Es läuft nicht für Johannes Vetter. Der Speerwerfer wollte im Superjahr der Leichtathletik eigentlich sein Olympia-Trauma von Tokio 2021 ablegen – doch der Weltmeister von 2017 kämpft mit Verletzungssorgen.
Johannes Vetter weiß, dass es im Leben deutlich wichtigere Dinge gibt, als einen Speer möglichst weit zu werfen. Kurz vor der WM 2017 in London wurde bei seiner Mutter ein Gehirntumor festgestellt. Er bangte um seinen „größten Bezugspunkt im Leben" und schaffte es dennoch irgendwie, sich kurze Zeit später zum Weltmeister zu krönen. „Papa war im Stadion und Mama daheim auf der Couch. Es war ein tolles Gefühl, ihr diesen Titel zu schenken", erinnerte sich der Leichtathlet zurück: „Ich denke, dieser Titel hat ihr in dieser schwierigen Zeit etwas Kraft gegeben." Vetter wuchs in einer mental sehr schwierigen Lage über sich hinaus und schenkte seiner Mutter vor ihrem Tod 2018 noch ein großes Glückserlebnis.
Vetter hat also schon weitaus schlimmere Situationen gemeistert als die, in der er aktuell steckt. Seine Form in der nacholympischen Saison ist – um es vorsichtig auszudrücken – ausbaufähig. Das liegt vor allem an Verletzungssorgen. Die Entzündung in seiner Schulter ist derart hartnäckig, dass nicht wenige Experten befürchten, der 29-Jährige könnte in dieser Saison gar nicht mehr zurück zur Topform finden. Das wäre ein schlechtes Timing, denn ausgerechnet in diesem Sommer stehen mit der Weltmeisterschaft in Eugene (15. bis 24. Juli) und der Heim-Europameisterschaft in München (15. bis 21. August) gleich zwei Höhepunkte auf dem Plan.
Um der Schulter mehr Ruhe zu gönnen, zog Vetter die Notbremse und sagte seinen Start bei der Deutschen Meisterschaft im Rahmen von „Die Finals 2022" in Berlin schweren Herzens ab. In seiner Abwesenheit sicherte sich der Mainzer Julian Weber den Titel. Der Olympia-Vierte, der in diesem Jahr schon kräftig an der 90-Meter-Marke gekratzt hat, triumphierte mit einer Siegerweite von 86,38 Metern deutlich. Doch Vetter, eines der Aushängeschilder des Multisport-Events in Berlin, schaute nur zu. „Jede Absage eines Spitzenathleten trifft die gesamte Leichtathletik-Familie – vom Zuschauer über die Kampfrichter und Helfer bis zu den Journalisten und natürlich die Trainer und Funktionäre", sagte Cheftrainerin Annett Stein vom Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV): „Wir wünschen ihm weiterhin gute Genesung."
Daran arbeitet Vetter. „Jetzt heißt es, therapieren und trainieren", sagte der Offenburger dem Sport-Informations-Dienst. Ihn plagen seit Wochen Schmerzen in der Problemzone. „Toll ist das nicht", bekräftigte er, „aber wir haben schon ganz andere Sachen überstanden". Mit „wir" meinte er sich und seinen erfahrenen Trainer Boris Obergföll. Zusammen müssen sie nun einen Weg finden, das so komplizierte Speerwurf-System neu zu justieren. Vielleicht hilft auch nur ein kompletter Neustart. „Wir müssen an der Technik die Stellschrauben finden, da weiterarbeiten und gleichzeitig gesundheitlich fit werden. Wie lange das dauert, weiß ich jetzt nicht", sagte Vetter dem MDR: „Wir müssen von Woche zu Woche schauen. Aber es stehen immer noch zwei Höhepunkte vor der Tür in diesem Jahr. Da will ich teilnehmen – und erfolgreich teilnehmen."
Physikalisch soll das möglich sein
Nicht nur die Schulter, auch „Fuß und Beinbeuger rechts" würden ihn aktuell handicapen, erklärte der Athlet der LG Offenburg. Die körperlichen Probleme kommen von technischen Fehlern, die Vetter während des Abwurfs macht. Durch kleinere Ausweichbewegungen, die für das bloße Auge kaum sichtbar sind, werden bestimmte Muskeln, Sehnen und Bänder stärker strapaziert, als das für die Gesundheit gut ist. Außerdem fließt die Kraft des Körpers dann nicht wie gewünscht in den Stab über, sondern es geht ein kleiner Teil des Schwungs verloren. In der Weite macht sich so etwas sofort bemerkbar. Der Mann, der schon etliche 90-Meter-Würfe in seiner Karriere hingezaubert hat, kommt in seinem einzigen Wettbewerb in diesem Jahr in seiner Offenburger Heimat auf eine Bestweite von lediglich 85,64 Meter. Damit liegt er mehr als zehn Meter unter seiner persönlichen Bestweite von 96,67 Meter.
Dieser deutsche Rekord ist die zweitbeste Leistung eines Speerwerfers überhaupt, einzig der tschechische Weltrekordler Jan Zelezny hatte einst 72 Zentimeter weiter geworfen. Den Weltrekord will der ehrgeizige Vetter unbedingt jagen, sogar die magische 100-Meter-Marke hat er ins Visier genommen: „Mein Kollege Thomas Röhler sagt ja immer, dass es physikalisch möglich sei. Also muss es ja auch ein Mensch schaffen können." Doch die Jagd nach den Rekordweiten steht vorerst hintenan, zuerst will und muss Vetter wieder fit und konkurrenzfähig werden.
Aktuell liegt er selbst im deutschen Ranking des Jahres nur auf Platz drei hinter Julian Weber (Mainz/89,54 Meter) und Andreas Hofmann (Mannheim/87,32 Meter). Sein WM-Start in den USA ist für den Ex-Weltmeister theoretisch nicht in Gefahr, als Sieger der Diamond League hatte er sich im vergangenen Jahr eine Wildcard erkämpft. Die gibt es für die Heim-EM aber nicht, und so muss der Modell-Athlet (1,88 Meter/103 Kilo) um seinen Start in München bangen. Noch kann er sich im Rahmen der Nominierungsrichtlinien für das Event, das im Rahmen der European Championships ausgetragen wird, qualifizieren. Doch die Zeit wird knapp.
Selbst ein WM-Start sei derzeit „völlig offen", wie Vetter zugab. Die Höchstbelastungen hält sein geschundener Körper noch nicht aus. „Ich bin schon in der Lage, ein bisschen was zu werfen", sagte er, „aber die schweren Sachen gehen nicht." Vor den nationalen Meisterschaften hatte Vetter auch schon seine geplanten Starts in Ostrau, Hengelo und Dessau abgesagt. Das sei vor allem für den Kopf eine Belastung, verriet der 29-Jährige. Mit jedem Rückschlag wächst der Gedanke, dass es in dieser Saison nicht mehr zur Weltspitze reichen könnte. Und das nervt Vetter vor allem deswegen, weil er sich so viel vorgenommen hatte: Er wollte sein Olympia-Trauma hinter sich lassen.
In Tokio hatten alle fest mit Gold gerechnet – inklusive Vetter selbst. „Das Ziel ist auf alle Fälle Olympia-Gold mit über 90 Metern", hatte er vor seiner Abreise getönt: „Es soll nicht arrogant klingen, aber ich weiß, was ich draufhabe. Und eigentlich auch, dass ich momentan unschlagbar bin." Doch der Unschlagbare wurde besiegt. Nicht unbedingt vom Überraschungs-Olympiasieger Neeraj Chopra aus Indien, sondern vom Belag. Mit dem weichen Untergrund auf der Anlaufbahn kam der kräftige Vetter überhaupt nicht zurecht, Platz neun mit einer Weite von 82,52 Metern waren für einen Mann seiner Klasse indiskutabel. Schließlich hatte er im selben Jahr schon fast 14 Meter weiter geworfen.
„Geht um mich und meine Gesundheit"
Der Belag sei für ihn „einfach tödlich" gewesen, hatte Vetter hinterher völlig frustriert gewettert: „Wenn ich 30 Zentimeter abrutsche, fehlt die Spannung, und das technische System bricht komplett zusammen." Sein Trainer war sogar noch viel angefressener, er fühlte sich von den Organisatoren „beschissen und betrogen", sprach von einer „vollkommenen Chancenungleichheit" auf diesem „Kindergartenbelag" und empfand die Situation einfach nur „zum Kotzen". Seit diesen bitteren Erfahrungen setzen sich Vetter und Obergföll für Anlaufbedingungen ein, die überall einheitlich sind. Man könne nur sehr weit werfen, wenn der Untergrund auch mitspielt, argumentieren sie. Der Deutsche Leichtathletik-Verband unterstützt das Duo in dem Bestreben. Es habe eine „unheimliche Wirkung, wenn so ein Weltklasseathlet sich ganz persönlich einsetzt", meinte DLV-Vorstandschef Idriss Gonschinska: „Wenn man sich an die Bilder der Olympischen Spiele erinnert, ist doch ganz klar, dass wir alle mit Johannes gelitten haben."
Vetter selbst will diese Bilder am liebsten vergessen. „Ich kann mich da sicherlich hineinsteigern", sagte er dem SWR, „aber das will ich gar nicht. Das würde mir zu viel positive Lebensenergie nehmen." Seine ganze Energie benötigt er aber nun für den Formaufbau und dafür, die Probleme zu beheben. Denn nur wieder fit zu sein wird alleine wohl nicht reichen. Weltmeister Anderson Peters aus Grenada hat in dieser Saison schon einen gewaltigen Wurf hingelegt: Die 93,07 Meter bedeuten Weltjahresbestleistung. Peters, der seine Bestmarke um fast sechs Meter übertraf, wurde in der Vergangenheit nur von vier Männern überboten. Einer davon ist Vetter, der eine solche Weite aktuell aber nicht draufhat. Daran verschwendet er momentan aber „keine Gedanken", denn es gehe jetzt nur „um mich und meine Gesundheit, die muss ich einfach schützen."
Zu dieser Erkenntnis musste der „Haudrauf-Typ" dem Vernehmen nach auch ein bisschen gezwungen werden. Sein Trainer Obergföll soll auf die jüngsten Startabsagen gedrängt haben, weil im Superjahr der Leichtathletik zu viel auf dem Spiel steht. Johannes Vetter kann sich mit Erfolgen in München und Eugene wieder zurück in den Kreis der größten Sportstars Deutschland werfen – doch die Gefahr des Absturzes besteht auch. Zwei Pleiten wie in Tokio würden kräftig am Image des Gewinnertyps Vetter kratzen.
Sein langjähriger Rivale Thomas Röhler kann mit Vetter mitfühlen. Er selbst kämpft sogar national um den Anschluss, bei der DM in Berlin landete der Rio-Olympiasieger und Europameister mit einer für ihn eigentlich indiskutablen Weite (71,81 Meter) nur auf Platz fünf. „Wir sind in einer technisch filigranen Disziplin, und dann hast du die Komponente des eigenen Körpers. Wenn der die Technik, die du dir vorstellst, nicht umsetzen möchte, hast du ein Problem", sagte er Röhler, der genau wie Vetter von Verletzungen geplagt ist. Und der Speerwurf, ergänzte Röhler, sei nun mal „eine Disziplin, die nur mit Risiko, mit Geschwindigkeit funktioniert."
Vetter weiß das. Doch noch ist nicht die Zeit für volles Risiko gekommen. Aber er arbeitet daran.