang war jeder Musiker, den ich kenne, zu Hause und hat Songs geschrieben und Demos aufgenommen. Auf diese Weise ist Material für zwei neue Alice-Cooper-Alben entstanden, die völlig unterschiedlich sind. Ich liebe es zu arbeiten. Es macht mir nichts aus, zwei Alben auf einmal aufzunehmen.
Die ursprüngliche Gruppe Alice Cooper wurde 2011 in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen. Waren Sie diesmal mit Ihrer aktuellen Tourband im Studio?
Ja. Diese Gruppe ist die beste Band, mit der ich je gearbeitet habe. Sie ist absolut umwerfend. Nita Strauss wurde im Guitar Magazine zur „Gitarristin des Jahrzehnts" gewählt. Glen Sobel gewann den Titel „Bester Schlagzeuger im Bereich Rock" im „Drum"-Magazin.
Was ist das Besondere an Nita Strauss’ Spielweise?
Ryan Roxie, mein anderer Gitarrist, ist ein begeisterter Rock’n’Roller. Er spielt wie der legendäre Randy Rhoads. Er kann alles. Aber als ich Nita in die Band holte, hatte ich eine großartige Schredderin. Mit ihr habe ich die Möglichkeit, auch Songs von Alice-Cooper-Alben wie „Constrictor" oder „Brutal Planet" live zu spielen.
Strauss sagt, dass sie durch ihren Vater eine Nachfahrin des berühmten österreichischen Komponisten Johann Strauss sei.
Sie ist es tatsächlich. Man kann ihr dazu nur gratulieren. Nita hat eine ziemlich musikalische DNA.
Mögen Sie klassische Musik?
Absolut. Wenn es um Melodien geht, kommen die Beatles der klassischen Musik sehr nahe. Aber wer hat schönere Melodien geschrieben als Beethoven, Chopin oder Brahms? In deren Musik geht es nur um Melodien. Man hört sich an, wie ihre Kompositionen aufgebaut sind und vereinfacht sie zu Rock’n’Roll. Procol Harum haben das am besten gemacht. Sie lebten von der klassischen Musik und zeigten das auch in ihren Alben. Sie waren wirklich einzigartig.
Was ist schwieriger: berühmt zu werden oder berühmt zu bleiben?
Ich glaube, dass Menschen hin und wieder fast zufällig berühmt werden können. Und dann wissen sie nicht, wie sie damit umgehen sollen. Man kann rein zufällig einen Hit haben, aber einen zweiten, dritten oder vierten Hit zu landen, ist die eigentliche Herausforderung. Es am Laufen zu halten und die Leute glauben zu lassen, dass man großartige Songs schreibt und Shows spielt, ist eine andere Sache. Wenn man einmal ein Star geworden ist, muss man die Karriere steuern und dafür sorgen, dass sie auf Dauer funktioniert.
Worauf sollte man bei einer Karriere besonders Acht geben?
Drogen, Alkohol oder die eigene Persönlichkeit stehen einem oft im Weg. Um dort zu bleiben, wo man ist, muss man sich auf Qualität konzentrieren. Lass nicht zu, dass durchschnittliche Songs da reinkommen! Spiele Qualitätsshows und gib Qualitätsinterviews! Du musst dein Niveau hochhalten, dann kannst du ewig weitermachen.