Er gilt als bester deutscher Eishockeyspieler aller Zeiten – und seit seinem Aufstieg zum Stammspieler bei den Edmonton Oilers 2015 hofft Leon Draisaitl auf den ganz großen Coup. Aber das Finale jüngst fand letztlich ohne das defensivschwache Team aus Alberta statt.
The same procedure as every year, Leon! Mit dieser leichten Abwandlung des kultigen „Dinner for One"-Spruchs lässt sich saisonübergreifend exakt das sportliche Abschneiden von Leon Draisaitl und seinem NHL-Team umschreiben. Denn zum wiederholten Mal waren die Edmonton Oilers aus dem kanadischen Alberta mit großen Ambitionen in die Spielzeit gestartet. Doch auf dem Weg zum Gewinn des Stanley Cups, der wichtigsten Trophäe im Eishockey-Sport, war die Mannschaft an einem stärkeren Gegner gescheitert. Das war für die meisten Experten und Wettbüros keine große Überraschung, da die Oilers im Finale der Western Conference gegen Colorado Avalanche ohnehin als Außenseiter gehandelt wurden.
In den ersten Play-off-Runden hatten die Oilers diesmal jedoch recht überzeugende Leistungen abgeliefert. Aber in der regulären Saison hatte sich das Team nach starkem Auftakt eine frappierende Schwächephase erlaubt, was die Entlassung des Trainers Dave Tippett und dessen Ersatz durch den neuen Coach Jay Woodcroft zur Folge hatte. Obwohl sich die Oilers mit dem zweiten Platz in der Pacific-Division letztlich souverän für die Play-offs qualifizieren konnten, wurden damit Zweifel an ihrer Fähigkeit für den ganz großen Coup nicht restlos ausgeräumt.
Im ersten Spiel der Play-offs hatten es die Oilers beim 4:3-Vergleich gegen die Los Angeles Kings noch unnötig spannend gemacht. Doch bereits in der nächsten Runde konnten sie klar nach fünf Matches mit 4:1 über die Calgary Flames triumphieren. Das wurde mit dem Einzug ins Western Conference Finale belohnt, was gleichbedeutend mit dem Halbfinale der NHL-Meisterschaft ist. So weit war Leon Draisaitl mit den Oilers noch nie gekommen: Seit seinem Debüt 2014 konnte der gebürtige Kölner mit seinem Team nur einmal die erste Runde überstehen.
Wie überhaupt die Mannschaft aus Edmonton erstmals seit 2006 in die dritte Play-off-Runde, sprich das Western Conference Finale, einziehen konnte. Das konnte man gewinnen und musste sich erst in der Finalserie den Carolina Hurricanes denkbar knapp mit 3:4 geschlagen geben. Die einst erfolgsverwöhnten Fans der Oilers warten daher schon eine gefühlte Ewigkeit auf den so sehr ersehnten sechsten Stanley-Cup-Triumph. Für den war hauptverantwortlich gleich viermal die Legende Wayne Gretzky gewesen, in den Jahren 1984, 1985, 1987 und 1988 war das. Der bislang letzte Titelgewinn datiert aus dem Jahr 1990. Drei Jahre später konnte mit Canadiens de Montréal letztmals ein kanadisches Team den begehrten Cup erringen.
In das erste Match gegen Colorado Avalanche in dem auf Best-of-Seven-Modus gespielten Western-Conference-Finale am 31. Mai waren Draisaitl und Co. voller Optimismus gegangen. Auch wenn man sich der Schwere der anstehenden Aufgabe durchaus bewusst war. „Es ist eine Play-off-Serie", so Draisaitl, „es wird eine lange Serie sein. Es sind noch vier Teams im Rennen um die meiner Meinung nach am schwersten zu erringende Trophäe der Welt – und wir sind ein Team davon." Gleich das erste Match in Denver sollte zu einem spektakulären Tor-Festival werden. Nur leider mit einem für die Oilers enttäuschenden Ausgang – nämlich einer 8:6-Niederlage. „Es waren sehr viele individuelle Fehler, die einfach vermeidbar waren", so Draisaitl, „es war nichts wirklich Großes, was Colorado gemacht hat. Ich glaube, dass es in erster Linie an uns liegt, dass wir besser verteidigen und einen besseren Job machen."
Enttäuschung war natürlich riesengroß
Schöne Vorsätze und eine weitgehend zutreffende Analyse, der allerdings keine zum Erfolg führenden Taten folgten. Beim zweiten Match in Denver am 2. Juni waren die Oilers beim 0:4 chancenlos. Zwei Tage später wurde auch das Heimspiel in Edmonton mit 4:2 verloren. Und am 6. Juni war das Halbfinale schon nach dem vierten Spiel entschieden, weil Colorado auch das zweite Match in Edmonton mit 6:5 in der Overtime gewinnen konnte. Und das, obwohl Draisaitl das frühzeitige Ausscheiden seiner Mannschaft mit einer Galavorstellung und gleich vier Torvorlagen noch hatte verhindern wollen. Seine großartige Performance war umso bemerkenswerter, weil er nur unter großen Schmerzen auflaufen konnte. Seit dem Achtelfinale gegen die Los Angeles Kings behinderte ihn eine schwere Knöchelverstauchung, er konnte kaum noch trainieren und kehrte nur noch zu den Matches aufs Eis zurück.
Nach dem Ausscheiden war die Enttäuschung bei Draisaitl natürlich riesengroß. Zumal er fest davon überzeugt gewesen war, dass mit den zur aktuellen Saison vorgenommenen Kader-Ergänzungen die schon seit Jahren bekannten Defizite der Oilers in Breite und Defensive behoben sein würden. „Ich glaube", so Draisaitl zum Saisonstart, „dass unsere Zeit jetzt gekommen ist." Nach der Niederlage blieb ihm nur die Flucht in einen Zweckoptimismus, der sich verbal ähnlich wie nach den Pleiten in den Vorjahren angehört hatte: „Ich bin stolz auf die Mannschaft, dass wir es bis hierher geschafft haben. Aber natürlich sind wir enttäuscht, im Moment fühlt es sich beschissen an. Wir müssen sicherstellen, dass wir nächste Saison zurückkommen und verstehen, wie schwer es ist zu gewinnen. Was es braucht, um einen großen Lauf zu haben und den nächsten Schritt zu gehen. Unser Ziel ist der Stanley Cup."
Was sich angesichts der Schlappen der letzten Jahre ziemlich ambitioniert anhören mag, scheint angesichts der Offensiv-Power der Oilers durchaus im Bereich des Möglichen zu liegen. Schließlich stehen bei Edmonton mit Leon Draisaitl (Jahrgang 1995) sowie dem kanadischen Superstar und Mannschaftskapitän Connor McDavid (Jahrgang 1997) zwei grandiose Tor- und Scorer-Garanten unter Vertrag. Beide haben längst den Nachweis erbringen können, dass sie ihre hohen Jahressaläre von 12,5 Millionen Dollar (McDavid) und 8,5 Millionen Dollar (Draisaitl) wert sind.
In der Saison 2021/2022 kamen sie in der regulären Spielzeit auf 123 Scorerpunkte (McDavid, davon 44 Tore) und 110 (Draisaitl, 55 Tore) und belegten damit im NHL-Ranking die Plätze eins und drei. Auch in der Play-off-Scorer-Wertung standen McDavid und Draisaitl mit 33 beziehungsweise 32 Punkten auf den ersten beiden Plätzen. Draisaitl konnte zudem einen neuen Rekord in der NHL-Geschichte aufstellen, weil ihm als erstem Spieler in sechs aufeinanderfolgenden Matches mindestens zwei Torvorlagen gelungen waren. Zudem konnte Draisaitl als zweiter Profi in der NHL-Historie die Bestleistung von Wayne Gretzky egalisieren, indem er es in den Play-offs 2021/2022 auf sieben Drei-Scorer-Punkte-Spiele gebracht hatte.
McDavid, der als bester Eishockey-Spieler der Welt gilt, wurde von Fachjournalisten wieder in den Kandidatenkreis für den wertvollsten Player der aktuellen Saison nominiert. Den begehrten, mit der Hart Memorial Trophy verbundenen MVP-Titel hatte er auch schon 2017 und 2021 verliehen bekommen. Den von den Profis bestimmten Titel zum wertvollsten Spieler der Saison, den Ted Lindsay Award, konnte McDavid 2017, 2018 und 2021 einheimsen. Zudem konnte er in den letzten sechs Jahren gleich viermal die Auszeichnung zum Topscorer der Liga mit der Art-Ross-Trophy in Empfang nehmen.
Ein Monster-Sturm alleine reicht nicht
Auch sein Sturmkollege Draisaitl, der in der NHL längst bewundernd den Spitznamen „The German Gretzky" erhalten hat und als erster Eishockey-Spieler zum Sportler des Jahres in Deutschland gekürt worden war, hatte 2020 gleich alle drei persönlichen NHL-Supertitel abräumen können. Um allerdings so etwas wie der „Eishockey-Nowitzki" werden zu können, müsste er endlich den Stanley Cup gewinnen. Damit könnte er in die sportlich wesentlich kleineren Fußstapfen von Uwe Krupp, Tom Kühnhackl, Dennis Seidenberg und Philipp Grubauer treten, die die älteste Trophäe im nordamerikanischen Sport schon in den Händen halten durften.
Nur wird ein Monster-Sturm allein den Oilers auch künftig wohl kaum das ersehnte Ziel bescheren können. Auch wenn es sich um das geniale Duo Draisaitl und McDavid mit herausragender Geschwindigkeit, Technik und überdurchschnittlicher Spielintelligenz handelt. Die Defensive ist zu schwach besetzt, auch Goalie Mike Smith agierte in der abgelaufenen Saison nur selten auf Topniveau und sorgte dadurch oft für zusätzliche Verunsicherung in der ohnehin wackeligen Hintermannschaft. Wer in der Saison 2021/2022 mit 2,75 Gegentoren pro Spiel gerade mal den elften Platz in der NHL-Statistik belegen konnte, musste bei engen Play-off-Matches gegen Spitzenteams zwangsläufig in Bedrängnis geraten.
Auch fehlt dem Kader noch die nötige qualitative Tiefe. Im Powerplay oder bei kniffligen Situationen müssen daher die beiden Center meist gemeinsam und mit langer Verweildauer aufs Eis. Das Problem vor allem im Defensivbereich dürfte den Verantwortlichen rund um General Manager Ken Holland durchaus bewusst sein. Aber das komplizierte Salary-Cap-System, das für die Gehaltsobergrenze steht, die ein Team für den gesamten Kader nicht überschreiten darf, lässt für starke Neuverpflichtungen der Oilers bei gerade mal noch verfügbaren acht Millionen Dollar wenig Spielraum. Dennoch forderte Leons Vater Peter Draisaitl als ausgewiesener Eishockey-Experte dringend Kader-Verbesserungen für die kommende Saison: „Dem Team fehlen noch die richtigen Verstärkungen auf drei, vier Positionen."