Abseits der Präsentationen der berühmten Modehäuser gab es auf der jüngsten Mailänder Modewoche eine ganze Reihe interessanter Neueinsteiger. Die sollte man sich schon mal merken.
Bei der Berichterstattung über die Mailänder Modewoche für den Winter 2022/2023 wurde das Hauptaugenmerk natürlich wieder mal auf die Großkopferten von Prada bis Armani gerichtet. Nicht zu vergessen die beiden Debüt-Kollektionen des neuen Bottega-Veneta-Kreativchefs Matthieu Blazy und von Glenn Martens, der dem Traditionshaus Diesel zu einem aufsehenerregenden Comeback verholfen hat. Bei all dem üblichen medialen Tamtam um die bekannten Labels wurde kaum zur Kenntnis genommen, dass diesmal in der Lombardei-Metropole eine ganze Reihe interessanter Newcomer am Start war. Immerhin konnte die 26-jährige südkoreanische Designerin Sohee Park etwas Aufmerksamkeit erregen, weil sie von Domenico Dolce und Stefano Gabbana unterstützt wurde und die neue Kollektion ihres 2020 in London gegründeten Labels Miss Sohee vor Ort präsentieren konnte. Dolce & Gabbana sind besonders angetan von dem konzeptionellen Ansatzpunkt des Handwerklichen bei Sohee Park, die sich nach Abschluss ihres Studiums am renommierten Londoner Central Saint Martins College of Art and Design deutlich von der Fashion-Massenproduktion distanziert und sich an der Haute Couture orientiert.
Demi-Couture-Kollektion
„Ich möchte eine Demi-Couture-Kollektion kreieren", so Park, „etwas, das einfach zu tragen ist, aber immer noch den Couture-Aspekt hat." Auch auf Nachhaltigkeit legt Park, die eigentlich als Illustratorin den gleichen Berufsweg wie ihre Mutter einschlagen wollte, viel Wert, weshalb sie schon mal ungewöhnliche Materialien wie Hanfstoff verarbeitet oder auch auf Recycling setzt.
Ihre erste Kollektion trug 2020 den Titel „The Girl in Full Bloom", von der sie ein Jahr später eine Ready-to-wear-Version als „Mädchens in voller Blüte" vorgestellt hatte. Nachdem sie die fünf Ballkleider mit extravagant aufgeblähtem Volumen und riesigem Blumendekor bei Instagram eingestellt hatte und eine Bilderstrecke im Mode-Magazin „Love" publiziert worden war, wurden sogleich Stars wie Miley Cyrus, Cardi B, Bella Hadid, Ariana Grande oder Naomi Campbell auf das Label aufmerksam und präsentierten die Edelklamotten mit den körperbetonenden Krinolinen oder atemberaubenden Drucken der staunenden Öffentlichkeit.
Doch neben der gebürtigen Südkoreanerin waren in Mailand auch einige heimische Newcomer am Start. Wobei der Auftritt von Giulio Sapio mit einem unkonventionellen Container-Showroom, der mit butterweichem ockerfarbenem Wildleder ausstaffiert ist, nicht zu toppen war. Mit seinen langen Haaren ähnelt der aus Caserta in der Nähe von Neapel stammende Neu-Designer in seinen Sechzigern einem in die Jahre gekommenen Rockstar. Tatsächlich hat er über ein Jahrzehnt lang einen Musikladen geführt und zudem ein Kontrabass-Studium absolviert. Nachdem er lange bei Rick Owens gearbeitet hatte, entschloss er sich 2019 zur Gründung einer eigenen Brand, die sich auf minimalistische, nur aus hochwertigen Stoffen in Italien hergestellte Kleidungsstücke für Damen und Herren in Unixex-Version spezialisiert hat. Die Schuhe lässt er von neapolitanischen Meistern herstellen.
Seine Kollektion besteht aus Basic-Pieces, wobei die Farbe Schwarz bei den 25 Modellen des Winters 2022/2023 dominiert, aber auch Flaschengrün vertreten ist. Es gibt Schneiderhosen, kragenlose Blazer, Bouclé-Tweed-Anzüge, glänzende Samtmäntel, taillierte Bomberjacken aus Glanzleder, elegante zweireihige Trenchcoats oder Verlours-Capes. Alle Stücke sind handwerklich detailverliebt gearbeitet, was sich beispielsweise an leicht offen geschnittenen und dadurch größere Bewegungsfreiheit ermöglichenden Jackenärmeln ablesen lässt. Das alles hat natürlich seinen Preis: Die Hemden liegen bei 500 Euro, die Mäntel bei 1.500 Euro. Anfangs war Sapio noch wie ein klassischer Handelsvertreter von Stadt zu Stadt gezogen und hatte seine in einem großen Koffer mit seinem Van transportierten Kreationen potenziellen Ladenbesitzern vorgestellt. Auch große Fashion-Versandhäuser wie Luisa Via Roma bekundeten schnell Interesse an einer Zusammenarbeit. Doch dann war ihm die Idee gekommen, einen Container in ein exklusives Show-Atelier umbauen zu lassen. Dies hat sich im Anschluss an Mailand auf die Reise gen Paris begeben, um auch dort möglichst viele Kunden wie in Italien zu gewinnen. Dort ist er inzwischen in rund 20 Multibrand-Stores vertreten, wie übrigens auch beim Luxusversender Farfetch.
Moderne Amazonen-Bekleidung
Für Insider des Fashion-Luxus-Business ist die aus Urbino stammende Ilenia Durazzi (Jahrgang 1988) natürlich keine Unbekannte. Schließlich konnte sie über ein Dutzend Jahre lang reichlich Erfahrungen bei hochkarätigen Herrenmode-Labels sammeln. Etwa bei Balenciaga, wo sie nach Abschluss ihres Studiums am Florentiner Modeinstitut Polimoda noch unter Nicolas Ghesquière tätig gewesen war, oder bei Maison Margiela bis hin zu Tod’s. Für Trussardi war sie in der Saison 2020/2021 in die Damenmode eingestiegen und hatte eine viel gelobte Kollektion mit maßgeschneiderten Anzügen im maskulinen Stil, aber auch mit minimalistischen Lederröcken gestaltet. Nach eigenem Bekunden hat sie ihr Label Durazzi Milano gegründet, weil für sie der Moment gekommen war, „in dem ich bei großen Marken keinen Sinn mehr fand." Ihre Debüt-Kollektion für den Winter 2022/2023, natürlich alles made in Italy, folgt dem Motiv des Pferdes. Und sie bietet eine moderne Amazonen-Bekleidung samt entsprechenden Accessoires wie knielange Stiefel oder Schnallen, die stilistisch in ihrem Minimalismus an Jil Sander und Phoebe Philo erinnert. Durazzi Milano gilt als so etwas wie die Entdeckung des Jahres in Mailand und wird künftig wohl noch mehr von sich reden machen, weil geplant ist, auch in die Herrenmode hinein zu expandieren.
Diesen Winter gibt es aber erst einmal Urban Chic für Frauen mit gesteppten Reitjacken und Röcken, schmalen Strickjacken, Bomberjacken mit Schaffell, Miniröcken mit Fransen, löchrig-perforierten Lederhosen, eleganten Lederkleidern mit Nietenschnürung, Baseball-Mützen und sogar Strumpfhosen mit pelzigen Mohair-Pasteln. „Ich wollte Reitkodizes", so Ilenia Durazzi, „aber für moderne und echte Frauen. Ideen aus der Herrenmode nehmen, aber damit eine Damengarderobe kreieren." Und weiter: „Das Einfachste und Strengste ist am schwierigsten zu realisieren, weil es keinen Spielraum für Fehler gibt und man das Erforderliche abwägen muss. Ich finde, es gibt oft Klamotten, die wie Spielzeug wirken."
Leder auf Pflanzenbasis
Es ist alles andere als alltäglich, dass einem Jungdesigner, der noch nicht einmal sein Studium abgeschlossen hat, eine Anfrage von einem Superstar wie Beyoncé ins Haus geflattert kommt. So geschehen beim 1997 in Agropoli geborenen Francesco Murano. Gerade hatte er 2019 am Mailänder IED Istituto Europeo di Design seine preisgekrönte Abschluss-Kollektion „OssimoroPlastico" vorgeführt, als er das Glück auf seiner Seite hatte: Mit Zerina Akers war rein zufällig die Beyoncé-Stylistin im Publikum zugegen. Akers orderte daraufhin für das „Spirit"-Musikvideo des Megastars ein Paar Stilettos mit der ungewöhnlichen quadratischen Sohle und setzte durch die Bestellung eines grauen „Ossimoro"-Jackenkleides noch einen drauf, das Beyoncé bei der Pre-Grammy-Party im Januar 2020 tragen sollte. „Dass sie meine Klamotten trug", so Murano, „war ein Wendepunkt für meine Karriere und auch ein Zeichen. Denn jeder, der mich kennt, weiß, dass ich ein großer Beyoncé-Fan bin." Murano, der sich ursprünglich mit Plastik- und Keramik-Design beschäftigt hatte und erst nach dem Umzug nach Mailand anno 2016 eine Kurswendung Richtung Mode eingelegt hatte, konnte inzwischen noch weitere Preise wie den Womenswear Award, den Nachwuchswettbewerb „Who’s On Next?" oder den Pitti Tutoring & Consulting Prize einheimsen. Seine erste Teilnahme an der Mailänder Modewoche für den Winter 2022/2023 begann er also blutjung auf einem enorm hohen Level. Er versucht zudem seine Entwürfe auch intellektuell ziemlich anspruchsvoll zu halten, durch Inspirationshinweise auf die Architektur Le Corbusiers und dessen sogenannte anthropometrische Proportionalskala beispielsweise. Friedrich Nietzsche und dessen Dualismus von apollinischen und dionysischen Geistern nicht zu vergessen. Auch seine Vorliebe für die griechische Antike oder die klassische Kunst der Renaissance und des Barock werden angeführt. Cardi B, die inzwischen auch zu seinen Bewunderern zählt und sich für den Musikclip „Hit" von Murano einkleiden ließ, wird es egal sein.
Jedenfalls drehen sich alle Looks für den kommenden Winter um die Idee des Kreises, in dessen Mittelpunkt die Frau als geometrischer Dreh- und Angelpunkt der Welt gerückt wird. Die Silhouetten wirken mit ihrem Rückgriff auf Antike und Renaissance skulptural, die Farben sind matt und staubig, aber auch zuweilen pastellig gehalten, die Stoffe sind hochwertig, darunter sind Baumwollsatin, Wollkrepp, Luxury Jersey, Leder, (puderblaues) Wildleder und Taft. Es gibt drapierte Kleider und Minidresses, strukturierte Blazer, weite Hosen. U-Boot-Ausschnitte, Schleppen und breite Schulterpolster betonen die weibliche Figur. Fragt sich nur, ob es genügend Frauen gibt, die sich die maßgeschneiderten Klamotten leisten können und wollen.
Schließlich soll an dieser Stelle noch das 2021 in Mailand gegründete Label der in Abu Dhabi geborenen und libanesische Wurzeln aufweisenden Jungdesignerin Lara Chamandi erwähnt werden. 2013 wollte sie nach ihrem Umzug nach London eigentlich Möbeldesign studieren und hatte bei Materialexperimenten ein nachhaltiges Leder auf Pflanzenbasis entdeckt. Dadurch wurde ihr Interesse an der Modewelt geweckt, für die sie inzwischen Kleidung ausschließlich aus Naturstoffen entwirft. Ihre Winterkollektion 2022/2023 steht ganz im Zeichen des Mondes, ihre fließenden Designs bei gestrickten Kleidern und Röcken sind mit Sternbildern oder Kristallen gespickt.