Vor mittlerweile vier Monaten brach in der Ukraine Krieg aus, aber das Leben in Saarbrücken geht weiter. So auch für die Gastdozierenden und Studierenden aus der Ukraine, die zu Beginn an die Universität des Saarlandes (UdS) kamen. Für sie ist weiterzuleben nicht so einfach.
Der Sommer ist in der dritten Juniwoche nach Saarbrücken zurückgekehrt, und an der UdS weht ein lauer Wind. Auf dem Campus ist nicht viel los. Ein paar Studierende genießen ihren Kaffee in der Sonne. In dieser Idylle vergisst man fast, dass in der Ukraine nach wie vor Bomben fallen.
„Ich bin im Kopf immer noch in meiner Stadt und ich verstehe gar nicht, wie da draußen plötzlich Sommer sein kann und überall die Bäume grün sind. Denn für mich ist es immer noch Februar. Unsere Stadt wurde bombardiert, und wir schliefen im Keller. Das war sehr hart. Ich glaube wir alle sind noch im Februar", erzählt Valeria Biloshapko.
Valeria ist Ukrainerin. Zu Hause in Mykolaiv, an der Petro Mohyla Black Sea National University, unterrichtete sie seit fünf Jahren Polnisch. Mykolaiv ist heute Frontstadt. Mit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine floh die Sprachwissenschaftlerin nach Saarbrücken an die UdS. „Ich habe die Möglichkeit meine Lehre hier weiterzuführen. Ich gebe hier polnische Sprachkurse und habe verschiedene Kooperationen und Projekte mit anderen Professoren." Mit ihr gemeinsam nach Saarbrücken kamen auch Yuliya Stodolinska und Tetiana Shestopalova. Sie alle lehrten an derselben Universität und mussten die Lehre in ihrer Heimatstadt vorübergehend aufgeben. „Es ist wundervoll, diese Möglichkeit zu haben, hier in an einem sicheren Ort zu sein und das weiterzumachen, was wir zuvor gemacht haben", erzählt Erstere. Genau wie Valeria Biloshapko kooperierten Tetiana Shestopalova und Yuliya Stodolinska schon vor Beginn des Krieges mit der saarländischen Universität. Die Dozentinnen für ukrainische Philologie und Interkulturelle Kommunikation sowie Interkulturelle Business Kommunikation und Übersetzung als auch Amerikanistik beschäftigen sich im Rahmen ihrer Forschung unter anderem mit der Diskursanalyse und den „Border Studies", den Grenzen verschiedener Länder, grenzüberschreitenden Erfahrungen und Erlebnissen, die im Kontext von Globalisierung und Migration in Europa und weltweit entstehen. Gerade jetzt sind für Tetiana Shestopalova die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine von großer Bedeutung. „Jetzt haben wir alle unsere eigene grenzüberschreitende Erfahrung, von der wir niemals gedacht hätten, dass so etwas mal passiert", sagt Yuliya Stodolinska.
„Habe Angst, zurück nach Hause zu gehen"
Alina Kovalchuk studiert englische Linguistik und kam zusammen mit ihrer siebenjährigen Schwester alleine aus der Ukraine nach Saarbrücken. „Meine Familie hat entschieden, dass wir irgendetwas tun müssen. Denn wir müssen unser Leben fortführen, unsere Entwicklung", erzählt sie und fügt hinzu: „Ich versuche, mein Leben mit dem meiner jüngeren Schwester unter einen Hut zu bringen. Die Situation in der Ukraine ist natürlich extrem schwierig, und meine Schwester sollte die Möglichkeit bekommen, ihr Leben voll und ganz zu leben." Die junge Frau spricht schnell und aufgeregt. Sie bemüht sich, ihre Dankbarkeit in Worte zu fassen. „Wenn man so eine schwere Situation im eigenen Land hat, ist es wichtig, von der Welt ein Feedback zu bekommen. Ich sehe und fühle die Unterstützung in Deutschland. Ich weiß, dass wir nicht alleine sind."
Auch Tetiana Shestopalova ist sehr dankbar, „denn unsere Kollegen hier verstehen das Unglück der ukrainischen Situation sehr gut. Ich fühle mich heute wohler in Deutschland", erzählt sie. Ihre Kolleginnen und Kollegen, das sind Prof. Astrid Fellner und Prof. Roland Marti, Dr. Ekaterina Klüh, Dr. Peter Tischer, Andrea Wurm, Eva Nossem, Sina Vogel und Anja Wörner. Es ist Tetiana Shestopalova wichtig, diese Namen öffentlich zu nennen. Mittlerweile bringt sie nicht nur ihren Studierenden in Saarbrücken die ukrainische Sprache und Literatur nahe, sondern lernt selbst Deutsch, um die Saarbrückerinnen und Saarbrücker und ihre Interessen besser kennenzulernen. Daneben geht sie auch zu Treffen der ukrainischen Community.
Sie alle wollen eines Tages wieder in ihre Heimat, die Ukraine, zurückkehren. Doch wann das der Fall sein wird, kann keine von ihnen sagen. „Zuallererst will ich mein Studium hier fortsetzen und eine gute Ausbildung haben. Ich habe Angst, zurück nach Hause zu gehen, weil ich unsicher bin", erklärt Alina Kovalchuk. „Unsere Mutter fragte, ob ich für eine kurze Zeit zurückkommen möchte. Aber ich habe Nein gesagt. Ich glaube, es könnte sehr belastend sein zurückzugehen. Aber wenn wir den Krieg gewinnen – und wir werden ihn gewinnen – dann möchte ich natürlich zurück in die Ukraine, nur nicht jetzt."
Die junge Frau muss dabei zusehen, wie ihrer Familie und ihren Freunden zunehmend die Kräfte ausgehen. „Ich rede jeden Tag mit anderen Leuten aus der Ukraine, und ich sehe, wie die Menschen täglich tiefer und tiefer in eine sehr belastende Situation sinken. Es ist schwer, das zu erklären. Es ist schon alleine schwer, das zu fühlen. Meine beiden besten Freunde sind dort. Nicht viele Leute wissen über den Alltag in der Ukraine Bescheid. Es ist hart für die Menschen, ihre Gefühle und ihre reale Lebenssituation miteinander in Einklang zu bringen." Die Schilderungen nehmen Alina Kovalchuk sehr mit, und sie bricht in Tränen aus.
Auch die drei Gastwissenschaftlerinnen sind sicher, dass sie irgendwann in die Ukraine zurückwollen. Denn dort sind ihre Familien, ihre Freunde und Studierenden und sie hören und lesen jeden Tag, was diese durchmachen, während sie hier in Saarbrücken in Frieden leben. „Ich habe immer noch den Bombenalarm auf meinem Handy, der los geht, wenn meine Stadt Mykolaiv in Gefahr ist. Zu jeder Zeit ist es, als würde man zwei Leben leben. Man hat ein Leben hier und eins Zuhause in der Ukraine", erzählt Yuliya Stodolinska.
„Das sind nicht bloß Bilder im Fernsehen"
Die Dozentinnen können immerhin ihren Beruf und ihre Lehre für einige ihrer ukrainischen Studierenden weiterführen, die die Möglichkeit haben, sich über das Internet zu verbinden. „Die Geschichten mancher Studierenden brachten mich zum Weinen. Wenn sie mir erzählten, was sie durchgemacht haben. Was dort vor sich geht, ist extrem beängstigend. Und wir hoffen, dass die ganze Welt in der Lage ist, das zu verstehen. Das sind nicht bloß irgendwelche Bilder im Fernsehen." Denn einige Straßen in ihrer Heimat, über die die vier Frauen noch vor ein paar Wochen liefen, gibt es heute nicht mehr. „Wir beten einfach, dass dort ein Ort sein wird, an den wir zurückkehren können", so die Linguistin.
Valeria Biloshapko hofft, dass sie im Sommer wenigstens für ein paar Wochen ihre Angehörigen besuchen kann. Jeden Tag fragt sie ihre Freunde in der Heimat, ob Mykolaiv sicher ist. Jeden Tag bekommt sie die Antwort: Nein. „Ich weiß noch nicht einmal, wie ich das Leben hier weiterführen soll. Denn ich warte immer noch darauf, mein Leben dort weiterzuführen. Es ist hart in die Zukunft zu blicken, weil man nicht weiß, was mit der eigenen Vergangenheit passiert. Die Russen haben einen Teil meines Lebens gestohlen", erklärt die Polnisch-Dozentin.
Tetiana Shestopalova möchte zurückkehren, weil sie als Ukrainerin auch in ihrem Zuhause, der Ukraine, leben will. „Der Sieg der Ukraine über Russland ist mein größter Traum. Ich denke, er ist nicht nur für die Ukraine wichtig, sondern für jedes Land für das Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Menschenleben die Hauptprinzipien seiner Gesellschaftsordnung sind." Daher müsse die Bekämpfung Russlands aufgrund seiner schwerwiegenden Verstöße gegen internationales Recht und der Verletzung der ukrainischen Grenzen von diesen Ländern bewusst und zeitnah beschlossen werden. In dieser Frage sind sich die vier Ukrainerinnen alle einig. „In einem anderen Fall wissen wir nicht, welches Land als Nächstes dran sein wird", erklärt Yuliya Stodolinska. Und diese Situation möchte sich niemand vorstellen.