In einer Hauruck-Aktion hatte der internationale Schwimm-Weltverband Fina Anfang Februar die eigentlich auf 2023 verschobenen Titelkämpfe in den aktuellen Sommer-Terminkalender hineingeschoben.
Völlig unerwartet muss Deutschlands schwimmender Ausnahmesportler Florian Wellbrock seine beiden 2019 im südkoreanischen Gwangju gewonnenen WM-Titel über 1.500 Meter im Becken und zehn Kilometer im Freiwasser doch schon diesen Sommer verteidigen. Drei Jahre sind fraglos eine lange Zeit.
Aber coronabedingt mussten die eigentlich alle zwei Jahre jeweils in den ungeraden Jahren stattfindenden Weltmeisterschaften des internationalen Schwimmverbandes Fina mit den Disziplinen Beckenschwimmen, Freiwasserschwimmen, Synchronschwimmen, Wasserball und Wasserspringen immer wieder verschoben werden. Eigentlich hätten die 19. Titelkämpfe vom 16. Juli bis zum 1. August 2021 im japanischen Fukuoka über die Bühne gehen sollen. Was aber durch die einjährige Verschiebung der Olympischen Spiele von Tokio in den Sommer 2021 unmöglich gemacht worden war. Als Ersatztermin für die WM war daher schon im Mai 2020 der Mai 2022 in Fukuoka festgesetzt worden. Allerdings machte der zuständige Bürgermeister der japanischen Stadt der Fina im Januar 2022 wegen der sich ausbreitenden Omikron-Variante einen Strich durch die Rechnung. Was eine abermalige Verschiebung des Events in den Juli 2023 zur Folge hatte. In der Annahme, dass dieses Jahr also keine WM stattfinden würde, hatte beispielsweise der Deutsche Schwimm-Verband (DSV) seine Saisonplanung komplett neu konzipieren müssen und dabei Nominierungs-Wettkämpfe abgesagt und Trainingslager verschoben.
Schwierige Planung für den DSV
Doch die Fina war wieder für eine Überraschung gut. Denn nur wenige Tage nach der Absage der Großveranstaltung für das aktuelle Jahr sorgte der Weltverband Anfang Februar 2022 mit der Ankündigung einer „außerordentlichen" WM in Budapest vom 18. Juni bis zum 3. Juli 2022 für Staunen und ein riesiges Terminwirrwarr.
Das Geld dürfte dabei eine wesentliche Rolle gespielt haben, schließlich kann sich die Fina durch die kurzfristige WM-Vergabe an den Lieblingsgastgeber Budapest die Kassen füllen. Ungarns Hauptstadt in dem wohl schwimmsportfreundlichsten Land des Globus gilt inzwischen auch dank des unbürokratisch agierenden Ministerpräsidenten Viktor Orbán als so etwas wie eine Geheimwaffe der Fina, wenn es um eine schnelle Ausweichlösung geht. Schon 2017 war Budapest kurzfristig für das mexikanische Guadalajara eingesprungen. Auch 2027 wird hier wieder um die WM-Medaillen gekämpft werden, Europameisterschaften haben ebenfalls schon fünfmal in Budapest stattgefunden. Für den DSV ergeben sich durch die WM erhebliche Terminüberschneidungen mit den nationalen Meisterschaften, die im Rahmen der „Finals 2022" Ende Juni für die Beckenschwimmer und Wasserspringer in Berlin sowie für die Freiwasserschwimmer in Mölln angesetzt sind. Auch das für Juni 2022 in Belgrad terminierte Finalturnier der Wasserball-Champions League mit dem deutschen Vertreter Waspo 98 Hannover muss zwangsläufig verschoben werden. Und nicht zuletzt ist der neue WM-Termin ziemlich nah an die im August anstehenden Schwimm-Europameisterschaften in Rom herangerückt worden. Zur Teilnahme an diesem kontinentalen Event hat der DSV den Start bei den nationalen Titelkämpfen als Pflichtaufgabe vorgegeben, was für einige der in Budapest tätigen Athleten unmöglich sein dürfte.
„Dieses Wirrwarr ist nicht gut für unseren Sport", so Bundestrainer Bernd Berkhahn, „Der WM-Termin im Mai war schon schwierig mit der EM im August zu vereinbaren, jetzt wird es noch schwieriger." Florian Wellbrock zeigte sich hingegen froh darüber, „dass die WM nun doch dieses Jahr stattfindet. Und mit Budapest findet sie sogar ‚in der Nähe‘ statt." Eine Meinung, die keineswegs von allen internationalen Top-Athleten geteilt wird. Deshalb bleiben einige Spitzensportler Budapest fern, beispielsweise die australische Doppel-Olympiasiegerin von Tokio, Ariarne Titmus, die jüngst einen neuen Weltrekord über 400 Meter Freistil aufgestellt hatte, oder ihre Landsfrau Emma McKeon, die in Tokio immerhin sieben Medaillen gewonnen hatte. Damit werden sie im Rahmen der 74 WM-Einzelentscheidungen sogar auf ihren möglichen Anteil an den neuen Rekordpreisgeldern in Gesamthöhe von 5,72 Millionen Dollar (für die Goldmedaille werden 20.000 Dollar ausgeschüttet, für Silber 15.000 Dollar, für Bronze 10.000 Dollar) und dem Bonus von 50.000 Dollar für die Aufstellung eines neuen Weltrekordes verzichten. Eine Extrembelastung für die Athleten dürfte auch die ungewöhnliche Häufung von drei Schwimm-Weltmeisterschaften innerhalb von 19 Monaten in Budapest (2022), Fukuoka (2023) und Doha (2024) werden, zumal zusätzlich ein halbes Jahr später auch noch die Olympischen Spiele in Paris anstehen werden. Für die 2025 ursprünglich im russischen Kasan geplante WM könnte dann ja wieder Budapest einspringen. „Mit vier Weltmeisterschaften und den Olympische Spielen in Paris erhöhen wir in den nächsten vier Jahren die Wettkampfmöglichkeiten auf ein Maximum", so Fina-Präsident Husain Al-Musallam.
Extrembelastung für die Athleten
Beckenschwimmen: Die Beckenschwimmer machen diesmal den Auftakt der WM, die Athleten nehmen vom 18. bis 25. Juni die Jagd auf die Medaillen in Angriff. Das DSV-Team ist mit gerade mal elf Aktiven historisch klein gehalten. „Unser WM-Team ist zahlenmäßig zwar etwas kleiner als in den vorherigen Jahren", so DSV-Leistungssportdirektor Christian Hansmann, „aber trotzdem nicht weniger schlagkräftig." Im Rahmen der Quali-Phase war es nur neun Schwimmern gelungen, die WM-Normzeiten zu knacken. Bei den deutschen Herren steht natürlich Florian Wellbrock im Mittelpunkt, der in Tokio die 21 Jahre dauernde deutsche Männer-Beckenschwimmer-Medaillen-Durststrecke überwunden hatte und in Budapest über 800 und 1.500 Meter Freistil um die Titel mitkämpfen wird. Die neue DSV-Stärke im männlichen Mittel- und Langstreckenbereich wird durch den geradezu kometenhaften Aufstieg von Lukas Märtens, Jahrgang 2001, zementiert, der in Magdeburg von der bärenstarken Trainingsgruppe unter Leitung von Bernd Berkhahn profitiert, wo er sich zuletzt mit seinen Landsleuten Florian Wellbrock, Rob Muffels, Isabel Gose, Celine Rieder und Sarah Wellbrock sowie ausländischen Stars wie dem ukrainischen 1.500-Meter-Tokio-Silbermedaillengewinner Mykhailo Romanchuk oder der Niederländerin Sharon van Rouwendaal messen konnte. Im Frühjahr 2022 konnte er gleich über drei Strecken – 200, 400 und 1.500 Meter Freistil – Jahresweltbestzeiten aufstellen. Daneben wird er in Budapest auch noch über 800 Meter Freistil an den Start gehen und sich damit wie über die 1.500 Meter womöglich zu einem der Hauptkonkurrenten von Florian Wellbrock im Kampf um die Medaillen machen können. Erfreulich ist auch die Leistungssteigerung von Rafael Miroslaw, von dem man allerdings über 100 und 200 Meter Freistil keinen Podiumsplatz erwarten darf. Gleiches dürfte für Henning Mühlleitner über die 400 Meter Freistil gelten.
Während die deutschen Frauen enttäuschender Weise die Qualifikation für die Staffelwettbewerbe verpasst haben, können die Herren über viermal 100 Meter Lagen – mit den dafür nominierten Athleten Ole Braunschweig, Lucas Matzerath und Eric Friese – sowie viermal 200 Meter Freistil – Josha Salchow komplettiert das Quartett – antreten. Um die viermal 100 Meter Mixed-Lagen-Staffel an den Start bringen zu können, wurde die Schmetterling-Spezialistin Angelina Köhler zusätzlich nominiert. Bei den DSV-Frauen hat sich Sarah Wellbrock, die in Tokio die Bronzemedaille über 1.500 Meter Freistil gewonnen hatte, wegen ihres Jura-Staatsexamens eine WM-Auszeit genommen.
Von daher ruhen alle deutschen Hoffnungen auf der in den USA studierenden Anna Elendt, Jahrgang 2001, die jüngst auf ihrer Paradestrecke, 100 Meter Brust, in die absolute Welt-Elite vorgedrungen ist. Auch über 50 Meter und 200 Meter Brust hat sie die deutschen Rekorde deutlich verbessern können. Isabel Gose wird über 400 und 800 Meter Freistil an den Start gehen.
Was das internationale Teilnehmerfeld angeht, so wird bei den Herren der ewige britische Brust-Dominator Adam Peaty, der seit 2014 bei internationalen Großveranstaltungen ungeschlagen ist, seine Titel wegen einer Fußverletzung nicht verteidigen können. Aber es sind genügend Favoriten am Start, wie die Amerikaner Caeleb Dressel, 50 und 100 Meter Freistil , 50 und 100 Meter Schmetterling, und Chase Kalisz, 200 und 400 Meter Lagen, der Brite Duncan Scott – stark vor allem über 200 und 400 Meter Lagen – oder die beiden Australier Kyle Chalmers, Paradestrecke 100 Meter Freistil, und Zac Stubblety-Cook, der frischgebackene Weltrekordhalter über 200 Meter Brust. Bei den Damen wird wohl US-Superstar Katie Ledecky ihre Medaillensammlung im besten Schwimmalter von 25 Jahren weiter ausbauen können (Start über 200, 400, 800 und 1.500 Meter Freistil). Auf allen Bruststrecken wird der Weg zum Gold wohl nur über die Südafrikanerin Tatjana Schoenmaker führen können. Die Rückenwettbewerbe werden wahrscheinlich ganz im Zeichen der Australierin Kaylee McKeown stehen.
Schoenmaker das Maß aller Dinge
Freiwasserschwimmen: Über die Zehn-Kilometer-Strecke möchte Florian Wellbrock natürlich seinen Titel verteidigen. Auch über die fünf Kilometer zählt er nach seinem Quali-Sieg im spanischen Banyoles zu den Favoriten. Niklas Frach hat sich in beiden Disziplinen den zweiten deutschen Startplatz gesichert. Bei den Frauen wird die Würzburgerin Leonie Beck als Olympia-Fünfte von Tokio über die zehn Kilometer um die Medaillen mitkämpfen können. Ihr zur Seite wird Lea Boy in beiden Disziplinen als zweite deutsche Teilnehmerin stehen. Auch in den beiden Staffel-Wettbewerben ist mit den DSV-Schwimmern zu rechnen.
Synchronschwimmen: Durch die Ausladung des russischen Teams, das bei der letzten WM neun von zehn Titeln errungen hatte, werden im Kunstschwimmen die Karten ganz neu gemischt. Für den DSV gehen Marlene Boyer und Michelle Zimmer an den Start – gemeinsam in den Wettbewerben Technische Kür und Freie Kür. Boyer wird zusätzlich auch an den beiden Solo-Wettbewerben teilnehmen.
Wasserspringen: Nach dem Karriereende von Patrick Hausding ruhen die Hoffnungen im zwölfköpfigen DSV-Team vor allem auf den drei Olympia-Medaillengewinnern Tina Punzel, die gleich in vier Disziplinen starten wird, Lena Hentschel und Lars Rüdiger. „Unser erklärtes Ziel ist es", so Chef-Bundestrainer Lutz Buschkow, „dass wir weiterhin um die Medaillen mitspringen. In Europa gehören wir zu den führenden Nationen."
Wasserball: Das deutsche Männer-Team unter dem neuen, aus Montenegro stammenden Bundestrainer Petar Porobic profitierte als Nachrücker vom Ausschluss Russlands. Die deutschen Frauen konnten sich nicht qualifizieren. Die DSV-Auswahl hat es in ihrer Vorrunden-Gruppe, die fern von Budapest in Debrecen spielt, allerdings mit schweren Brocken wie dem Olympia-Zweiten Griechenland und dem zweimaligen Weltmeister Kroatien zu tun. Im Fall eines Weiterkommens als Zweit- oder Drittplatzierter droht dem Team im Achtelfinale wahrscheinlich ein Duell mit dem starken Gastgeber Ungarn oder dem zweimaligen Weltliga-Sieger Montenegro.