Rund 200 Jahre war Schweden bündnisfrei, auch Finnland war lange Zeit militärisch neutral. Nun haben beide Länder die Mitgliedschaft in der Nato beantragt. Doch zuvor müssen sie den türkischen Präsidenten Erdogan umstimmen, der den Beitritt blockiert.
Die Ereignisse rund um den Krieg in der Ukraine bieten manch einem Regierungschef eine Steilvorlage zum Taktieren. So etwa für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Nachdem Schweden und Finnland am 18. Mai ihren Antrag für eine Nato-Mitgliedschaft eingereicht haben, stellte sich die Türkei als Bündnismitglied quer. Erdogan begründete seine Haltung mit der angeblichen Unterstützung der beiden skandinavischen Länder für die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und die Kurdenmiliz YPG in Syrien. Außerdem kritisierte er, dass auch Nato-Staaten wegen des türkischen Vorgehens gegen diese Gruppierungen Lieferungen von Rüstungsgütern eingeschränkt hätten. Finnland versucht es nun mit einer „Charme-Offensive", wie die „Financial Times" (FT) schrieb. Um die Türkei für Finnlands Nato-Antrag zu gewinnen, hat Helsinki Ankara zugesichert, dass man darauf bestehen werde, hart gegen den Terrorismus vorzugehen. Zudem hat das Land vorgeschlagen, türkische Drohnen zu kaufen und Waffenverkaufsregeln zu lockern.
Der Umgang mit der türkischen Blockadehaltung und andere Fragen rund um den Beitrittswunsch der beiden skandinavischen Länder waren Anfang Juni Thema einer Podiumsdiskussion mit der finnischen Botschafterin Anne Sipiläinen und ihrem schwedischen Kollegen Per Thöresson, sowie Anja Dahlmann, Leiterin des Berliner Büros des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) der Universität Hamburg sowie der Bundestagsabgeordneten Merle Spellerberg. Die Grünen-Politikerin ist Mitglied im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages und der Parlamentarischen Versammlung der Nato.
Spellerberg etwa hält Erdogans Forderungen bezüglich der PKK für vorgeschoben und findet, dass der Ministerpräsident aus „machtpolitischem Kalkül" mit den „legitimen Sicherheitsinteressen von anderen Staaten und damit auch Menschen" spiele. Die IFSH-Politologin Anja Dahlmann sieht das ähnlich: „Erdogan hat die Situation genutzt, um seine Position zu stärken, um die es ihm auch auch innenpolitisch geht", meint die Forscherin in der Runde. Die finnische Botschafterin gibt sich in Hinblick auf die Causa Erdogan naturgemäß diplomatisch. „Jedes Mitglied hat das Recht, Fragen an die Kandidaten zu stellen." Man spreche in Ankara und Brüssel mit den türkischen Kollegen über alle Einzelheiten, natürlich im Rahmen der „Verpflichtungen betreffend Menschenrechten und Rechtstaatlichkeit", so Sipiläinen. Grundsätzlich finde sie es gut, dass die Türkei Nato-Mitglied ist: „Die strategische Lage der Türkei ist sehr wichtig für das Ganze." Ähnlich unaufgeregt gibt sich auch der schwedische Botschafter: „Wir finden, dass der Dialog recht konstruktiv ist und sind guter Hoffnung, diesen Knoten zu lösen."
Mit dem Beitrittswunsch der beiden skandinavischen Regierungen entscheiden sich die zwei nordischen Länder für einen historischen Paradigmenwechsel. Jahrzehntelang, in Schwedens Fall sogar jahrhundertelang, galten sie als neutral. Dennoch stehen beide Staaten der Militärallianz sehr nahe. Sie haben an diversen Militärübungen teilgenommen. So übten sie zum Beispiel 2018 mit beim Nato-Großmanöver „Trident Juncture" in Norwegen.
„Wir waren zwar nicht neutral im Sinne wie zum Beispiel Österreich oder die Schweiz", sagt Schwedens Botschafter. „Sondern wir waren bündnisfrei, um uns im Kriegsfall neutral erklären zu können." Die Zäsur brachte der Krieg in der Ukraine. „Bei uns ist die ‚Zeitenwende‘ mindestens so groß wie in Deutschland, fast noch größer." 200 Jahre Bündnisfreiheit „einfach so wegzuwerfen" und der Nato beizutreten, sei ein „Riesenschritt". Aber die Welt nach dem 24. Februar sehe anders aus nach Putins Angriffskrieg." Denn: „Wir wissen jetzt, wozu Putin fähig ist", so Thöresson.
Die Ostseeküste wird Nato-Gebiet
Die Nato profitiere sehr vom Beitritt der beiden nordischen Länder, sowohl militärisch als auch geostrategisch, so die Politologin Dahlmann. Der Zugang zu den baltischen Ländern sei jetzt offen, sie ließen sich so auch leichter verteidigen. Ein weiterer Punkt sei die Verstärkung der Luftwaffe etwa durch den Kampfjet F-35.
Der Weg zur Nato war lang in Schweden: In Stockholm trat in den vergangenen Monaten mehrfach eine parlamentarische Kommission zusammen, um den Beitritt zu erörtern. Die sozialdemokratische Partei habe zunächst sehr mit sich ringen müssen, erläutert der schwedische Botschafter. „Am Ende waren sich sechs von acht Parteien im Schwedischen Reichstag einig, diesen Weg zu gehen." Dagegen waren die Linkspartei und die Grünen. Eine ähnliche Stimmungslage gibt es auch in der schwedischen Bevölkerung: „Knapp 60 Prozent befürworten einen Beitritt, aber wenn Finnland eintritt, steigt die Zustimmung noch mehr", so Thöresson. Und: „Ganz alleine im Norden zu stehen wäre keine Alternative, das wäre eine unglaubliche Investition in unsere Verteidigung." Auch könne man dann „nicht so eng üben und zusammenarbeiten mit Finnland als unserem engsten Partner", erläutert er. Kooperationspotenzial sieht der Schwede auch im Ostseeraum, der für die Nato schon jetzt eine große Rolle spielt. Durch den Beitritt wären über 90 Prozent der Küste Nato-Gebiet. Der Website Global Fire Power zufolge, welche die militärische Stärke von Staaten bewertet, liegt Schweden auf Rang 25. Damit liegt das Land zwar hinter Frankreich (7) und Großbritannien (8), aber vor vielen anderen Nato-Mitgliedern wie etwa Norwegen (33), den Niederlanden (37) oder Finnland, das auf Platz 53 steht. Tatsächlich begann in Schweden die militärische Wiederaufrüstung bereits im Jahr 2014. In dem Jahr habe man auch „die Wehrpflicht wieder eingeführt", so der 59-Jährige.
Großen Rückhalt gibt es mittlerweile unter der finnischen Bevölkerung. Die Zustimmung sei mit Kriegsbeginn „dramatisch gestiegen", sagt die Botschafterin. Vor dem Krieg war nur jeder vierte bis fünfte Finne für einen Beitritt, inzwischen sind es „fast 80 Prozent der Bevölkerung", so Sipiläinen. Kein Wunder, denn Finnland teilt sich 1300 Kilometer Landgrenze mit dem russischen Nachbarland. Mitte Mai hat sich das finnische Parlament mit großer Mehrheit von 188 zu acht Stimmen für einen Nato-Mitgliedsantrag ausgesprochen. Zudem habe das Land eine "sehr starke Reservistenarmee", im Kriegsfall habe man 280.000 Soldatinnen und Soldaten unter Waffen.
Dass die Erweiterung der Nato um die beiden skandinavischen Nationen eine potenzielle Eskalation nach sich ziehen könnte, befürchtet an diesem Nachmittag in der Runde niemand. „Was wir möglicherweise sehen könnten, sind hybride Reaktionen wie kleinere Grenzverletzungen und Cyberangriffe", so Politologin Dahlmann. Das werde weder Finnland noch Schweden dazu bringen, ihren Antrag zurückzuziehen. Grünen-Politikerin Spellerberg zufolge hat es schon immer mal russische Luftraumverletzungen auf skandinavischem Gebiet gegeben.
Dahlmann hält militärische Angriffe für „nicht sehr wahrscheinlich". Russland habe nicht die Kapazitäten dafür und sei auf die Ukraine konzentriert. Aber es sei eine Atommacht. Und selbst wenn ein atomarer Schlag nicht sehr wahrscheinlich ist – das Riskio sei hoch. Finnlands Botschafterin will den Begriff der Eskalation erst gar nicht verwenden: „Wir sollten nicht über Eskalation reden", meint sie. „Das ist das Narrativ Putins. Es gibt keine gegenseitige Eskalation." Es gebe einen „furchtbaren Angriffskrieg Russlands mitten in Europa".