Zum Interview in Hamburg bringt der akkurat gescheitelte Ulrich Tukur alias Ulrich Gerhard Scheurlen Kuchen von seinem Lieblingsbäcker mit. Dann folgt ein Gespräch über seine Anfänge am Theater, unverwüstliche Schlager, die Poesie der Sprache und den Tatort.
Herr Tukur, „Rhythmus in Dosen" lautet das Motto Ihrer Jubiläumstour mit den Rhythmus Boys. Fließt in das Programm Ihre Biografie mit ein?
Eigentlich nicht, und wenn, dann verfälscht und durch die Hintertür. Ich erzähle vom Leben berühmter Komponisten und Protagonisten der Unterhaltungskultur der 20er, 30er und 40er Jahre. Als großer Verehrer Cole Porters, Irving Berlins, George Gershwins oder Glenn Millers flunkere ich Geschichten über sie zusammen, gemeinsame Erlebnisse, die ich mit ihnen teilte, aber die es natürlich nie gab. Ich erzähle dabei vom Glanz und Zauber einer untergegangenen Epoche. Es ist der Versuch, Menschen in unserer bedrängenden Zeit etwas zu erheitern und gelassener zu stimmen. Das Ganze ist gattungsübergreifend: Konzert, Varieté, Kabarett, Theater und höherer Blödsinn. Dabei ist jeder Abend anders. Ich weiß nur den ersten Satz, und dann schaue ich, wie die Chemie im Raum ist.
Woher stammt der Titel „Rhythmus in Dosen"?
Von Lutz Templin. Er fand sich in meiner Schellackplatten-Sammlung. Templin war Anfang der 40er-Jahre Leiter der berüchtigten Propaganda-Swing-Band „Charlie and His Orchestra". Goebbels hatte ihn beauftragt, ein Orchester zusammenzustellen, das im Auslandsrundfunk amerikanische und englische Schlager spielen sollte. Der Crooner Charlie Schwedler sang die Originale auf Englisch, versetzt mit antisemitischen und antiamerikanischen Texten. Und dieser Lutz Templin hat 1942 „Rhythmus in Dosen" aufgenommen, eine ziemlich schmissige Instrumentalnummer. Einige Orchester haben in Berlin ja noch bis 1944 gespielt, und wenn sie es live taten, machten sie mitunter ziemlich heiße Musik. Das Dritte Reich war nicht so durchstrukturiert, wie wir das gerne glauben. Vom Orchester Hans-Georg Schütz habe ich eine Aufnahme von 1943, „Heiße Tage", die sehr hot, fast amerikanisch ist. Warum er das einspielen durfte und andere nicht, weiß ich nicht. Vieles war unlogisch und erratisch in dieser Zeit, so wie ja auch unsere pandemische Politik oft einer gewissen Logik entbehrt. Als wir aufgrund der Corona-Situation unser Programm auf 70 Minuten ohne Pause abspecken mussten, haben wir uns auf kleinere, feine musikalische Dosen konzentriert und Templins Titel übernommen.
Ich habe gehört, Sie haben sich in Ihrer Berliner Wohnung ein Zimmer im Stil der 1920er-Jahre eingerichtet. Gehen Sie dort auf imaginäre Zeitreisen?
In der ganzen Wohnung finden Sie nichts, das aus der Zeit nach 1935 stammt. Es ist eine Mischung aus orientalischen, asiatischen und venezianischen Stilelementen. Ein skurriles Bühnenbild mit Tapeten aus den 1870er-Jahren und Deckengemälden. Art déco ist das modernste, was ich besitze, der Rest ist 19. Jahrhundert. Es ist wohl eine der wenigen ganz erhaltenen Berliner Wohnungen aus der Gründerzeit, die noch ihren Dienstbotentrakt haben.
Wie viele Dienstboten sind für Sie tätig?
Keiner. Die Zeiten sind vorbei! (lacht) Früher gehörte die Wohnung einer jüdischen Dame, einer Schneiderin, der es gelungen war, ihre Tochter 1938 außer Landes zu bringen. Sie wurde mit ihrer Enkelin 1944 deportiert und in Auschwitz ermordet. Ein Foto von ihr haben wir vom Vorbesitzer erhalten und einrahmen lassen. Es hängt jetzt am Eingang als Verbeugung vor dem Menschen, dem die Wohnung eigentlich gehört.
Hat Nostalgie Konjunktur, wenn von der Zukunft nichts Gutes zu erwarten ist?
Die Sehnsucht, dass es auf der Welt schöner, gerechter, poetischer und friedlicher zugehe, gab es immer und sie existiert ja auch in unserer Zeit, auch wenn uns Gier, Dummheit und technologischer Irrsinn immer mehr zusetzen. Der tiefere Sinn des Internets besteht ja in einer besseren Kommunikation unter uns Menschen und im schnellen Zugriff auf Wissen, aber genutzt wird es im Wesentlichen, um Menschen zu kontrollieren, zu manipulieren und wirtschaftlich auszuweiden. Bilderfluten, denen wir überall und immer ausgesetzt sind, machen uns zunehmend sprachlos, legen unsere eigene Phantasie lahm und rauben uns unsere Autonomie und Menschenwürde. Aber mit dem Aufbruch in die transhumane Zukunft spielen solche Gedanken vermutlich keine große Rolle mehr, dann ist der zufällig entstandene Mensch mit seiner zerbrechlichen Seele eben Geschichte. Unsere Lebenswelt ist so komplex und unübersichtlich geworden, dass sie keine Sau und übrigens auch kein Mensch mehr versteht.
Was genau fasziniert Sie eigentlich an Jazz, Swing und alten Schlagern?
Ich liebe sie einfach, diese Musik! Bei einem Jazzorchester aus den 1920ern spürt man auch noch nach fast hundert Jahren die nicht nachlassende Lebendigkeit, Frische und Lebensfreude einer längst vergangenen Epoche. Die Arrangements sind musikalisch komplex und gut hörbar, obwohl sie unter primitiven Bedingungen aufgenommen wurden. Dieses spritzige, elegante Lebensgefühl und die Qualität der Musiker haben sich mir sofort vermittelt.
Über die Straßenmusik, die Sie in Tübingen machten, kamen Sie als Student per Zufall zum Theater. Waren Sie ein Naturtalent oder ein harter Arbeiter?
Ich hatte von Theater und Schauspiel überhaupt keine Ahnung. Ich fing an Germanistik, Anglistik und Geschichte zu studieren. In einem Seminar über Kurt Tucholsky habe ich ein paar seiner Chansons zum Akkordeon gesungen. Gitarre spielte mein Kommilitone Herr Mayer, der das auch heute noch tut. Das war dann so erfolgreich, dass wir damit auf dem Marktplatz und im Jazzkeller auftraten. Eines Tages, auf dem Heimweg vom Bert-Brecht-Institut, sah ich einen Akkordeonisten vor einem winzigen Theater stehen, das mir bis dato nie aufgefallen war. Er spielte die „Moritat von Mackie Messer" und sagte mir, hier würde heute Abend die „Dreigroschenoper" gespielt. Da habe ich mir zum ersten Mal in meinem Leben – mit 23 – eine Theatereintrittskarte gekauft. Ich fand die Vorstellung fabelhaft. Dominique Horwitz in seiner ersten Rolle als Verbrecher. Am nächsten Tag sah ich ihn im Tübinger Freibad, wo er von zwei hübschen jungen Damen angehimmelt wurde und ich fragte mich: Wie wird man das?
Wer hat Ihnen dabei geholfen?
Mein Patenonkel Eckhard leitete die Theatergruppe des Gymnasiums in Nürtingen. Mit ihm probte ich drei kurze Szenen in seinem leeren Klassenzimmer am Nachmittag. Damit habe ich dann an der Staatlichen Schauspielschule in Stuttgart vorgesprochen und wurde tatsächlich angenommen! Erst einmal musste ich meinem Vater verklickern, dass mein Studiengang sich geändert hätte.
Hat Ihr Vater Ihre Entscheidung für das Theater sofort geschluckt?
Er schwieg eine Minute lang am Telefon, dann seufzte er und sagte: „Mach’s halt!" Eigentlich war das alles ein Studentenwitz, aber ich war das Studium los, das mich anfing zu langweilen. Die Schauspielschule war ziemlich ernüchternd, ich war wenig da und spielte lieber mit meiner Band auf den Straßenfesten der Umgebung. Der Zufall wollte, dass mir eines Tages der Filmregisseur Michael Verhoeven in meiner Schule über den Weg lief. Er war auf der Suche nach der Besetzung seines Films „Die weiße Rose" und vertraute mir die Rolle des studentischen Widerstandskämpfers Willi Graf an. Damit hatte ich auf einmal den Fuß in der Tür des Films. Anschließend ging ich ans Städtische Theater Heidelberg, und ich merkte, dass die Theaterwirklichkeit so viel aufregender war als diese therapeutischen Sitzungen auf der Schauspielschule. Nach einem halben Jahr bot mir Peter Zadek die Hauptrolle in dem Holocaust-Musical „Ghetto" in Berlin an. Es wurde ein Riesenerfolg und änderte alles.
„Vom Zauber einer verwehenden Sprache – Deutsche Gedichte und Balladen" heißt Ihr neuestes Hörbuch, das Sie mit Christian Redl und der Pianistin Olena Kushpler aufgenommen haben. Haben diese Texte auch etwas mit Ihrer Lebenseinstellung und Persönlichkeit zu tun?
Es sind unsere Lieblingsgedichte, also werden sie wohl auch einiges mit uns zu tun haben. In jeder Lebenssituation habe ich ein Gedicht oder ein Stück Literatur gefunden, das mir weiterhalf. Da hat ein Dichter die Worte für einen Seelenzustand gefunden, den ich selbst nie so hätte beschreiben können. Gedichte waren für mich immer Leuchtfeuer im Dunkeln. Sprache gibt mir Sinn und Orientierung.
In einem Interview mit einem ZDF-Kinderreporter hat AfD-Chef Chrupalla gefordert, dass Kinder an Schulen mehr deutsche Gedichte und Lieder lernen sollen. Auf die Frage nach seinem deutschen Lieblingsgedicht fiel ihm aber keins ein.
Aber ich kann sie eben noch. Wenn man sich langweilt oder unglücklich ist, sollte man ein Gedicht auswendig lernen. Erstens trainiert es das Gehirn und macht zweitens großen Eindruck bei den Damen. Wenn Sie ein Gedicht vortragen, müssen Sie nur warten, bis das Bild, das Sie beschreiben, vor Ihrem geistigen Auge entsteht, sonst versteht und sieht es auch der Zuhörer nicht. Die Ebene hinter der Sprache, die Idee, drückt sich unmerklich durch die Sprache hindurch. So kann es sein, dass ein großer Autor mit drei einfachen Sätzen einen Raum beschreibt, in dem Sie herumlaufen können, als existiere er wirklich.
Wirkt sich die intensive Beschäftigung mit Sprache auch auf Ihren ungewöhnlichen Tatort-Kommissar Murot aus?
Ich lege bei dieser Figur Wert auf eine gewisse Eleganz. Ein Mensch, der am Rande seiner Existenz steht, muss sich selbst etwas wert sein. Als ich mit Murot anfing, war er noch todkrank. Bis jetzt hat er ganz gut überlebt und sich mit stiller Melancholie in einer Welt eingerichtet, die nicht die seine ist. Natürlich könnte Murot auch ein Liebhaber von Gedichten sein.
Hatten Sie von Anfang an eine genaue Vorstellung davon, wie dieser Ermittler sein muss?
Als die Spielfilmchefs des Hessischen Rundfunks mir diesen Tatort anboten, sagte ich erst einmal Nein. Es fing ja schon damals an, inflationär zu werden. Aber sie haben es sehr geschickt gemacht. Wir saßen in einem netten Restaurant in Köln, und nach der vierten oder fünften Flasche Rotwein hatten sie mich sturmreif geschossen und ich habe nur noch lallend gesagt: „Wir können ja mal einen Piloten probieren. Aber ich möchte bitte einen Kommissar spielen, der eine Krankheit in sich trägt, an der er jederzeit sterben kann." Und das haben sie mir dann auch zugesagt. Die Figur sollte nicht ganz von dieser Welt sein: gut angezogen, altmodisch, bescheiden und ein charmantes Auto fahren.