Gesundheitsminister haben in den letzten Wochen viel über Vorbereitungen für den nächsten Pandemie-Herbst diskutiert. Das Virus war schneller – einmal mehr. Die erste „Sommerwelle ist Realität", sagt Bundesminister Karl Lauterbach.
Viren sind auf ihre Weise etwas Faszinierendes. Zumindest aus Sicht vieler darauf spezialisierter Forscher. Evolutionäre Flexibilität und Vielfalt macht Viren zu einer Supermacht. Genau das führt aber auch dazu, dass die aktuellen Entwicklungen für die meisten derzeit so gar nicht als faszinierend, sondern eher als beängstigend und bedrohlich empfunden werden.
Die neuen Corona-Varianten lassen die Infektionszahlen in die Höhe schnellen, Gesundheitsminister Karl Lauterbach stellt deshalb lapidar fest: „Die Sommerwelle ist Realität." Es ist die erste Sommerwelle in dem nun seit zweieinhalb anhaltenden Auf und Ab der Pandemie. Die Gründe, dass diesmal die Sommermonate nicht wie in den Jahren zuvor eine Verschnaufpause mit sich bringen, liegen auf der Hand. „Weil die aktuelle Virusvariante sehr leicht übertragbar ist und weil fast alle Vorsichtsmaßnahmen ausgelaufen sind, verpufft in diesem Jahr der Sommereffekt", stellt der Bundesgesundheitsminister fest. Damit tritt ein, wovor der ständige mahnende Minister gewarnt hat – und dafür vielfach belächelt wurde.
Entwicklung kam nicht völlig überraschend
Die neuen Sub-Varianten BA.4 und BA.5 erweisen sich als noch ansteckender als die ursprüngliche Omikron-Variante. Für viele Forscher keine besondere Überraschung. In der Entwicklung von Viren setzen sich logischerweise die Varianten durch, die einen noch ansteckenderen Mechanismus herausgebildet haben, der die Gegenwehr überlistet. Das war seit dem ersten Auftreten des Sars-CoV-2-Virus in den verschiedenen Wellen eindrucksvoll zu beobachten. Insofern bleibt richtig, dass Impfen nicht vor Ansteckungen mit den neuen Varianten schützt. Aber es bleibt ebenso richtig und durch globale Studien unterschiedlichster Art immer wieder neu bestätigt, dass Impfen vor schweren Verläufen schützt. Wer mit der Erfahrung des letzten Jahres vielleicht darauf gesetzt hat, mit einer Impfung, egal ob zur Grundimmunisierung oder zur Auffrischung (Booster), bis Herbst warten zu können, sollte die Sommerwelle nicht unterschätzen, im Gegenteil.
„Es gibt keine Möglichkeit, die Entstehung und Ausbreitung von Varianten zu beeinflussen", betonte der Virologe und Impfstoffexperte Klaus Stöhr bereits im April. Gleichzeitig verwies er aber auch darauf, dass Hersteller permanent an einer Verbesserung und Anpassung ihrer Impfstoffe arbeiten. „Natürlich ist das Virus mal wieder schneller als die Impfstoffentwicklung", bemerkt Carsten Watzl, wissenschaftlicher Direktor am Leibniz-Institut an der TU Dortmund. Aber ein an die frühere BA.1-Variante angepasster Impfstoff mache auch „viel Sinn", weil die Unterschiede zur aktuellen BA.5-Variante nicht enorm groß seien. Es bleibt folglich bei dem, was der Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts, Klaus Cichutek, bereits Anfang des Jahres festgestellt hat: Eine schnelle Umstellung der Produktion auf neue Varianten-Impfstoffe ist rasch möglich. Neue Varianten werden von Anfang an von der internationalen Forschungsgemeinde mit großer Aufmerksamkeit studiert – egal, wo sie zum ersten Mal auftauchen. In vielen Fällen hat sich gezeigt, dass Varianten relativ schnell wieder verschwinden und von Neuem verdrängt werden, bei denen sich letztlich immer wieder ansteckendere Formen durchsetzen und dann in hoher Dynamik verbreiten. Es geht dabei um Mutationen, die die Fähigkeit zur „Immunflucht" haben („Escape-Varianten"), also über Genveränderungen Spikeproteine bilden, die entwickelte Schutzmechanismen unterlaufen. Dazu gehören offenbar die BA-Varianten. BA.2, das Anfang des Jahres aufgetaucht war, hat sich offensichtlich nicht durchsetzen können, anders als jetzt BA.4 und BA.5. Allgemeingültige Aussagen über Evolution und Ansteckungsgefahr sind nicht möglich, unterstreicht der Virusvarianten-Experte Richard Neher von der Uni Basel. Unter anderem deshalb beobachtet die Weltgesundheitsorganisation neue Varianten sehr akribisch. Bereits im April wurden die neuen Omikron-Subvarianten als „besorgniserregend" eingestuft. So ähnlich hat es auch bei den bisherigen früheren Pandemiewellen begonnen.
Wohin die Reise dabei führt, zeigt ein Blick auf die Entwicklung bei den europäischen Nachbarn. So hatte in den vergangenen Wochen Portugal immer einen einsamen und extremen Spitzenplatz bei der Ausbreitung der neuen Varianten, liegt inzwischen Deutschland an der Spitze der Neuinfektionen in absoluten Zahlen (Sieben-Tage-Durchschnitt, Stand 15. Juni), gefolgt von Frankreich und Italien.
Impfen bleibt wichtigste Schutzmaßnahme
Die Sieben-Tage-Inzidenz ist inzwischen auf knapp 460 (bundesweit, Stand 21. Juni) gestiegen. Am 1. Juni lag sie noch bei 207. Dabei sind die Zahlen mit Zurückhaltung zu betrachten, die Dunkelziffer dürfte nach einhelliger Einschätzung um ein Vielfaches höher liegen. Das liegt einerseits am Rückgang der Tests und zum anderen daran, dass bei Weitem nicht alle Infizierten einen PCR-Test machen lassen. Und nur PCR-Tests fließen in die Statistiken ein.
Zum offiziellen Sommerstart und damit auch dem Start in die Ferien- und Urlaubszeit, die eigentlich unbeschwert von den aus dem letzten Jahr bekannten Kontrollen und Vorschriften ablaufen sollte, stellt sich damit wieder eine neue Unsicherheit ein. Für viele, die sich vor einem Jahr vor ihrem Urlaub haben impfen lassen, wäre der europaweit anerkannte digitale Impfnachweis in diesen Tagen ausgelaufen, weil zunächst nur für ein Jahr gültig. Derzeit wird der Impfnachweis so gut wie gar nicht mehr verlangt. Trotzdem hat die EU nun eine Verlängerung um ein Jahr, bis Juni 2023, beschlossen. Zunächst, um auf eine mögliche Entwicklung im Herbst vorbereitet zu sein. „Wir haben in den zwei zurückliegenden Pandemie-Jahren gesehen, dass sich das Geschehen schnell ändern kann, und es ist klar, dass wir, wenn nötig, schnell handeln müssen", betonte Kommissionssprecher Christian Wigand. Angesichts der jüngsten Entwicklungen könnte das schneller erforderlich sein, als man noch vor vier Wochen gedacht hätte.
Ein wesentlicher Sinn des digitalen Zertifikats ist eine Erleichterung beim Reisen. Damit gilt die Verlängerung zunächst für den Grenzübertritt. Aber es bleiben noch einige Details zu klären. Klar ist zunächst einmal, dass der Nachweis ab der dritten Impfung, also für Geboosterte, unbefristet gilt. Bei Grundimmunisierung (also mit einer zweiten Impfung) gilt zunächst eine Befristung von 270 Tagen (neun Monate). Dabei gibt es also noch Klarstellungsbedarf.
Jedenfalls kann auch diese rein praktische Erwägung ein zusätzlich wichtiger Grund sein, sich nun doch für Impfungen und das Boostern zu entscheiden. Die Empfehlung dazu gibt es ohnehin für ältere Menschen und sogenannte vulnerable Gruppen. Ähnliches gilt aber auch für die ganz Jungen. Nicht nur der saarländische Gesundheitsminister Magnus Jung appelliert an Eltern, nach der Empfehlung der Stiko für die Impfung von Fünf- bis Elfjährigen, die Angebote auch intensiv zu nutzen. Schließlich sei „Basisimmunität ein wichtiger Baustein", um auf neue Infektionswellen bestmöglich vorbereitet zu sein.
Denn dass nach der Sommerwelle mit dem Schulanfang und dem nächsten Herbst die Situationen wieder angespannter werden wird, darf nach bisherigen Erfahrungen als gesetzt gelten. Davon gingen schließlich auch die Gesundheitsminister der Länder bei ihrem letzten Treffen aus, bei dem auch Änderungen des Infektionsschutzgesetzes im Blick auf den Herbst diskutiert wurden. Mit Blick auf die aktuellen Entwicklung könnten die aber womöglich bereits deutlich früher Sinn machen, um bereits Klarheiten in den Wochen der Sommerwelle zu haben.