Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat mit seinem Vorschlag für eine „soziale Pflichtzeit" eine alte Debatte neu entfacht. Sein Anliegen: Zusammenhalt stärken. Widerstand war vorprogrammiert. Es gibt gute Gründe für ein Pro und Contra.
PRO: Raus aus der eigenen Blase
atja ist 17 – und hat ihr Abitur in der Tasche. Mit sechs Jahren in die Grundschule, mit elf aufs Gymnasium, dann im Expresszug G8 zum Abitur. Und jetzt? An der Uni gleich weiter lernen? Pause machen? Oder etwas Sinnvolles für die Gesellschaft tun, etwa in einem Sportverein? Wer weiß schon mit 17 so genau, welcher Beruf für einen das Beste ist? Ein Jahr, gefüllt mit nützlicher Arbeit für die Gesellschaft und Erfahrungen aus dem wirklichen Leben, erscheint da als Bedenkzeit nicht die schlechteste Lösung.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat eine alte Debatte angestoßen, die vor ihm schon Annegret Kramp-Karrenbauer als CDU-Generalsekretärin angeregt hatte. Er drückt sich vorsichtig aus, spricht nicht von Dienstpflicht, sondern spricht von einer „sozialen Pflichtzeit" für alle. „Gerade jetzt, in einer Zeit, in der das Verständnis für andere Lebensentwürfe und Meinungen abnimmt, kann eine soziale Pflichtzeit besonders wertvoll sein", sagte er. „Man kommt raus aus der eigenen Blase, trifft ganz andere Menschen, hilft Bürgern in Notlagen. Das baut Vorurteile ab und stärkt den Gemeinsinn." Offensichtlich hat der Bundespräsident einen Nerv getroffen: Schon vor vier Jahren fanden 66 Prozent der Befragten die Idee gut.
Bedenkzeit keine schlechte Lösung
Vor elf Jahren noch hatten zumindest die jungen Männer keine Wahl. Mit der allgemeinen Wehrpflicht hieß es für die meisten nach der Schule: entweder Wehr- oder Zivildienst. 2011 wurde die Wehrpflicht ausgesetzt, damit auch der „Ersatzdienst", die Bundeswehr wurde zu einer Freiwilligenarmee. Niemand wurde zu etwas verpflichtet. Wer wollte, konnte einen freiwilligen Dienst ableisten. Das geht auch heute noch, doch im Freiwilligen sozialen oder ökologischen Jahr treffen sich nur bestimmte Jugendliche, die sowieso schon engagiert sind. Und sie stammen überwiegend aus Akademikerhäusern. Steinmeier jedoch sprach von einem sozialen Jahr für alle. Schließlich sollen sich junge Menschen aus allen Schichten und Milieus zusammenfinden und austauschen. Der allgemeine Dienst ist für Staatsangehörige verpflichtend, aber steht auch Migranten offen. Das Spektrum an Möglichkeiten ist denkbar breit: soziale Dienste im Kinderhort, Betreuung in Sportvereinen, religiöse und kirchliche Dienste, Arbeit in kulturellen Einrichtungen wie Museen und Bibliotheken, Umweltarbeit, Rettungsdienste, Katastrophenhilfe – nur zu einem Ersatz für die fehlenden Arbeitskräfte in der Pflege dürfen die jungen Leute nicht wieder werden, zu einer Ergänzung schon. Jeder Dienst basiert auf einem allgemeinen Gesetz, das ähnlich wie die Schulpflicht für alle gilt. Geld soll es auch dafür geben, von 450 Euro ist die Rede, dazu ermäßigte oder kostenlose Tickets für den Nahverkehr. Es kann nicht schaden, wenn Jugendliche aus ihrem geschützten Milieu einmal in die raue Wirklichkeit heraustreten und Staat und Gesellschaft etwas zurückgeben. Immerhin weiß man, dass sich zu Zivildienstzeiten nicht wenige der jungen Männer für soziale Berufe entschieden haben. Bei den Jugendlichen selbst ist das persönliche Engagement laut Shell-Studie 2019 leicht rückläufig. Zwischen 33 und 40 Prozent eines Jahrgangs sind danach bereit, sich sozial, politisch beziehungsweise ganz einfach für andere Menschen zu engagieren, ein Wert, der seit Jahren stabil ist. Jungen und Mädchen sind übrigens gleichermaßen engagiert, Jugendliche in Ost- und Westdeutschland ebenfalls.
Katja kommt aus einem Elternhaus, in dem Verantwortung für andere großgeschrieben wird. Sie gehört zu dem Drittel der Jugendlichen, die sich vorstellen können, einen Bundesfreiwilligendienst oder ein Freiwilliges Jahr zu leisten. Diese Jugendlichen würden auch einer Dienstpflicht nachkommen, doch eine Pflicht sollte für alle gelten. Volker Thomas