Titelverteidiger Tadej Pogacar muss sich bei der diesjährigen Tour de France einem Großangriff des Teams Jumbo-Visma erwehren. Unberechenbarer ist aber ein unsichtbarer Gegner – Corona.
Die Tour de France ist mächtig stolz auf ihre mehr als 100-jährige Tradition. Und auch wenn „Le Grand Départ" schon seit Jahren regelmäßig im Ausland stattfindet, so konnten sich die französischen Radsportfans doch zumindest auf eines verlassen: Die Große Schleife endet im Herzen von Paris. Nach drei Wochen Schinderei lassen sich die Profis, die bis dahin durchgehalten haben, auf mehreren Runden auf dem Prachtboulevard Champs-Élysées feiern. Doch in zwei Jahren soll diese heilige Kuh geschlachtet werden – das zumindest berichtete die italienische Tageszeitung „La Gazzetta dello Sport". Dem Bericht zufolge wollen die Veranstalter die Schlussetappe nicht in Paris, sondern in Nizza an der Côte d’Azur abhalten.
Fast ein Drittel der Fahrer fiel aus
Der Grund für diese fast schon revolutionäre Maßnahme, sollte sie denn tatsächlich umgesetzt werden, sind die Olympischen Sommerspiele 2024 in Paris. Sie beginnen nur fünf Tage nach der geplanten letzten Etappe der Tour, ein Organisationschaos soll offenbar verhindert werden. Bestätigt wurde der Bericht von offizieller Stelle zunächst nicht, die Organisatoren haben zurzeit auch viel Dringenderes zu tun. Über die 109. Tour de France, deren Startschuss am 1. Juli in Kopenhagen fällt, droht ein dunkler Corona-Schatten zu fallen. Bei der Tour de Suisse, die viele Fahrer zum Einrollen für den Saisonhöhepunkt genutzt haben, fielen mehr als 40 der 153 gestarteten Profis nach positiven Tests aus. Die Teamleitung von UAE Team Emirates, Bahrain Victorious, Alpecin-Fenix und Jumbo-Visma zogen ihre Mannschaften wegen mehrerer Fälle sogar komplett vom Wettkampf ab.
„Du gehst morgens zum Frühstück und bekommst vom Doktor die Nachricht, dass wieder einer wegen Corona aussteigen musste. Jeden Tag wurden wir weniger", berichtete Jens Zemke, der Sportliche Leiter vom deutschen Team Bora-Hansgrohe, von dem nur drei Profis das Ziel erreichten. Auch bei der Slowenien-Rundfahrt und der Belgien-Tour war das Virus der unsichtbare Gegner für alle Teams.
Die Corona-Sommerwelle hat den Radsport voll erwischt – und die Tour-Verantwortlichen schauten der Entwicklung mit Sorge entgegen. Denn so richtig vorbereitet scheint darauf niemand zu sein in der Szene. „Wir wurden vom Ausbruch überrascht", gab Olivier Senn, Direktor der Tour de Suisse, zu: „Er lässt uns und die Teams ratlos zurück. Niemand kann sich vorstellen, weshalb diese Welle plötzlich auf uns zurollt." So kurzfristig neue und härtere Corona-Maßnahmen durchzusetzen, dürfte auch den Veranstaltern der Tour de France schwer fallen. „Für die Tour könnte das zum Problem werden", meinte Zemke.
Sportlich sind erneut alle Augen auf Tadej Pogačar gerichtet. Der slowenische Ausnahmefahrer peilt nach seinen Triumphen 2020 und 2021 den Titel-Hattrick an. Dass der 23-Jährige dazu in der Lage ist, bezweifelt keiner in der Szene. Seine beeindruckende Frühform mit Siegen bei der Strade Bianche und Tirreno-Adriatico waren mehr als nur Fingerzeige. Eine Spazierfahrt erwartet Pogacar aber keineswegs. Die Unterschiede zwischen den Favoriten aufs Gelbe Trikot seien „sehr gering", sagte Pogačar. Nur wenn er in seiner „allerbesten Form" antrete, könne er konkurrenzfähig sein. Klingt nach Understatement – und ist es wohl auch. Trotzdem weicht der Dominator der vergangenen beiden Ausgaben keinen Millimeter von dieser Herangehensweise ab. „Ich vergesse nie, dass man im Radsport öfter verliert als gewinnt", sagte er: „Das ist eine uralte Wahrheit."
Pogačars Zurückhaltung könnte auch damit zusammenhängen, dass sein UAE-Team nicht als das nominell stärkste an den Start geht. Diese Rolle wird klar Jumbo-Visma aus den Niederlanden zugeschrieben, dort will Primož Roglič seinen slowenischen Landsmann Pogačar mithilfe zahlreicher Topfahrer im dritten Anlauf endlich in die Schranken weisen. 2020 musste er dem Shootingstar auf der vorletzten Etappe beim Zeitfahren das Gelbe Trikot überlassen, 2021 folgte die Aufgabe nach einem folgenschweren Sturz. Sollte Roglič nicht die Beine für einen Angriff auf den Titelverteidiger haben, könnte Plan B bei Jumbo-Visma greifen: Jonas Vingegaard ist mehr als nur ein Edelhelfer für den Kapitän, er gilt auch als Kronprinz, dem man schon in diesem Jahr den Machtwechsel zutraut. Im Vorjahr war der 25 Jahre alte Däne nach Rogličs Tour-Aus bereits in diese Rolle geschlüpft und hatte mit Platz zwei und dem Gewinn des Weißen Trikots als bester Nachwuchsfahrer komplett überzeugt.
Vingegaard ist mehr als nur ein Edelhelfer
Unterstützt werden Roglič und Vingegaard von den Kletterern Sepp Kuss und Steven Kruijswijk, im Flachen soll der zweimalige Zeitfahr-Weltmeister Rohan Dennis die Lokomotive sein. Und dann gibt es ja auch noch den Weltklasse-Allrounder Wout van Aert, der Ambitionen auf das Grüne Trikot hegt. Das Hauptaugenmerk des Teams liegt aber klar auf der Gesamtwertung. Beim jüngsten 74. Critérium du Dauphiné dominierte Jumbo-Visma das Renngeschehen nach Belieben und erinnerte dabei an das Sky-Team vergangener Jahre bei der Tour. Auf der siebten Etappe gab auch Roglič eine Kostprobe seines Könnens ab, als er im Schlussanstieg nach Vaujany der Konkurrenz davonfuhr und die Führung in der Gesamtwertung übernahm. Von den Knieproblemen, die ihn zuvor geplagt hatten, war beim früheren Skispringer nichts mehr zu spüren.
„Diese Attacke war sehr wichtig für mein Selbstvertrauen", gab der 32-Jährige zu. Am Ende triumphierte Roglič bei der schweren Rundfahrt, auf Platz zwei landete Vingegaard. Als symbolisches Zeichen der gegenseitigen Wertschätzung fuhren sie bei der Schlussetappe Hand in Hand über die Ziellinie. Pogačar muss es also nicht nur mit einem, sondern gleich mit zwei Topfahrern aus dem starken Jumbo-Visma-Team aufnehmen. Doch auch der junge Slowene sieht sein UAE-Team nach den Verpflichtungen der Kletterer Marc Soler und George Bennett gut gerüstet. „Wir waren im letzten Jahr stark, und wir sind in diesem Jahr stark", betonte Pogačar. Man habe einige namhafte Fahrer geholt, „die perfekt in unsere Gruppe passen".
Wer kommt noch für das Gelbe Trikot infrage? Hoffnungen auf einen Überraschungscoup machen sich auch der erfahrene und beständige Kolumbianer Miguel Ángel López (Astana-Qazaqstan), sein Landsmann Nairo Quintana (Arkéa-Samsic) und der starke Zeitfahrer Adam Yates (Großbritannien/Ineos Grenadiers). Für das deutsche Team Bora-Hansgrohe ist der Russe Alexander Wlassow der Mann für die Gesamtwertung. Der 26-Jährige verfügt zweifelsohne über das Talent, irgendwann ein Sieganwärter für eine große Rundfahrt zu werden – aber schon jetzt? Bei seiner Tour-Premiere? Sein Sieg bei der Valencia-Rundfahrt gab ihm jedenfalls viel Selbstvertrauen, auch bei der Tour de Suisse zeigte sich Wlassow von seiner besten Seite. Doch einen Tag nach seinem Etappensieg und der Eroberung des Gelben Trikots wurde er positiv auf Corona getestet. Die Bora-Verantwortlichen sorgten sich um die körperlichen Folgen, bei einem schwereren Verlauf wäre sogar der Tour-Start in Gefahr.
Das deutsche Team würde daran nicht zerbrechen, die Gesamtwertung hat anders als beim Giro d’Italia, als man mit Jai Hindley, Wilco Kelderman, Emanuel Buchmann eine starke Dreierspitze ins Rennen geschickt hatte, nicht Priorität. „Wir wollen allgemein aggressiv fahren. Wir wollen in Fluchtgruppen mehr Präsenz zeigen und die Gegner mit einer offensiven Fahrweise unter Druck setzen", verriet Teamchef Ralph Denk. In ebenjene Ausreißergruppe will man auch Nils Politt und Maximilian Schachmann schicken, die in der Vergangenheit bewiesen haben, dass sie dafür die geeigneten Männer sind. Auch ohne Topsprinter Peter Sagan, der das Team ebenso wie Pascal Ackermann vor der Saison verlassen hat, will man den Kampf um das Grüne Trikot nicht schon im Vorfeld aufgeben. Der Ire Sam Bennett soll möglichst viele Sprint-Punkte sammeln.
Das Streckenprofil der diesjährigen großen Schleife ist interessant und herausfordernd. Schon der Grand Départ in Kopenhagen dürfte ein Spektakel werden, dem Tausende Fans beiwohnen. Bis zur dritten Etappe darf Dänemark eine Radsport-Begeisterung schüren, dafür sorgen wollen unter anderem die Lokalmatadoren Vingegaard, Mads Petersen, Kasper Asgreen und Andreas Kron. In Dänemark wird gern von einer „Goldenen Generation" gesprochen.
Der erste Scharfrichter der Tour ist die fünfte Etappe, wenn auf dem Weg nach Arenberg Porte du Hainaut 19,4 Kilometer Kopfsteinpflaster überwunden werden müssen. Das ist eine enorme Herausforderung für Körper und Kopf der Fahrer. „Ich weiß, dass einigen schon die Beine schlottern bei der bloßen Erwähnung dieser Etappe", sagte der deutsche Fahrer John Degenkolb, der sich als Paris-Roubaix-Sieger von 2015 auf diesem Terrain pudelwohl fühlt.
70 Jahre nach der ersten Tour-Ankunft ist auch Alpe d’Huez wieder ins Programm aufgenommen worden. Die berühmt-berüchtigten 21 Kehren verlangen den Athleten alles ab und haben schon für viele unvergessene Highlights in der Tour-Geschichte gesorgt. Pogačar freut sich auf dieses Kräftemessen am 14. Juli. „Im vergangenen Jahr haben die Alpen ziemlich gut für mich funktioniert", sagte er. Sein Plan: Bis zur Königsetappe das Feld anführen! „Ich glaube, wenn du am Vorabend der Etappe nach Alpe d’Huez in Gelb bist", so Pogačar, „bist du gut aufgestellt." In den Pyrenäen dürfte der Anstieg auf den Mur de Peguere mit einer Steigung von bis zu 18 Prozent das Feld noch mal kräftig durchschütteln.
Und dann ist da ja auch noch Corona, der unsichtbare Gegner.