Im April tagte erstmals der Berliner Klimabürger:innenrat. Vor Kurzem legte er in Anwesenheit der grünen Umweltsenatorin Bettina Jarasch Empfehlungen für die Politik vor.
Es ist ein eher seltenes Szenario, das sich da an diesem sommerlauen Abend Ende Juni im Berliner Abgeordnetenhaus abspielt. In der Mitte des Plenarsaals stehen ausnahmsweise keine Politiker, sondern acht Menschen ohne jedwedes politische Amt. Sie kommen aus verschiedenen Stadtteilen und Berufen und sind unterschiedlich alt. Der wohl älteste unter ihnen sitzt in einem Rollstuhl. Seine Begleiterin hatte ihn kurz zuvor in den Saal geschoben. Die Frauen und Männer gehören zu den 100 Menschen des „Berliner Klimabürger:innenrats".
Sie stellen ihre klimapolitischen Empfehlungen im Abgeordnetenhaus vor: Teils mit nervöser, teils mit sehr sicherer Stimme tragen sie die Vorschläge des Gremiums vor und überreichen sie schließlich Berlins Umweltsenatorin Bettina Jarasch. Einer ihrer Leitsätze lautet, dass Klimaschutz nicht nur oberste Priorität habe, sondern auch „zügig, entschlossen und sozial gerecht umgesetzt werden" müsse.
Acht Wochen lang haben die zufällig ausgewählten Beiratsmitglieder intensiv miteinander diskutiert und sich dann auf wesentliche Punkte geeinigt. Dabei berieten sie über die Themen Mobilität, Gebäude und Energie sowie Konsum und Grünflächen. „Wir waren uns alle einig, dass der Energie- und Ressourcenverbrauch in allen Bereichen – Staat, Wirtschaft und Gesellschaft – reduziert werden muss", sagt der 27 Jahre alte Malte Hally aus Treptow-Köpenick an diesem Abend im Plenum. „Dafür braucht es sozial gerechte Maßnahmen, Aufklärung und Dialog zwischen Politik und Bevölkerung."
Insgesamt die höchste Einigkeit erzielten die Hundert in puncto Energie. So etwa sprachen sich sehr viele für klimafreundliche Energiegewinnung mit weniger bürokratische Hürden aus. Auch soll es Berlinern leichter gemacht werden, kleine Solaranlagen auf dem Balkon zu installieren. Dafür müsse das Land Berlin im landeseigenen Stromnetz die technischen Voraussetzungen schaffen, so die Empfehlung. Gas- und Ölheizungen sollen verboten und bis 2035 schrittweise abgebaut werden.
Beim Thema Gebäude sprach sich eine große Mehrheit für eine schnellere Umsetzung von energetischen Sanierungen aus. Zudem empfahlen sie, den Milieuschutz so anzupassen, dass eine energetische Sanierung im Sinne des Klimaschutzes möglich und zugleich „sozial verträglich" ist. Weiter plädierte der Bürgerbeirat für eine Solar- und Gründächerpflicht in Berlin.
Konsum und Grünflächen waren die Themen, die das Gremium eigenständig mit in die Diskussionen gebracht hatte. Mit großer Mehrheit sprachen sich die Beteiligten dafür aus, dass der Senat Lebensmittelverschwendung durch gesetzliche Regelung aktiv bekämpft. Auch soll die Stadt ihre „Zero-Waste-Strategie im Sinne der Kreislaufwirtschaft" besser umsetzen. Das heißt unter anderem: weniger Verpackungsmüll, mehr Reparaturmöglichkeiten und eine Vereinfachung des Recyclings für Produkte. Die Frauen und Männer des Beirats wünschen sich zudem eine grünere Hauptstadt: So soll das Land Berlin seine Bäume besser schützen und Vorreiter werden bei der Dachbegrünung und beim Entsiegeln öffentlicher Flächen.
Im Bereich Mobilität gab es die höchste Zustimmung für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV). Bis auf eine Person stimmten alle dafür. Empfohlen wurde eine schnellere Taktung, der Ausbau von Schnellbussen sowie ein durchgängiger Nachtbetrieb, etwa über Rufbusse und Sammeltaxen. Zudem plädierten viele für weniger Autoverkehr, mehr Busspuren, dauerhaft niedrige Ticketpreise für den ÖPNV sowie mehr und sicherere Radwege.
Der Bürgerbeirat war „komplett gemischt zusammengesetzt", sagte die Umweltsenatorin in ihrer Rede. Es gab „passionierte Radfahrerinnen, Fußgänger, Autofahrer, alle ÖPNV-Nutzerinnen", die das Thema in „dieser Breite" diskutiert hätten. Und die „doch ein sehr deutliches Votum dafür abgegeben haben, dass der Autoverkehr insgesamt reduziert werden" müsse. „Das heißt", so die Senatorin weiter, „wir brauchen weniger Autos. Autofahren soll sogar unattraktiver werden."
Gerade über Mobilität wurde im Bürgerrat besonders heftig debattiert. Da das „im Vorfeld schon klar gewesen" sei, habe man „extra viel Zeit dafür eingeplant", erläutert Rabea Koss, Sprecherin des Bürgerbeirats. Es sei „sehr spannend gewesen zu beobachten", wie Menschen, die sonst nicht miteinander redeten, zusammen diskutiert und nach Lösungen gesucht hätten. Grundsätzlich sei die Stimmung „kollaborativ" gewesen. Einen ähnlichen Eindruck hat auch Tanja Tesic. Sie ist eine von den hundert ausgelosten Berlinerinnen. „Wir hatten hochkribbelige Diskussionen, manchmal wurde der Ton auch direkter, aber es gab viele Aha-Momente", erzählt sie. Als die Motivationsrednerin das Schreiben von der Senatsverwaltung aus dem Briefkasten holte, hielt sie es zunächst für Werbung und legte es beiseite. Doch als sie den Brief später öffnete, fand sie, dass es eine „supertolle Chance" sei. „Ich dachte, ich kann einen Beitrag leisten, es zählt auch meine Stimme." Für die 46-Jährige war die Teilnahme wie ein Wink des Schicksals. „Für mich standen Mensch, Natur und auch Klima schon immer im Mittelpunkt."
Idee schon in anderen Ländern
Die Idee eines Klimabürgerrats in Berlin entstand im Jahr 2020. Im Rahmen einer Volksinitiative überreichte die Bürgerinitiative „Klimaneustart Berlin" mehr als 20.000 Unterschriften an das Abgeordnetenhaus. Infolge einer offiziellen Anhörung empfahlen die Abgeordneten die Umsetzung eines Bürgerrats zum Klimaschutz. Ende April dieses Jahres tagte der Bürgerbeirat schließlich zum ersten Mal.
Neu ist die Idee eines solchen Bürgerrates nicht. In Irland etwa diskutierte das „Citizens’ Assembly" schon im Jahr 2016 über gleichgeschlechtliche Ehe und das Recht auf Abtreibung und 2017 über Klimafragen. Die Empfehlungen der irischen Bürgerräte mündeten später in Gesetzesänderungen. Auch in Großbritannien und Frankreich tagten 2020 Klimabürgerräte. In Deutschland gab es vor einem Jahr den ersten bundesweiten Klimabürgerrat. Vergleicht man die Empfehlungen des Berliner Klimabürgerrats mit denen des bundesweiten, finden sich viele Übereinstimmungen. Aber es gibt auch Unterschiede. So etwa wurde eine City-Maut von den beteiligten Bundesbürgern damals „knapp abgelehnt", während sich jetzt in Berlin 69 Prozent dafür aussprachen.
Möglicherweise bieten Bürgerräte auch die Chance, teils verloren gegangenes Vertrauen in die Politik zurückzubringen. Tanja Tesic zumindest wünscht sich von Politikern mehr Nähe zu den Bürgern. „Die letzten zwei Jahre Corona haben viele Menschen emotional heruntergefahren", sagt sie. Doch die Politik habe während der Pandemie „zu hart" reagiert, anstatt Mitgefühl zu zeigen. „Wir brauchen authentische, emotionale Persönlichkeiten, die mitreißen, die mit Leib und Seele dabei sind", sagt sie. „Das sind Leute, die Menschen abholen können, damit sie wieder Vertrauen in die Politik fassen." Und sie hofft, dass die Empfehlungen des Bürgerbeirats, die ausgesprochen wurden, tatsächlich „bei der Politik ankommen und umgesetzt werden". Die Mitarbeit beim Klimarat sei vor allem ein „Denkanstoß". Mit der Übergabe der Empfehlungen sollte es für keinen zu Ende sein, sagt sie. Das sei erst der Anfang. Ähnlich sieht es auch die Umweltsenatorin: „Jetzt beginnt unsere Arbeit von uns als Regierung", sagt Jarasch und kündigt an, dass der neue senatsübergreifende Klima-Ausschuss am 6. September tagen wird. „Wir werden uns dort mit den Empfehlungen auseinandersetzen."