Wir treffen Hans Zimmer in seiner „Münchener Heimat", dem Luxus-Hotel „Bayerischer Hof". Nachdem ihm sein Leibwächter die Hände coronakonform desinfiziert hat, lässt er es sich nicht nehmen, herzlich Hände zu schütteln. Der Superstar lässt jeden Dünkel vor der Tür und ist ein bodenständiger und charmanter Gesprächspartner.
Herr Zimmer, Sie sind Deutschlands erfolgreichster Komponist. Aber mussten Sie Ihre Heimat verlassen, um anderswo in der Welt die großen Erfolge zu haben?
In Deutschland hatte ich zugegebenermaßen so meine Probleme. An mich hat kein Mensch geglaubt. Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Damals war meine größte Ambition, einmal die Musik zu einem „Tatort" zu machen. Doch die Verantwortlichen beim Fernsehen sagten: „Was will denn der? Der kann doch nichts! Der ist ja nicht mal auf die Musikhochschule gegangen!" Anstatt sich meine Sachen mal anzuhören … Aber das ist lange her. Ich bin mir sicher, dass sich seither auch hierzulande viel getan hat. Im Ausland ging es da einfach viel entspannter zu. Die waren neugierig auf einen und auf das, was man so zu bieten hatte. Die Plattenfirma, bei der ich in London unterkam, hat mich einfach machen lassen. Ich wusste zwar nicht, wie man die Musik zu einem Film schreibt, aber ich habe es trotzdem hingekriegt.
Stimmt es, dass Sie Ihre Karriere Diana Rhodes verdanken, der Frau des Hollywoodregisseurs Barry Levinson?
Absolut! Diana hatte damals den Film „A World Apart" gesehen, zu dem ich den Soundtrack gemacht hatte. (lacht) Sie war wahrscheinlich – neben meiner Mutter – die einzige, die diesen Film je gesehen hat. Ihr hat meine Musik gefallen, sie hat die CD gekauft und ihrem Mann gegeben. Eines Tages klingelt es und Barry stand vor meiner Tür. Ich durfte dann tatsächlich die Musik zu seinem Kinohit „Rain Man" machen. Das war 1988. Der große Erfolg dieses Films hat mir die Tür nach Hollywood weit aufgestoßen. Und es dauerte nicht lange, da bin ich nach Los Angeles gezogen, wo ich heute noch lebe und arbeite.
Es gibt in Ihrer Jugend einen sehr bemerkenswerten Vorfall. Gut, dass Sie damals Ihren Klavierlehrer nicht umgebracht haben – oder er Sie! Was war da passiert?
(lacht) Meine Mutter meinte, ich sollte doch Klavierspielen lernen, und schickte mich zu einem anerkannten Klavierlehrer zum Unterricht. Eine Woche später stand er vor der Tür und brüllte meine Mutter an: „Entweder er – oder ich!" Meine Mutter hat darüber nachgedacht und sich dann zum Glück für mich entschieden. Der Punkt war, dass mir dieser Klavierlehrer das klassische Klavierspiel aufzwingen wollte. Und das fand ich furchtbar langweilig. Ich wollte eigentlich nur, dass er mir hilft und mir zeigt, wie ich die Musik, die ich in meinem Kopf hatte, auch in meine Finger kriege, um sie auf dem Klavier zu spielen. Das ging natürlich nicht. Also bin ich wieder einmal meinen eigenen Weg gegangen.
Wann hatten Sie das erste Mal das Gefühl, dass Sie dieses überbordende Talent haben, Musik zu komponieren?
Im Leben eines jeden Musikers gibt es verschiedene Phasen. Als Kind ist die Musik ein Spiel. Eine reine Freude. Und ehrlich gesagt, habe ich mir diese Spielfreude bis heute bewahrt. Ich spiele Musik. Wir spielen Musik, meine Band und ich. Als Kind bin ich mit meinen Eltern sehr oft zu Konzerten gegangen oder in die Oper, und ich habe mir auch immer die Musiker angeschaut und gesehen, wieviel Freude sie dabei hatten zu spielen. Ich habe also schon in jungen Jahren darauf bestanden, dass ich immer weiter spiele, das Leben spielerisch verbringe. Das ist meine Lebensphilosophie, wenn Sie so wollen.
Mit den Dingen im Leben spielerisch umzugehen, das befreit einen wohl auch von vielen Zwängen und Ängsten. Ist das nicht die Voraussetzung dafür, der Fantasie freien Lauf zu lassen und kreativ zu arbeiten?
Auf jeden Fall! Zum Glück komme ich aus einer Familie, die keine Scheuklappen hatte und immer sehr aufgeschlossen war, der Kunst und dem Leben gegenüber. Sie haben mir auch immer über die Schwierigkeiten hinweggeholfen, die ich mit den deutschen Lehrern und anderen Autoritäten hatte. Ich bin oft von der Schule geflogen. Nicht weil ich dumm war, sondern weil die einfach nicht kapiert haben, dass ich eben etwas anders war. Und dass das, was ich so machte, vielleicht sogar origineller und interessanter war als das Herkömmliche. Aber sie haben sich keinen Millimeter bewegt. Sie konnten das eben nicht.
„Hören ist wichtiger als Spielen", sagten Sie mal. Ein Satz, der angesichts Ihres immensen musikalischen Outputs und riesigen Erfolges verblüfft.
Ich kann Ihnen genau sagen, was ich damit meinte: Wenn ich mit meinen Musikern ein Konzert gebe, dann sind wir nur wirklich gut, wenn wir uns beim Spielen zuhören. Wenn wir aufeinander eingehen, miteinander kommunizieren. Oder einfach hinhören, wenn ein anderer eine neue Idee hat. Um sie dann sofort zu klauen und damit selbst weiterzuspielen. Vor allem muss man eins werden mit dem Publikum. Dann funktioniert es. Das geht nur über das Zuhören.
Wie kommt es eigentlich, dass Sie seit einigen Jahren auf Tournee gehen? Sie haben sich das früher gar nicht getraut.
Richtig. Ich habe über 40 Jahre lang in einem Studio ohne Fenster meine Musik komponiert. Irgendwann haben meine Freunde gesagt: „Du musst jetzt mal raus und dich öffentlich zeigen und deine Musik live unters Volk bringen!" Ihr gutes Zureden hat mir dann den Mut gegeben, es tatsächlich zu versuchen. Seit etwa sechs Jahren gebe ich nun sogar in riesigen Hallen Konzerte, wie hier in der Olympiahalle vor 12.000 Zuhörern.
Und Sie haben immer noch Lampenfieber?
Und wie! Ich gehe jedes Mal mit schlotternden Knien auf die Bühne. Aber irgendwie kriege ich es dann doch hin.
Stimmt es, dass Sie keine Noten lesen können?
Naja, ich kann schon Noten lesen. Und wenn ich komponiere, kann ich das auch richtig aufschreiben. Aber wenn Sie mir jetzt ein Notenblatt hinlegen und mir sagen, ich soll das spielen, dann flimmert es mir vor den Augen. Wenn ich es aber aus dem Gedächtnis mache, dann klappt es hervorragend.
Der Rolling-Stones-Gitarrist Keith Richards meinte, dass er sich oft nicht mehr an die Songs erinnert, aber seine Finger es sehr wohl tun.
Genau! Genauso ist es auch bei mir. Es ist mir schon oft passiert, dass ich gar nicht wirklich weiß, welche Note ich als nächste spielen soll, aber wenn ich aufhöre, darüber nachzudenken, dann läuft es wie von alleine.
Sie sind ein Filmmusik-Komponist mit einer großen stilistischen Bandbereite …
… was vielleicht daran liegt, dass ich keinen bestimmten Stil durchdrücken will. Und ich bin schlampig. Ich schau mal hierhin, klaue mal dort etwas, dann interessiert mich der Blues, dann die Klassik, dann afrikanische Musik. Die Musik zu „Der König der Löwen" zum Beispiel ist afrikanische Musik mit Mozart. Ich interessiere mich für viele Stilrichtungen. Als ich Ende der 80er-Jahre nach Hollywood kam, lernte ich unter anderem Jerry Goldsmith kennen, eines meiner ganz großen Vorbilder. Ihm habe ich damals viele dumme Fragen gestellt, weil ich es eben nicht besser wusste, und er war mir gegenüber immer sehr offen und generös. Das hat mir sehr geholfen.
„Bevor ich Filmbilder sehe, fange ich an, eine Suite für diesen Film zu komponieren", sagten Sie mal. Wie geht das denn zusammen?
Es beginnt immer so: Ein Regisseur hat eine Filmidee und die erzählt er mir dann ausführlich bei einem guten Essen und einer Flasche Wein. Da entsteht schon die erste Musik in meinem Kopf …
War das auch bei der Filmmusik zu „Dune" so, für die Sie gerade – nach „Der König der Löwen" – Ihren zweiten Oscar bekommen haben?
(schüttelt den Kopf) Da war es anders als sonst. Der Regisseur Denis Villeneuve und ich haben uns sehr angefreundet, als ich für seinen vorigen Film „Blade Runner 2049" die Musik komponiert habe. Denis hat mich dann bei einem Abendessen mal gefragt, ob ich die Science-Fiction-Saga „Dune" von Frank Herbert je gelesen hätte. Was ich natürlich sofort bejahte und sagte, dass das Buch in meiner Jugend so etwas wie die Bibel für mich war. Das nahm er zur Kenntnis. Dann war aber erst mal einige Monate Sendepause. Irgendwann kam er zu mir und sagte, dass er daraus jetzt einen Film machen wollte. Und ob ich Lust hätte, die Musik dafür zu schreiben. Natürlich habe ich sofort und mit großer Freude zugesagt. Denn bei Denis konnte ich mir vorstellen, dass er für den „Dune"-Film, den ich schon lange in meinem Kopf hatte, die richtigen Bilder finden würde. Als ich mich dann intensiv mit der Musik beschäftigt habe, fiel mir auf, dass die meisten Science-Fiction-Soundtracks immer so klingen, als wären sie von einem europäischen Orchester aus der Spätromantik eingespielt worden. Bei „Dune" hatte ich endlich die Möglichkeit, ganz neue Musik mit ganz neuen Instrumenten zu erfinden. Und da die stärksten Charaktere im Buch ja die Frauen sind, wollte ich das auch in meiner Musik abbilden. Ich dachte mir: Das Einzige, was zu erkennen sein wird, ist diese fantastische Frauenstimme. Um ihren Gesang herum habe ich dann meine Töne gesetzt. Was mich beim Komponieren auch noch sehr beeinflusst hat, sind die Farben, die im Film benutzt werden. Oder die eben nicht da sind. Denis wollte zum Beispiel keinen blauen Himmel haben. Er wollte kein schönes Land haben, sondern eine Wüste, viele Brauntöne und ein hartes Licht. Das hat mich auch sehr inspiriert.
Der kanadische Pianist Glenn Gould hat gesagt, dass die glücklichste Zeit seines Lebens die war, als er im Studio Musik aufgenommen hat. Trifft das auch auf Sie zu?
Ich kann das sehr gut nachvollziehen, aber das gilt ganz sicher nicht für mich. Die glücklichste Zeit in meinem Leben ist jeder Tag! Ich finde immer etwas, das mich glücklich macht. Ich bin an einem guten Platz in meinem Leben. Ich bin 64 Jahre alt. Ich spiele Rock-Konzerte. Und meine Musik bedeutet vielen Menschen noch etwas. Ich habe noch Relevanz. Wie könnte ich da unglücklich sein?!
Das ist ein großes Geschenk …
… das ich mir nicht erarbeitet, sondern erspielt habe! Da komme ich wieder zu meiner Lebensphilosophie zurück, nämlich das Leben spielerisch zu nehmen. Dass ich diese Freiheit habe, ist wirklich ein großes Geschenk. Und ich verstehe mich auch ganz wunderbar mit meinen Kindern. Ich erinnere mich noch sehr gut an die letzte Oscarnacht. Ich war nicht in Los Angeles, sondern auf Tournee mit meiner Band. Ich lag schon im Bett, um Kraft zu sammeln für den nächsten Konzert-Tag. Da stürmten plötzlich meine Tochter und mein Sohn ins Hotelzimmer, sprangen auf meinem Bett herum und schrien: „Daddy, du hast den Oscar für deine ‚Dune‘-Musik gewonnen!" Also habe ich mir schließlich den Bademantel angezogen und bin mit ihnen ins Hotel-Foyer gegangen, wo meine Band eine Party für mich gegeben hat. Das war viel besser, als wenn ich bei der Verleihung anwesend gewesen wäre.