Vorbereitungen für einen weiteren Corona-Herbst: Die Stiko hat neue Impfempfehlungen herausgegeben, der Expertenrat der Bundesregierung einen ersten Bericht vorgelegt. Neue Varianten lassen die Infektionszahlen wieder steigen.
Etliche Wochen zeigte die Kurve der Inzidenzen stetig nach unten. Die Zeichen standen auf einen entspannten Sommer. BA.4 und BA.5 könnten dem einen Strich durch die Rechnung machen. Der Subtyp der Omikron-Variante hat in einigen Regionen die Zahlen wieder steigen lassen, teilweise sogar so deutlich, dass bereits eine Sommerwelle befürchtet wird.
Bundesweit lag die 7-Tages-Inzidenz Ende April bei knapp 760, Ende Mai noch bei knapp über 200, nach den Pfingstfeiertagen stiegen die Zahlen dann wieder (331,8 am 13, Juni). Ein ähnliches Bild zeigt sich im Saarland, wo die 7-Tages-Inzidenz Ende April bei knapp 780 lag, Ende Mai bei 185, um dann in den ersten Juni-Tagen wieder kontinuierlich auf 365 (13.6.) zu steigen.
Der Anteil der BA.4 und 5 Varianten an allen Infizierten lag nach Expertenschätzungen zu diesem Zeitpunkt zwischen 15 und 30 Prozent, allerdings mit einer Dynamik, dass damit gerechnet wurde, dass diese Abwandlungen binnen weniger Wochen zur dominierenden Variante würden.
Insbesondere in Portugal war zu diesem Zeitpunkt bereits zu sehen, mit welcher Macht sich die BA.4-Variante (und die zeitgleich aufgetauchte BA.5-Variante) durchsetzt. Binnen kurzer Zeit schnellten die Inzidenzzahlen dort wieder auf fast 2.000 hoch.
Deutschlands Impflücke bleibt unverändert
Das RKI rechnet aktuell mit einem „erneut verstärkten Infektionsdruck" insbesondere für die sogenannten vulnerablen Gruppen. Saisonale Effekte, die das Virus üblicherweise ausbremsen, könnten nicht mehr ausreichen, wenn sämtliche bekannten auch einfachen Schutzmaßnahmen außer Acht gelassen würden. Die Kritik am Wegfall praktisch aller Vorsichtsmaßnahmen und der folgenden Leichtfertigkeit im Alltag zieht sich im Grunde durch alle Stellungnahmen von Experten.
Experten wie der Mit-Entwickler des Covid-Simulators, Thorsten Lehr von der Uni Saarbrücken, sehen Entwicklungen in Deutschland, die vielleicht noch nicht ähnlich dramatisch ist, aber in jedem Fall Anlass zu verstärktem persönlichem Schutz sein müssten, und raten zu den bekannten Maßnahmen wie Abstandhalten – und natürlich am besten, sich impfen zu lassen. Ähnlich äußerte sich Harald Schäfer, Chefarzt und Leiter des Lungenzentrums Saar in einem Gastbeitrag: „Unverständlich ist, warum immer noch ein Teil der Bevölkerung… nicht geimpft ist".
Nach wie vor besteht eine deutliche Impflücke in Deutschland. In den letzten Wochen hat sich dabei wenig bis nichts bewegt. Bei den Erst-Impfungen gab es im April und Mai kaum nennenswerte Fortschritte, zugenommen haben seither aber die Zahl der Menschen mit einer oder sogar bereits zwei Auffrischungsimpfungen (Booster), allerdings auch auf einem überschaubaren Niveau. Die Zahl der Menschen mit einer Booster-Impfung stieg im gesamten Mai nur um gut 300.000 auf insgesamt 49,7 Millionen (knapp unter 60 Prozent).
Weil die Schutzwirkung bei bereits Geimpften mit der Zeit nachlässt, hatte die Ständige Impfkommission (Stiko) bereits eine zweite Booster-Impfung für über 70jährige sowie Beschäftigte im Gesundheits- und Pflegebereich empfohlen. Der Anteil der Menschen mit der dann vierten Impfung ist gerade erst über sechs Prozent geklettert. Auch die Empfehlung für zunächst eine Impfung für Kinder ab elf Jahren, die die Stiko im Mai veröffentlicht hat, hat bislang noch überschaubare Resonanz.
Bereits nach dem Scheitern einer allgemeinen Impfpflicht beziehungsweise Impfpflicht ab einem bestimmten Alter im Bundestag hatte Gesundheitsminister Lauterbach für Herbst eine starke Kampagne für freiwillige Impfungen in Aussicht gestellt, die gezielt die ansprechen soll, die grundsätzlich impfbereit sind, sich aber bislang aus unterschiedlichsten Gründen noch nicht haben impfen lassen.
Nun kann der Minister für Herbst auch mit zusätzlichen Argumenten aufwarten. Voraussichtlich werden zwei oder drei neue, angepasste Impfstoffe zur Verfügung stehen, und eigenem Bekunden nach verhandelt der Minister sowohl mit Biontech als auch Moderna über Lieferungen für den Herbst. „Wir werden im Herbst bessere Impfstoffe haben", verspricht Lauterbach. Menschen sollen auch die Auswahl zwischen unterschiedlichen Vakzinen haben. Im Gegensatz zu Vorgänger Spahn will Lauterbach verschiedene Impfstoffe bestellen. Dass er dabei auf größeren Widerstand von Finanzminister Lindner stoßen könnte, sieht er nicht.
Einschränkungen im Herbst wahrscheinlich
Nicht nur Minister Lauterbach, auch seine Länderkollegen und praktisch alle Experten wollen zum Herbst intensiv dafür werben, dass sich bislang noch Unentschlossene zur Impfung entscheiden. Ein gewisser Teil wird sicherlich durch offensive Maßnahmen und Angebote erreicht werden können, aber bei einem Teil der Menschen hat bislang alle Aufklärung wenig bis gar nichts gefruchtet. Studien, auch des RKI selbst, haben dabei ein vergleichsweise einhelliges Bild ergeben. Die Impfbereitschaft war gestiegen, wenn es Aussicht auf eine gewisse Belohnung (Lockerung von Einschränkungen) gab. Hinweise und Argumentationen auf Wirksamkeit, auf Vermeidung schwerer Verläufe oder gar Todesfälle haben offensichtlich wenig überzeugt. Eine Impfpflicht wäre ein Weg gewesen, der aber in politischem Taktieren nicht durchsetzbar war. Nach den Erfahrungen dieser Auseinandersetzungen gibt es derzeit auch niemanden, der das noch mal ernsthaft aufgreift. Die Argumente sind auch hinreichend ausgetauscht, wirklich neue seit April nicht dazugekommen.
Möglicherweise leisten aber die ersten Empfehlungen des Expertenrats der Bundesregierung zur Vorbereitung auf den Herbst Hilfe bei der Überzeugungsarbeit. Sie skizzieren in einem Szenario, dass je nach Verlauf im Herbst Maßnahmen wie Maskenpflicht und Abstandsgebote nötig sein könnten – und das bis ins Frühjahr 2023. Und in einem negativen Szenario könnte die Kombination aus neuartiger, ansteckender Variante, Impflücke und nachlassendem Impfschutz dazu führen, dass auch das Gesundheitssystem wieder an Grenzen kommen könnte.
Auf der Basis dieses Berichts werden derzeit auf verschiedenen Ebenen Maßnahmen geplant und vorbereitet. Ein zentrales Ziel mit hoher Priorität dabei ist, Einschränkungen für Kinder (Schul- und Kita-Schließungen) zu vermeiden. Um Ländern Instrumente für lokal-regionale Maßnahmen an die Hand zu geben, wird derzeit auch über eine erneute Änderung des Infektionsschutzgesetzes diskutiert.
Dass die Pandemie längst nicht vorbei ist, und wir uns daran gewöhnen müssen, auch in Zukunft damit umzugehen, ist als Botschaft angekommen. Was auch nach jetzt fast zweieinhalb Jahren Erfahrungen bleibt, ist eine latente Unsicherheit: „Die weitere Entwicklung des SARS-CoV-2-Virus ist derzeit nicht verlässlich vorhersagbar", notiert der Expertenrat der Bundesregierung. Impfen bietet zwar keinen hundertprozentigen Schutz, ist und bleibt aber die wirksamste Waffe.