Die deutsch-britische Soul-Pop-Sängerin Alice Merton wurde durch ihren Hit „No Roots" zu einem globalen Phänomen. Sie hat bislang 650 Millionen Streams gesammelt und war Jurorin bei „The Voice". Mit der Künstlerin sprachen wir über Panikattacken, menschliche Enttäuschungen und ihr vielschichtiges neues Album.
Frau Merton, Ihr zweites Soloalbum „S.I.D.E.S." ist eine Zusammenfassung „der Höhen und der vielen Tiefen, der psychologischen Herausforderungen", denen Sie sich in den letzten zwei Jahren stellen mussten. In welcher Verfassung waren Sie, als Sie sich das Album erarbeiteten?
Ich war in keinem guten seelischen Zustand. Das Lied „Vertigo" habe ich kurz vor der Pandemie geschrieben. Damals habe ich mit einer Therapie gegen meine Bühnenangst begonnen. Das Lampenfieber war so groß, dass es mir keinen Spaß mehr gemacht hat, vor so vielen Leuten zu singen. Und dann kam die Pandemie. Einerseits musste ich nicht mehr Angst haben, jeden Tag auf der Bühne zu stehen, andererseits kam jetzt Existenzangst hinzu. Während der Pandemie musste ich Menschen gehen lassen, die mir sehr wichtig waren. Ich habe das Licht am Ende des Tunnels nicht mehr gesehen und lag monatelang einfach nur im Bett. Für mich ist es sehr schwer, aus solch einem Loch wieder herauszukommen.
Wie ist Ihnen das gelungen?
Irgendwann lernt man, damit umzugehen und zu leben. Man erinnert sich wieder, warum das Leben Spaß macht. Man lernt, dass man stärker ist als man denkt.
Hat Musik Ihnen dabei geholfen?
Auf jeden Fall. Ich habe mich erst dann wieder richtig gut gefühlt, als ich „The Other Side" geschrieben hatte, das letzte Lied auf dem Album. Für mich ein Zeichen, dass es weitergeht und ich irgendwann auch wieder glücklich sein werde.
Sind Sie mittlerweile wieder im Licht?
Auf jeden Fall. Es ist aber nicht so, dass man für den Rest seines Lebens auf der anderen Seite steht, sondern man ist für eine gewisse Zeit glücklich, und dann kommt wieder irgendetwas, was einen überrascht. Es ist ein Auf und Ab. Diese Entwicklung wollte ich in diesem Album darstellen. Wichtig ist, sich über die kleinen glücklichen Momente zu freuen.
Sie hassten während der Pandemie den Gedanken, auch nur fünf Minuten mit sich allein zu sein. Wie sind Sie damit umgegangen?
Am Anfang der Pandemie war ich noch mit meinem damaligen Freund zusammen und habe versucht, mit anderen Leuten in Kontakt zu bleiben. Erst ein paar Monate später ging es mit mir bergab, und ich fühlte mich sehr einsam. Bis dahin war ich nie alleine gewesen. Ich fing dann an, die Schrecken in der Welt zu beobachten und mich zu fragen: Warum muss man sich das Leben antun?
Und zu allem Übel folgte noch eine private Trennung?
Ja. Dazu kam eine sehr schwierige Trennung von jemandem, mit dem ich lange zusammengearbeitet habe. Ein weiterer Schlag ins Gesicht. Darüber habe ich dann den Song „Same Team" geschrieben. Als dieser Mensch mir sagte, er wolle nicht mehr mit mir arbeiten, habe ich nichts mehr verstanden. Weil ich diese Person als mein Standbein angesehen habe. Es war ein sehr ungesundes, besitzergreifendes Arbeitsverhältnis, weil dieser Mensch immer alles angezweifelt hat, was wir getan haben. Selbst dann, wenn es total schön war. Das hat mich fertiggemacht. Nachdem dieser Mensch, an den ich mich so geklammert hatte, gegangen war, brach für mich eine Welt zusammen. Das habe ich jetzt alles musikalisch verarbeitet. Und in „Loveback" geht es darum, dass man die Leidenschaft zurückhaben will, die man im Leben oder beim Musikmachen gespürt hat. Die Liebe zur Musik schien bei mir verloren gegangen zu sein.
Achten Sie jetzt mehr darauf, sich mit positiven Menschen zu umgeben?
Auf jeden Fall mit Menschen, die mich genauso respektieren wie ich sie. Menschen, die einen nicht indirekt runtermachen, sondern die etwas aufbauen wollen. Die einfach dasselbe Ziel haben. Ich habe das Bedürfnis, Geschichten und Melodien zu teilen.
Was inspiriert Sie musikalisch?
Mein alter Produzent war überzeugt davon, dass meine Musik in eine bestimmte Richtung gehen sollte. Wenn jemand dich einschränken will, reagierst du oft mit dem Gegenteil und sagst: „Nein, so werde ich es machen!" Ich will mit diesem Album zeigen, wie viele Seiten ich in mir habe. Es ist einfach aus mir herausgeplatzt.
Hatten Sie immer genaue Vorstellungen von Ihrer Musik?
Nein. Ich wusste, ich will es irgendwann schaffen, dass ganz viele Leute zu meinen Konzerten kommen und meine Songs mitsingen. Durch meine erste Single „No Roots" habe ich gelernt, dass man eigentlich nichts beeinflussen kann. Es wird sich alles so entwickeln, wie es sich entwickeln soll. Ich hätte nie gedacht, dass dieser von mir in Berlin geschriebene Song eine große Nummer wird, aber plötzlich wollten ihn ganz viele Menschen auf der Welt hören. Das ist für mich bis zum heutigen Tag ein Wunder.
Die Single „No Roots" hat in Deutschland mit über 600.000 verkauften Einheiten Dreifach-Gold-Status erreicht, war in Frankreich Platz eins der Downloadcharts und hat sich weltweit 1,6 Millionen Mal verkauft. Der Song hat Sie sogar in Amerika bekannt gemacht.
Ich war gerade in Amerika auf Tour im Vorprogramm von Bastille. Alle sagen, wer es nach Amerika schafft, der hat es wirklich geschafft. Aber wenn ich ehrlich bin, macht mir das Touren in Europa mehr Spaß. Die Amerikaner sind sehr offen, aber meine Familie lebt in Europa. Wenn ich hier toure, habe ich das Gefühl, nie ganz weit weg von ihr zu sein.
Leben Sie noch in Berlin?
Mein Label sitzt in Berlin, wo ich auch einige Songs des neuen Albums aufgenommen habe. Ich kann überall Musik machen. „Mania" zum Beispiel habe ich in Amerika eingespielt. Aber ich bin letztes Jahr nach London gezogen. Hier ist gerade mein Lebensmittelpunkt. England war das erste Land, das die Coronabeschränkungen abgeschafft hat.
Ist das gut?
Ich gehe nicht oft in Kneipen, Bars oder Clubs. Ich bin lieber im Studio, zu Hause oder bei Freunden. Bei lauter Musik kann ich mich auch nicht gut auf ein Gespräch konzentrieren.
Ich habe gehört, Sie mögen keine engen Räume, keine Menschenmenschen auf zu wenig Platz.
Menschenmassen oder kleine Räume mit vielen Menschen versuche ich zu meiden. Das ist eigentlich ein Widerspruch, weil ich als Künstlerin oft gerade an solchen Orten bin. Ich musste lernen, damit umzugehen. Deshalb brauchte ich eine Therapie. Es ist jetzt für mich einfacher, auf eine Bühne zu gehen, ohne eine Panikattacke zu bekommen.
Wie schlimm war Ihre Bühnenangst?
So schlimm, dass mir vor jedem Auftritt schlecht wurde und ich manchmal mitten im Song geweint habe. Ich habe die ganze Zeit gezittert und nicht erkannt, ob ich Bauchschmerzen habe oder nur nervös bin. Das fing schon sehr früh an. Ich habe mit sechs Jahren in Kanada Klavierkonzerte gespielt. Mein ganzer Körper hat dabei gezittert, aber ich habe einfach weitergemacht. Meine Eltern haben mich auch gepusht. Ich habe das Spielen geliebt, aber mit Lampenfieber hatte ich mein Leben lang zu kämpfen. Ich weiß, dass ich diesen Job liebe, aber mein Körper liebt ihn nicht. Diese zwei Seiten müssen sich besser kennenlernen. Zum Glück gelingt mir das dank der Therapie immer besser.
Musiker müssen außergewöhnliche Leistungen auf den Punkt liefern – und das vor großem Publikum. Brauchen Sie dafür besonders viel mentale Stärke?
Ich frage mich manchmal auch, warum ich mir das ausgesucht habe! Wer nicht mit viel mentaler Stärke aufwächst, für den wird es schwierig. Aber sie kommt mit der Zeit. Ich habe jetzt eine neue Art entwickelt, meine Konzerte zu genießen.
Was gibt Ihnen heute ein gutes Bühnengefühl?
Ich gehe in mich und stelle mir vor, wie die Bühne und die Menschen aussehen, bevor ich überhaupt rausgehe. In dem Moment, wo ich den Jubel höre, habe ich dieses Glücksgefühl in einer kleinen Box in meinem Kopf abgespeichert. So, dass es für mich das schönste Gefühl der Welt ist. Egal, was auf der Bühne passiert – es wird immer in meinem Herzen sein. Ich gehe vor der Show die ganze Situation in meinem Kopf durch: was alles passieren kann, wie das alles riecht, wie der Tag aussieht, wie die Menschen sich verhalten. Ich versuche, vorab die Momente zu erkennen, wo ich eine Panik verspüre und beruhige mich dann.
Manche Musiker trinken gelegentlich ein, zwei Gläser Sekt oder Bier zur Beruhigung vor dem Konzert. Hilft Alkohol?
Da ich eigentlich keinen Alkohol trinke, mache ich das nicht.
Welche Art von Emotionen verarbeiten Sie auf der neuen Platte?
Die wichtigste Emotion auf dieser Platte ist das Gefühl des Loslassens. Zu lernen, wann der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist und eine Entscheidung zu akzeptieren, so wie sie ist. Man kann nicht alles beeinflussen und kontrollieren. So funktionieren menschliche Verhältnisse nicht.
Und was sollen die Leute fühlen, die sich das Album anhören?
Mit „The Other Side" zum Beispiel will ich daran erinnern, dass es einem nach einer schwierigen Situation irgendwann auch wieder besser gehen wird. Bei „Breathe In, Breathe Out" zeige ich, dass man in bestimmten Situationen mal kurz durchatmen muss. In „Vertigo" singe ich, dass es normal ist, Panikattacken zu haben. Manchmal spürt man einfach nur Schwindel. In „Loveback" habe ich das Gefühl, dass meine Leidenschaft mir weggenommen wurde und ich sie zurückhaben will. Manchmal muss man für die Sachen kämpfen, die man wirklich liebt. Ich glaube, diverse Songs sind wie eine Erleuchtung.
In welcher Phase Ihres Lebens befinden Sie sich momentan?
Ich habe das Gefühl, dass ein neues Kapitel meines Lebens beginnt. Corona kommt langsam zu einem Ende und Konzerte finden wieder statt. Man kann auch wieder reisen. Ich finde es wichtig, im Kopf zu behalten, was in den letzten Jahren alles passiert ist. Aber jetzt kommt ein Neuanfang!
Ein Song auf dem Album heißt „Hero". Wer sind Ihre persönlichen Heldinnen?
Alanis Morissette, Regina Spektor, Kate Bush, Florence and the Machine. Die Liste ließe sich fortsetzen. Ich höre gerade sehr viel Musik von Frauen. Es gibt da draußen viele weibliche Acts, aber bei Festivals könnten ruhig noch mehr Frauen im Rampenlicht stehen.
Haben Frauen es im Musikgeschäft schwerer als Männer?
Ja, als Frau ist es wirklich schwerer, ins Geschäft reinzukommen, denn es ist eher eine Welt der Männer. Langsam kommen aber mehr und mehr Frauen dazu. Ich bin mit meiner Band seit sechs Jahren zusammen, deshalb wäre es für mich sehr schwierig, jemanden gegen eine Frau auszutauschen. Wir kennen uns alle seit der Uni. Aber ich kenne auch viele Bands, in denen Frauen mitspielen. Das finde ich super.
In Berlin haben Sie Ihr eigenes Label namens Paper Plane Records gegründet, zusammen mit Ihrem Manager Paul Grauwinkel. Haben Sie als Künstlerin die Zügel in der Hand oder ist jeder Musiker auf eine Plattenfirma angewiesen, um erfolgreich zu sein?
Ich habe komplette kreative Freiheit. Das ist mir sehr wichtig. Auch in Amerika habe ich ein Indielabel. Die kennen den Markt besser als wir. Ich habe bereits in den USA, Mexiko und in vielen Ländern Europas gespielt. Ich will unbedingt noch in Asien auftreten.
Sie besitzen die britische und deutsche Staatsbürgerschaft. Wie deutsch sind Sie?
Ich schätze Pünktlichkeit und Ordnung. Das wären so meine deutschen Eigenschaften. Ehrlich gesagt fühle ich mich zu keiner bestimmten Nation hingezogen. Ich liebe Deutschland, ich liebe England und Kanada, aber ich fühle mich einfach als Mensch.