Erst Pandemie und Lockdown, jetzt Energiewende forciert durch den russischen Angriffskrieg. Die Folgen treffen Menschen unterschiedlich hart. Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, Dr. Ulrich Schneider, fürchtet um den sozialen Zusammenhalt.
Herr Dr. Schneider, wohin steuert Deutschland im kommenden Herbst in Fragen der sozialen Gerechtigkeit?
Wenn jetzt die Politik nicht umgehend reagiert, dann könnten die Folgen der erzwungenen Energiewende zu fatalen Folgen im Bereich der Gesellschaft führen. Allein die Folgen der Lockdowns haben im sozialen Gefüge in den vergangenen zwei Jahren zu erheblichen sozialen Verwerfungen geführt. Das belegt auch unser Armutsbericht für 2021. Von Armut betroffen waren im letzten Jahr fast 14 Millionen Menschen, das sind fast 17 Prozent der Bundesbürger. Ein trauriger Höchststand, den es seit der Wiedervereinigung vor 30 Jahren nicht gab. In diesen Zahlen ist selbstverständlich noch überhaupt nicht die aktuelle Inflation eingerechnet. Darum gehe ich davon aus, dass sich diese Armutsspirale in den kommenden Monaten massiv weiterdrehen wird. Da hilft es auch nicht, dass die Inflationsrate im Juni um 0,2 Prozent im Vergleich zum Mai zurückgegangen ist. Weit über sieben Prozent Preissteigerungen sind für das soziale Gefüge viel zu viel.
Das heißt aber auch: Die weit höheren Preise gegenüber dem Vorjahr werden auch nicht wieder zurückgehen?
Natürlich nicht! Ist erst mal ein Preisniveau erreicht, bleibt das auch bestehen, keiner wird seine Preise senken, das ist eine statistische Gewissheit. Wir haben jetzt im Bereich des täglichen Bedarfs, also Grundnahrung und Lebensmittel, doch längst eine Preissteigerung von zehn bis 15 Prozent. Damit wird sich die Armut in den kommenden Monaten weiter verschärfen, denn bei diesen Zahlen handelt es sich ja „nur" um die des täglichen Konsums, da sind die Energiepreise überhaupt nicht eingerechnet. Wenn man das nur überschlägt, müssen die Verbraucher, vor allem die Haushalte mit mittleren und kleinen Einkommen, je nach Energieart, mit mindestens einer Verdoppelung, wenn nicht Verdreifachung der monatlichen Abschläge im Herbst rechnen. Wenn da noch eine Nachzahlung von bis zu 2.000 Euro, am Beispiel einer dreiköpfigen Familie, kommt, werden das diese Lohngruppen nicht bezahlen können.
Aber wie kann der Staat eingreifen? Ein drittes Entlastungspaket nach dem bisherigen Prinzip wird im kommenden Herbst und Winter kaum helfen, oder?
Die ersten beiden Entlastungspakete wurden doch rein nach dem Gießkannenprinzip verteilt. Jede Wählerklientel der beteiligten Regierungsparteien bekommt ein bisschen was, da Tankrabatt, hier 9-Euro-Ticket, ein bisschen Kinderbonus und weitere Einmalzahlungen. Aber für alle! Doch damit werden auch Menschen unterstützt, die es gar nicht notwendig haben. In den kommenden Monaten müssen vor allem die etwas bekommen, die am unteren Ende der sozialen Skala versuchen, finanziell zu überleben. Es kann doch nicht sein, dass während der Pandemie die Armut in Deutschland exorbitant gestiegen ist, während im gleichen Zeitraum das Sparvermögen der Deutschen statistisch auf einen Rekordwert gestiegen ist. Da sind überdurchschnittlich viele Menschen in unserem Land völlig verarmt, während ein kleiner Teil noch reicher geworden ist. Die Umverteilung stimmt nicht mehr in Deutschland.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat in der ersten Juli-Woche zu einer konzertierten Runde ins Kanzleramt eingeladen, um die Inflations-Spirale zu stoppen. Bringt das etwas?
Ja, aber das war doch eine Runde der Tarifpartner und der Arbeitgeber. Wir als Paritätischer Gesamtverband, aber auch die anderen Sozialverbände waren doch gar nicht eingeladen. Es ging doch nur darum, die Tarifpartner zur Mäßigung bei ihren Lohnforderungen in den anstehenden Tarifrunden aufzurufen. Die Gewerkschaften sollen jetzt nicht zu viel fordern und so die Preisspirale nicht weiter anheizen. Erster Denkfehler: Von den ganzen unteren Lohngruppen, die also nicht tarifgebunden sind, war niemand dabei. Ich spreche hier von den Fahrradkurieren, Freelancern, Menschen mit drei Minijobs oder Menschen im Niedriglohnsektor. Sie haben da nicht stattgefunden. Und Rentner, Studierende und Menschen, die staatliche Transferleistungen wie Hartz IV bekommen, wurden dort auch nicht gehört. Eine Farce im Sinne der sozialen Gerechtigkeit.
Das heißt, Sie als Vertreter eines der größten Sozialverbände Deutschlands wurden gar nicht erst eingeladen? In der Pressemitteilung des Kanzleramts las sich das anders.
Nein, mit uns hat Bundeskanzler Scholz noch keinen Kontakt aufgenommen und seien Sie sich sicher, wir Sozialpartner haben entsprechende Anfragen gestartet. Völlig unabhängig davon hat aber Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen ein Gespräch mit uns Wohlfahrts- und Sozialpartnern auf eigene Initiative gesucht und gefunden. Er wollte einfach nur von uns wissen, wie Klimawende und Sozialverträglichkeit zusammengehen. Da haben wir ihm erklärt, dass das ein teures Unterfangen wird.
Das heißt?
Allein durch die jetzt gestiegenen Energiekosten muss die Grundsicherung mindestens um 200 Euro hochgesetzt werden. Beim Wohngeld brauchen wir ganz schnell eine völlig neue Bemessungsgrenze, bei der Bedarfsgrenze muss zum Beispiel von der Netto- auf die Bruttomiete umgestellt werden. Dann muss der Kreis der Bezugsberechtigten auch auf die unteren Lohngruppen ausgedehnt werden. Denn mit den explodierenden Heizkosten haben sich die Variablen zur grundsätzlichen Gewährung zu Ungunsten auch der kleinen und mittleren Einkommen verschoben. Und ganz wichtig sind die Kinder, hier muss dringend etwas geschehen.
Nur zur Orientierung: Wer ist denn derzeit wohngeldberechtigt?
Das ist schon der nächste Punkt: Allein die Wohngeldberechtigung ist ein ungeheuer komplexer und hoch komplizierter Bereich. Das fängt schon damit an, dass ausschlaggebend ist, wo sie wohnen, das ist von Region zu Region völlig unterschiedlich. Aber über dem Daumen gesagt, ist man wohngeldberechtigt, wenn man deutlich weniger hat als die Armutsschwelle darstellt. Die Armutsschwelle liegt bei einem alleinlebenden Haushalt bei 1.200 Euro, bei einem Paarhaushalt liegt sie bei 1.700 Euro. Darum fordern wir: Alle Armen sollten Anspruch auf Wohngeld haben. Ich denke, die Politik wird da auch um eine Reform bei der Wohngeldberechtigung nicht herumkommen. Erst sind über Jahre die Mietpreise explodiert, jetzt kommen auch noch die extrem hohen Energiepreise dazu.
Aber der Staat hat auch einen Vorteil von den hohen Energiekosten, denn damit steigen die Steuereinnahmen, der Staat verdient ja mit.
Da muss ich ihnen widersprechen, der Staat verdient nicht mit, das ist eine verfehlte Begrifflichkeit, auch wenn das Parteien aller politischen Richtungen immer wieder behaupten, da ist ja auch gern von staatlicher Abzocke die Rede. Der Staat nimmt Geld ein, damit er sozial vernünftige Dinge unternehmen kann, zum Beispiel ein drittes Entlastungspaket auflegen kann. Gerade bei den Energiekosten muss man doch genau hinschauen. Die Gutverdiener, die also viel Geld haben, verbrauchen im Alltag ja auch die meiste Energie. Der SUV vor der Tür, großes Haus mit Sauna im Keller. Diejenigen zahlen selbstverständlich viele Steuern auf Strom und Sprit, und dieses Geld kann der Staat an die Armen zurückgeben. Das nennt sich Sozialstaat, was offensichtlich viele immer noch nicht begriffen haben. Aber Sie haben Recht, jetzt muss dieses Geld auch bei den tatsächlich Bedürftigen ankommen.