Seit ihrer Gründung 1955 hat die Documenta in Kassel immer wieder für Debatten gesorgt. Ihre 15. Ausgabe ist nun zum Politikum geworden. Das aber sollte nicht vom Besuch abhalten, denn Installationen, Videos, digitale Kunst von Kollektiven, vor allem aus dem globalen Süden, sorgen für spannende Diskussionsansätze.
Etwas verloren steht er auf dem Friedrichsplatz, der grüne Pavillon. Auf den ihn umgebenden Schildern sind Parolen wie „We want land not handouts" und „White invaders you are living on stolen land" zu lesen, am Eingang ist die Aufschrift „Aboriginal Embassy" befestigt. Das Werk von Richard Bell, inspiriert von der ersten „Tent Embassy" 1972, macht auf die Ungleichbehandlung indigener Völker in Australien aufmerksam. Rund um das Kunstwerk von Richard Bell finden Diskussionen und Talks statt, live und als Stream, außerdem wurden Slam-Poeten, Rapper und Filmemacher eingeladen, den Pavillon zu bespielen.
Diese Form der Kunstpräsentation ist beispielhaft für die „Documenta fifteen". Perspektiven aus dem „globalen Süden" zeigen und nach Europa zu holen: Das war und ist das erklärte Ziel der Kuratoren, die die aktuelle Ausgabe der wohl weltweit größten Ausstellungsreihe für zeitgenössische Kunst konzipiert haben. Doch kaum war die Schau eröffnet, gab es einen riesigen Eklat. Denn auf einem Wandbild des indonesischen Agitprop-Kollektivs Taring Padi waren eindeutig als antisemitisch zu lesende Figuren zu erkennen. Ein Soldat mit Schweinsgesicht und Davidstern – auf dem Helm die Aufschrift „Mossad", der Name des israelischen Geheimdienstes, außerdem wurde ein durch Schläfenlocken als orthodoxer Jude erkennbarer Mann dargestellt, mit blutunterlaufenen Augen, Hakennase, Raubtierzähnen und SS-Runen am Hut. Heftige Kritik kam von Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die sich über die antisemitische Bildsprache empörte und den Organisatoren der Documenta Versagen vorwarf. Der Zentralrat der Juden erklärte, die Kunstfreiheit ende da, wo die Menschenfeindlichkeit beginne, auf der documenta sei diese Linie überschritten worden. Die Veranstalter entfernten das Wandbild – die indonesische Kuratorengruppe Ruangrupa und die Leiter der Documenta entschuldigten sich. Was den angerichteten Schaden allerdings nicht wettmachen konnte. Um zukünftige Debakel zu vermeiden, hat Kulturstaatsministerin Claudia Roth vor Kurzem einen Fünf-Punkte-Plan vorgelegt. Überdies haben sich der Kulturausschuss des Bundestags sowie der Bundestag selbst mit dem Eklat auf der Kunstschau beschäftigt. Dabei forderte Hessens Kunstministerin Angela Dorn eine Aufklärung des Skandals aber auch Konsequenzen, sie unterstütze Kulturstaatsministerin Roth darin, die Schau zu reformieren, so Dorn.
Wandbild nach Eklat entfernt
Eine andere Position vertritt hingegen Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle als Aufsichtsratsvorsitzender der Documenta, er lehnt eine stärkere Einflussnahme des Bundes ab, würde, wie er kürzlich ankündigte, sogar auf die finanzielle Unterstützung aus Berlin verzichten.
Noch ist also völlig unklar, ob und wie eine nächste Documenta gestaltet und finanziert wird. Unterdessen können sich Kunstinteressierte noch bis zum 25. September Arbeiten von Künstlerkollektiven aus Afrika, aus Amerikas Süden, aus Südostasien anschauen.
Da stößt man zum Beispiel auf der Karlsaue an der Fulda auf Zelte, die mitunter als Freiluft-Saunen fungieren. Tief im Park befindet sich darüber hinaus ein Komposthaufen, an dem das interdisziplinär arbeitende Künstlerkollektiv La Intermundial Holobiente einen Raum zum Lesen, Schreiben und Diskutieren angesiedelt hat, der gemeinsam mit Studierenden seine endgültige Form finden soll.
Immer wieder taucht beim Lesen der Begleittexte für die Ausstellungen das Wort „lumbung" auf. Das indonesische Kollektiv Ruangrupa, das die diesjährige Documenta kuratiert, bezeichnet mit diesem Begriff, der eigentlich eine kommunale Reisscheune bezeichnet, die Art der Zusammenarbeit zwischen den zahlreichen Kollektiven, die die Documenta gestalten. So sollen in die künstlerische Praxis nicht nur rein ästhetische Gesichtspunkte, sondern auch Fragen nach Wirtschaftlichkeit, Nachhaltigkeit, und Umgang mit Ressourcen mit einfließen, die das gesamte „Ekosistem" (so ein weiteres Schlagwort aus dem Indonesischen) tragen.
Ästhetik und Nachhaltigkeit
Kunst aus Haiti ist in der Kirche St. Kunigundis zu sehen – Skulpturen von Atis Rezistans (Künstler des Widerstands) aus Port-au-Prince, die haitianische Alltagskultur, historische Perspektiven und Voodoo-Inhalte miteinander verbinden und aus gefundenen Materialien, aber auch menschlichen Überresten wie Totenschädeln bestehen. Die Documenta-Halle wurde vom Wajukuu Art Project mit einem Wellblech-Vorbau versehen, der nur durch einen von Grubenlampen erleuchteten Gang betreten werden kann und die Atmosphäre des Slums Lunga Lunga in Nairobi nachbildet. An den Wänden lassen sich mit der Zeit surrealistische Gemälde erkennen, im Raum finden sich eindrucksvolle Installationen aus Metall, Gummi und Sand. Der eigentliche Ausstellungsraum der Documenta-Halle wird wiederum vom Instituto de Artivismo Hannah Arendt (Instar) aus Havanna bespielt, das an der Schnittstelle von staatsbürgerlichem Engagement und Aktivismus eine Gegenerzählung der Kunst- und Kulturgeschichte Kubas ermöglichen will, befeuert durch Aktionen in den sozialen Netzwerken. In wechselnden Ausstellungen zeigt es im Documenta-Zeitraum einen Ausschnitt aus seiner Arbeit.
Die Diskussion über antisemitische Bildzitate und auch darüber, wo die Grenze zwischen Freiheit von Kunst und Menschenfeindlichkeit verläuft, spielt immer wieder an den einzelnen Ausstellungsorten eine Rolle. Längst haben sich die Besucher-Guides auf kritische Rückfragen eingestellt, etwa zu den digitalen Gemälden des palästinensischen Künstlers Mohammed Al Hawajri, Teil des Kollektivs A Question of Funding. Er hat unter dem Titel „Guernica Gaza" europäische Maltradition mit krassen Kriegsszenen aus dem Gazastreifen kombiniert – und nimmt dabei Assoziationen mit dem Angriff der Wehrmacht auf Spanien in Kauf. Ein Video thematisiert die Solidarität der sogenannten Japanischen Roten Armee mit den Palästinensern, die 1972 in einen Terroranschlag am Flughafen von Tel Aviv mündete, 24 Menschen kamen dabei ums Leben. Eine weitere widersprüchliche Arbeit, die zeigt, dass die Diskussion um die zukünftige Gestaltung der Documenta gerade erst begonnen haben kann.