Die Außenministerin sagt Ja, der Kanzler Jein – Risse im Ampel-Narrativ
Die Ampel-Koalition ist derzeit bemüht, sich als politische Einheit zu verkaufen. Zwischen die Akteure der Parteien passe kein Blatt Papier, lautet das Regierungs-Narrativ. Rot, Grün und Gelb seien ein Team, das in schwieriger Zeit an einem Strang ziehe. Der Sozialdemokrat Olaf Scholz stehe als Moderator an der Spitze und nicht als Basta-Chef wie einst Gerhard Schröder, heißt der Polit-Spin aus dem Kanzleramt.
Auch die Grünen unterstützen diese Linie. Doch alle harmonisierenden Beschwörungsformeln können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Bild der Eintracht beim Thema Ukraine-Krieg Risse aufweist. Insbesondere zwischen SPD und Grünen gibt es Unterschiede, die freilich im Sinne der Koalitions-Räson verbalkosmetisch übertüncht werden.
Bundeskanzler Olaf Scholz sagte in seiner Regierungserklärung am 19. Mai den Schlüsselsatz: „Uns alle eint ein Ziel: Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen. Die Ukraine muss bestehen." Scholz formuliert in dieser Frage äußerst defensiv. Er vermeidet die Forderung, dass Moskau seinen Eroberungs-Feldzug verlieren und Kiew seinen Verteidigungskampf gewinnen müsse.
Wenn der Kanzler betont, dass die Ukraine „bestehen" sollte, lässt er offen, welche Ukraine er meint. Das Land vor der Krim-Annexion 2014, also in den international anerkannten Grenzen seit der Unabhängigkeit 1991? Das Land ohne die Krim, aber mit dem Donbass? Das Land ohne Krim und Donbass? Oder ein Land, das noch mehr Gebiete an Russland abtritt? An anderer Stelle unterstreicht Scholz, dass Russland der Ukraine keinen „Diktatfrieden" aufoktroyieren dürfe. Anders ausgedrückt: „Über die Ukraine entscheiden die Ukrainerinnen und Ukrainer, und sonst niemand."
Nimmt man alle Äußerungen zusammen, könnte der Kanzler durchaus so interpretiert werden: Ein Abkommen zwischen Kiew und Moskau wäre für den deutschen Regierungschef akzeptabel, selbst wenn die Ukraine schwere territoriale Verluste zu verkraften hätte. Hauptsache, das Land „besteht" und Hauptsache, der Krieg wird gestoppt.
Auf den ersten Blick stellt sich Außenministerin Annalena Baerbock hinter Scholz – aber nur auf den ersten Blick. „Ich sage, das stimmt, was der Kanzler sagt", erklärt die Grünen-Politikerin in der TV-Talk-Show „Markus Lanz". Um ihn im nächsten Satz indirekt zu widersprechen. „Natürlich darf Russland diesen Krieg nicht gewinnen, sondern muss ihn strategisch verlieren." Russland breche mit dem internationalen Völkerrecht. „Sie wollen den Frieden in der Ukraine zerstören. Deswegen darf die Ukraine auf keinen Fall verlieren – das heißt: Die Ukraine muss gewinnen."
Baerbock verlangt mit einer Klarheit, die Scholz verweigert: Die Ukraine müsse den Krieg gegen Russland gewinnen. Noch zugespitzter bringt es der Grünen-Chef Omid Nouripour auf die Formel: „Die Ukrainer müssen ihre Souveränität, ihre territoriale Integrität und ihre Freiheit zurückerlangen. Wir werden keinen Quadratzentimeter okkupierten ukrainischen Bodens anerkennen."
Der Kanzler bekräftigt zwar immer wieder mit hochtouriger Rhetorik seine Unterstützung für die Ukraine. Bei der Lieferung schwerer Waffen hinkt Deutschland allerdings permanent hinterher. In der Generaldebatte des Bundestages am 1. Juni gab Scholz stolz die Verschickung des hochmodernen Flugabwehrsystems Iris-T nach Kiew bekannt.
Doch bis die Teile dort eintreffen, vergehen noch Monate. Die ukrainischen Truppen, die im Donbass einer Übermacht russischer Kräfte gegenüberstehen, verlieren wertvolle Zeit. Auch der bereits Ende April versprochene Flugabwehrpanzer Gepard kommt erst im Juli beziehungsweise August in der Ukraine an. Warum immer wieder diese Verzögerungen, während sich der brutale russische Angriffskrieg tief in ukrainisches Territorium frisst? Der Kanzler ist stark in der Ankündigung und schwach in der Umsetzung. Auch hier machen die Grünen seit Monaten wesentlich mehr Tempo als die SPD.
Scholz’ Stop-and-go-Politik hat ihren Widerpart im schnörkellosen Kurs von Außenministerin Baerbock. Sie bringt die deutsche und europäische Position im Ukraine-Krieg am klarsten auf den Punkt: „Solange die Ukraine nicht sicher ist, ist auch Europa nicht sicher. Wenn Putin in der Ukraine nicht gestoppt wird, droht immer neue Aggression." In Warschau und im Baltikum weiß man das schon lange.