Wer eine Idee durchsetzen will, sollte ihr erst einmal einen griffigen Namen geben. Das empfiehlt sich umso mehr, wenn frühere Anläufe mit demselben Anliegen bislang erfolglos im Sand verlaufen sind.
Der Mechanismus ist auch im Bundespräsidialamt bekannt, weshalb dort nicht von einer „Dienstpflicht" geredet wird. Jetzt heißt es von höchster Stelle: soziale Pflichtzeit.
Weil der höchste Repräsentant der Republik keine konkreten Gesetze schreibt, lässt er allzu detaillierte Ausführungen, wie er sich das vorstellten könnte, offen. Dafür sind die Begründungen umso deutlicher. „Man kommt raus aus der eigenen Blase, trifft ganz andere Menschen, hilft Bürgern in Notlagen".
Kurzum: Es geht um all das, was seit geraumer Zeit in unserer Gesellschaft zum Ladenhüter geworden ist. Mehr noch: Gnadenlose Unerbittlichkeit, die keine außer der eigenen Meinung zulässt, die keinen außer dem eigenen Lebensstil akzeptiert, feiert Hochkonjunktur. Zumindest dominiert sie zunehmend die Grundatmosphäre unserer Gesellschaft. Cancel Culture mag vor einiger Zeit etwas für selbsternannte Aktivisten gewesen sein. Heute hat es in weiten Teilen das, was früher mal Diskussion war, verdrängt und abgelöst.
Und rigide Identitätspolitiken von unterschiedlichsten Seiten mögen vielleicht einiges befördern, gesellschaftlichen Zusammenhalt basierend auf Verständnis, Toleranz und Akzeptanz aber wohl kaum.
Die Gegenreaktionen auf den Vorstoß des Bundespräsidenten zur sozialen Pflichtzeit waren ebenso schnell wie erwartbar: Staatlicher Eingriff in den Lebenslauf – das ist so ziemlich das Letzte. Dass Liberale das so sehen, überrascht weniger. Dass auch Grüne, die sonst gern ziemlich viel vorschreiben und/oder verbieten wollen, den Vorschlag unanständig finden, wirft da schon eher Fragen nach deren Gesellschaftsverständnis auf.
Steinmeiers Vorschlag zielt auf nichts weniger ab als die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, mit welchem Ton und in welcher Grundhaltung wir uns begegnen wollen.
Der Vorschlag ist eine angemessene und eigentlich längst überfällige Antwort auf bedenkliche Entwicklungen. Es ist nicht die Lösung aller Probleme, aber ein Beitrag. Wer den ablehnt, möge erklären, ob es so, wie es derzeit läuft, wirklich richtig gut läuft, und falls nicht, was denn sein Vorschlag wäre.