Seit Jahren verspricht die Politik, das defizitäre Pflegesystem zu erneuern. Doch passiert ist bis heute nichts. Einen möglichen Lösungsansatz verspricht das niederländische Modellprojekt namens „Buurtzorg".
Mark Adolph arbeitet seit zwölf Jahren in der Altenpflege. Vor vier Jahren kam er mit „Buurtzorg" in Kontakt und hat die Einführung dieses neuen niederländischen Pflegekonzepts in Deutschland von Anfang an begleitet. „Buurtzorg" (sprich „Bürtsorch") bedeutet so viel wie „Nachbarschaftsfürsorge". Doch Buurtzorg hat mehr Potenzial: Es ist ein Pflegemodell, das Wegbereiter sein könnte, um das schlecht funktionierende ambulante Altenpflegesystem in Deutschland zu erneuern. Das Modell Buurtzorg wurde 2007 von Jos de Blok ins Leben gerufen – der Niederländer ist selbst von Beruf Pflegekraft. Zentrales Motto des Modells: „Menschlichkeit vor Bürokratie". Der zu pflegende Mensch soll wieder im Mittelpunkt der Pflegearbeit stehen. Das vielleicht wichtigste Ziel von Buurtzorg ist es, die Eigenständigkeit des Patienten oder Klienten zu fördern und ihn auf dem Weg zur Unabhängigkeit zu unterstützen. Im Idealfall arbeiteten Klient und Pflegefachkraft so zusammen, dass der Patient seine Selbstständigkeit so gut es geht bewahrt oder gar verbessert. Mark Adolph erklärt, wie das im Arbeitsalltag umgesetzt wird. Zum Beispiel, wenn eine sogenannte „Ganzwaschung" ansteht: „In unserem System gehe ich mit dem Patienten in seinem Tempo ans Waschbecken. Lasse ihn selbst machen, was er noch kann. Im konventionellen System nehme ich häufiger – weil ich Zeitdruck habe – den Waschlappen und lege los und mache eben auch die Dinge, die der Patient noch selbst könnte." Burtzoorg-Filialen gibt es derzeit unter anderem in München und in Münster, wo das Burtzoorg-Team von Mark Adolph angesiedelt ist und 38 Patienten betreut. Es liegt an ihm und seinen etwa 35 Kolleginnen und Kollegen, die neuen Ideen aus den Niederlanden umzusetzen. Mark Adolphs Begeisterung für Buurtzorg ist auch nach vier Jahren noch groß: „Als Pfleger gehe ich jetzt nicht mehr schnell bei einem Patienten rein und schnell wieder raus. Bei Buurtzorg können wir uns selbst so strukturieren, dass ich länger bei den Patienten sein kann, die mich auch tatsächlich länger benötigen. Buurtzorg ist eben keine Aktiengesellschaft."
Menschlichkeit vor Bürokratie
Bei Buurtzorg sollen nicht nur die Patienten selbstständiger und glücklicher werden, sondern auch das Pflegepersonal. Gearbeitet wird ganz ohne Chefin oder Chef. Die Pflegearbeit wird in selbstverwalteten Teams organisiert. Alle Mitarbeiter haben gleichberechtigtes Mitspracherecht und gleiche Pflichten. Gesetzlich ist eine Pflegedienstleitung zwar vorgeschrieben, trotzdem bleibt die Organisationsstruktur hierarchiefrei. Verwaltung und Organisation werden von den Teammitgliedern übernommen: Dazu gehört, die Arbeitszeit und den Arbeitsumfang zu planen und Urlaube zu terminieren. Neben den Pflegeteams gibt es – alle Standorte zusammengerechnet – zwei Angestellte ohne Patientenkontakt, die für die Abrechnung der Kunden und Mitarbeiter verantwortlich sind. Mark Adolph und sein Team stellen das Patienten- und Patientinnenwohl in den Mittelpunkt. Das kann aber nur funktionieren, weil Buurtzorg mit den Pflegekassen ausgehandelt hat, nicht nach dem komplizierten Leistungsschlüssel abzurechnen, sondern nach einem einheitlichen Stundensatz. In der Pilotphase liegt die Stundenvergütung der Pflegekasse bei 44,40 Euro. Das, sagt Mark Adolph, sei langfristig viel zu knapp bemessen. Denn davon müssen Fahrzeiten, Pkw, sonstige Kosten des Teams und auch Urlaube bezahlt werden. In den Niederlanden liegt der Stundensatz bei 63 Euro.
In diesen sogenannten „Zeitmodulen" sieht Mark Adolph den prägnantesten Unterschied zu dem derzeit existierenden Abrechnungsmodell im Pflegebereich. „Es geht bei uns darum, was der Patient braucht und wie ich ihm helfen kann. Nicht darum, was ich als Pfleger brauche, damit ich das abrechnen kann". Der Bedarf an Pflegekräften wird in Deutschland weiter zunehmen: Denn die geburtenstarken Jahrgänge kommen zunehmend in das Alter, in dem sie potenziell Pflege benötigen. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Erwerbstätigen. Beides erschwert die Versorgung mit Pflegedienstleistungen. Nach einer Untersuchung der Schweizer Consultingfirma Prognos AG, die private und öffentliche Auftraggeber zu wirtschaftlichen Themen berät, wird der Bedarf an Pflegekräften bis 2030 noch mal um 26 Prozent steigen. Schon 2020 fehlten bundesweit 378.000 Pflegepersonen. Laut einer Datenerhebung des Betriebskrankenkassen-Dachverbands (BKK) von 2017 steigt ab dem 80. Lebensjahr die Pflegewahrscheinlichkeit rapide an, ab dem 85. Lebensjahr liegt sie für Frauen, deren Lebenserwartung höher ist und sie daher anteilig den Großteil der über 85-Jährigen stellen, bei knapp 50 Prozent. Es ist davon auszugehen, dass auch die Mehrbelastung des Pflegepersonals durch die Corona-Krise diese Zahl weiter nach oben treibt. Personalmangel erhöht die Frustration und Demotivation aufseiten des Pflegepersonals zusätzlich. Damit steigt wiederum die Unzufriedenheit der Patienten und ihrer Angehörigen. Unter diesen negativen Vorzeichen ist es dringend nötig, neue Arbeits- und Organisationsmodelle für die ambulante Pflege zu erproben. Deshalb wird das Modell Buurtzorg derzeit auch im Kreis Steinfurt in Nordrhein-Westfalen bei zwei Pflegediensten eingeführt. Ob Buurtzorg tatsächlich als Lösung für die bestehenden Probleme in der ambulanten Altenpflege taugt, will eine begleitende wissenschaftliche Studie der Fachhochschule (FH) Münster mit dem Titel „Evaluation eines Modellprojekts zur Umsetzung des niederländischen Buurtzorg-Modells in Deutschland" herausfinden. Die Studie wird bis Dezember 2022 gefördert. Für Studienleiter Professor Rüdiger Ostermann und seine Kolleginnen und Kollegen stehen drei Aspekte im Fokus: Wie wirkt sich Buurtzorg auf die Pfleger und wie auf die Patienten aus? Was sind die Rahmenbedingungen? Bereits jetzt sehen die Forscher: „Einen hohen Wert haben die Präventionsarbeit und die Förderung der Selbstpflege. Zentral ist dabei der Aufbau eines breiten lokalen Unterstützungsnetzwerkes der Pflegekräfte rund um ihre Klienten unter Einbeziehung von Sozialarbeitern und Ärzten." Angehörige sollen ebenso einbezogen werden. Und manchmal sogar Nachbarn.
Bis 2030 steigt der Bedarf um 26 Prozent
Im herkömmlichen Pflegemodell in Deutschland hat jede Leistung ein Modul, einen Preis, eine Zeit. Das führt oft zu einem „Abarbeiten". Kritiker fürchten, dass die Abrechnung nach Stunden – wie es im Buurtzorg-Modell geschieht – zu teuer werden könnte. Mark Adolph glaubt, dass die angestrebte verbesserte Selbstständigkeit beim Patienten langfristig die Pflegekosten senken wird.
Wie anders die Buurtzorg-Philosophie tatsächlich ist, beschreibt Mark Adolph am Beispiel der Medikamentengabe, die für viele ältere Patienten problematisch ist: Im konventionellen Pflegedienst verabreicht der Pfleger dem Patienten die Medikamente unter Zeitdruck, in wenigen dafür vorgesehenen Minuten. Bei Buurtzorg kümmert man sich um das Warum. Was ist der Grund, dass es nicht klappt mit der Einnahme? Auch wenn diese Ursachenforschung länger dauert, führt sie oft dazu, dass der Patient zukünftig wieder selbstständiger ist, seine Tabletten ohne Hilfe nimmt und den Pflegedienst für die Medikamenteneinnahme nicht mehr benötigt. „Das mögen Kleinigkeiten sein. Aber als Pfleger ist es mein Ziel, den Patienten, den ich in einigen Fällen jeden Tag sehe, nicht abhängiger von mir zu machen, sondern seine Selbstständigkeit zu erhalten und zu fördern."
Für die Zukunft wünscht sich der examinierte und engagierte Altenpfleger deutlichere Anstrengungen der Politik, den Pflegeberuf attraktiver zu machen. Eine lukrative Bezahlung wäre ein Anfang. Weil im Buurtzorg-System die Pflegenden maximal selbstbestimmt und hierarchiefrei arbeiten, ist sich Mark sicher, dass solche Arbeitsbedingungen es ihm und seinen Kollegen leichter machen, die Freude an ihrem Job wiederzuentdecken. „Im Buurtzorg-System bin ich beim Patienten, da will ich auch bleiben. Und dann bekomme ich auch von ihm die Wertschätzung, die ich brauche, um den Beruf so auszuüben, wie ich mir das vorstelle." Als Pfleger will er selbst entscheiden – und nicht die Pflegeverordnung – was ein Klient benötigt und wann. Spricht Mark Adolph über den Status quo der konventionellen Altenpflege und ihre vielschichtigen Probleme, kann man seine Frustration fast greifen: „Die Politik will schon lange was machen, aber es kommt nix." Mark Adolphs Wunsch, dass das Buurtzorg-Modell in Deutschland dauerhaft eingeführt wird und so den dringend benötigten Reformschub bringt, könnte sich bald erfüllen. Eine gute Voraussetzung dafür wäre, dass die wissenschaftliche Bewertung des Buurtzorg-Modells durch die FH Münster rundum positiv ausfällt.
Begleitende wissenschaftliche Studie
Einen Knackpunkt sieht Mark Adolph in den rechtlichen Rahmenbedingungen. Ohne grundlegende Änderungen bei den Krankenkassen ist eine großflächige Pflegesystemumstellung im ambulanten Bereich wohl unmöglich. Noch schwieriger wäre das neue Konzept in stationären Pflegeheimen durchsetzbar: „Die Komplexität der Bürokratie bei uns würde das nicht zulassen. In Heimen gibt es sehr hohe Anforderungen an das Qualitätsmanagement. Das schafft eine verwaltungstechnische Struktur, deren Bewältigung man mit unseren kleinen autarken Teams nicht leisten könnte", mahnt Mark. Aber, wenn sich Buurtzorg hierzulande zumindest als Vorbild für die ambulante Pflege durchsetzt, wäre aus Sicht von Mark Adolph und seinen Kollegen schon ein erster wichtiger Schritt gemacht. Der Altenpfleger hofft auf solche tiefgreifenden Veränderungen. Er hofft auch, dass die politischen Verantwortlichen ein – wie er das nennt – „Abspecken der Bürokratie" in der gesamten Altenpflege, sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich, kräftig vorantreiben. Denn nur dann könnte eine schnelle Umsetzung der Ideen aus den Niederlanden auch bei uns bald Realität werden. Für den nötigen Systemwechsel in der Altenpflege in Deutschland kann das aber nur ein Anfang sein.