Einmal um den Gardasee, das sind rund 140 Kilometer auf einer meist sehr verkehrsreichen Straße. Ganz entspannt ist die Rundfahrt mit dem Schiff.
Eine betörende Farbe hat der See an diesem Maitag. Ein Mix aus Graugrün und Türkis. Ein leichter Wind weht, die Sonne spielt hinter Schäfchenwolken Versteck. Es ist kurz nach halb vier. Auf dem eben noch fast menschenleeren Schiffsanleger von Peschiera del Garda am südöstlichen Ufer des Sees wird es betriebsam. Am Fahrkartenhäuschen gehen die Jalousien hoch, eine Mitarbeiterin der Navigazione Lago, der Schifffahrtgesellschaft, öffnet nach langer Mittagspause die Tür. Einige Senioren mit wattierten Westen führen die Warteschlange vorm Ticketschalter an. Drei junge Frauen mit luftigen Sommerkleidchen und großen Sonnenbrillen gesellen sich dazu. Die Einzige, die mit großem Rollkoffer an Bord geht, bin ich. Eine Woche lang möchte ich den großen See, den vor allem deutsche Urlauber so lieben und um den ich bisher stets einen Bogen gemacht hatte, kennenlernen. Von allen Seiten. Und nur mit dem Schiff. Kurz vor vier legt pünktlich das Linienschiff „Baldo" an. Auch am Oberdeck sind noch viele Plätze frei. Noch hat die Hochsaison al Lago di Garda nicht begonnen.
20 Minuten später heult die Schiffssirene kurz auf. „Prossima fermata Lazise, next Stopp Lazise", meldet sich der Kapitän durch den quäkenden Lautsprecher. Wie eine heitere Theaterkulisse wirkt Lazise, das malerische Städtchen am Südostufer mit den Resten seiner Befestigungsanlagen. Die mächtige Mauer mit den vielen Türmen bot dem lange unter venezianischer Herrschaft stehenden Handelsstädtchen Schutz vor den Angriffen der Mailänder. Im kleinen Fischerhafen von Lazise, wo heute bunte Boote schaukeln, lagen einst die Galeeren, mit denen die Seemacht Venedig auch die Uferzonen des Gardasees kontrollierte.
Verwöhnpause im Hotel-Spa
Aufgeregt schwatzend stürmt in Lazise eine italienische Schulklasse an Deck. Chipstüten machen die Runde. Einer der riesigen Freizeitparks nahe Lazise sei Ziel des Schulausflugs gewesen, erfahre ich von Davide, dem Grundschullehre-aus Padua, der mir nun gegenübersitzt. Nach all den der Pandemie geschuldeten Einschränkungen der letzten beiden Jahre für alle ein beglückender Tag.
Unser Smalltalk endet nur eine Viertelstunde später. Die „Baldo" legt in Bardolino an, dem Ziel meines ersten Seereisetages. Einst beschauliches Fischerdorf, gehört der malerische Ort seit Jahrzehnten zu den beliebtesten touristischen Destinationen am See. Im flachen Hinterland bieten sich riesige Campingplätze für den preiswerten Familienurlaub an. Radrouten in Ufernähe lassen sich auch mit kleinen Beinen bestens meistern. Mir scheint ein Schoppen Bardolino in einem der Terrassen-Cafés am Hafen die richtige Einstimmung zu sein. Fatih, der Kellner, serviert zu dem rubinroten lokalen Wein fleischige Oliven, Mandeln, Salzgebäck – wie es sich für einen stilechten Aperitivo in Norditalien gehört.
Die südöstliche Garda-Region ist seit Römerzeiten für ihre Thermalquellen bekannt. Mein Hotel, nur ein paar Fußminuten von der Altstadt entfernt, macht sich das Wasser der San-Severo-Quelle zunutze. Eineinhalb Tage lang gönne ich mir hier Entspannung im Spa, ausgedehnte Massagen und lasse mich im hoteleigenen Gourmet-Restaurant verwöhnen, in dem Chef Simone Gottardello regionale Produkte in kulinarische Kunstwerke verwandelt.
An Tag drei meiner Gardasee-Rundreise stehe ich morgens um 10 wieder am Anleger. Dieses Mal ist es die „Pelèr". Giuseppe Mafale, Direktor der Schifffahrtgesellschaft Navigazione Laghi, hatte das nach dem morgendlichen Nordwind am See benannte Linienschiff in unserem Interview als umweltfreundlichen Neuzugang seiner Flotte angekündigt. Mit mir gehen ein paar Dutzend Touristen an Bord. Mit und ohne Kinder. Mit und ohne Rad. Deutsch dominiert das Sprachengewirr, aber auch Engländer und Niederländer sind mit von der Partie. Bei Garda, der nächsten Station an der Ostküste, wird die Gegend bergiger. Das 4.000-Einwohnerstädtchen, nach dem die Menschen im Mittelalter den ganzen See benannten, besticht mit romantischer Lage zwischen der Rocca, einem schroff aufragenden Felsen, und der hügeligen Halbinsel San Virgilio. Nachdem fast alle Passagiere von Bord gegangen und neue zugestiegen sind, nimmt die „Pelèr" Kurs auf die andere Seeseite. Während der östliche Gardasee Teil der Provinz Verona in der Region Venetien ist, gehört das Westufer zur Provinz Brescia und somit zur Lombardei. Kurz bevor wir den ersten Hafen am Westufer erreichen, zieht die „Pelèr" an der Isola del Garda vorbei, der größten Insel im See. Mit ihrer von Palmen und Zypressen gerahmten Villa im venezianischen Stil gibt sie einen Vorgeschmack auf die architektonische Pracht, die Besucher am lombardischen Gardasee erwartet. Salò, Gardone, Maderno und Gargnano – überall, wo das Schiff anlegt, säumen historische Villen und Grandhotels das Ufer, künden von erfolgreichen Unternehmerbiografien und von der Zeit um 1900, als anstelle von Fischerhäusern vornehme Herbergen für den aufkommenden Luxus-Tourismus geschaffen wurden. Immer höher werden die Gardasee-Berge, je weiter die Reise gen Norden geht. Eindrucksvolle Kontraste bieten sich in der nun fast schon fjordartigen Landschaft. Während die Felsen auf der Westseite aus großer Höhe jäh in den See abstürzen, beschreiben die Bergrücken am Ostufer sanftere Linien. Dahinter aber, in zweiter Reihe, überragen die schneebedeckten 2.000er-Gipfel des Monte Baldo-Massivs die Szenerie. Um 14 Uhr hat die „Pelèr" ihre Endstation erreicht – und ich mein nächstes Etappenziel. Riva del Garda am Nordufer des Sees gehörte bis zum Ersten Weltkrieg zum österreichisch-ungarischen Habsburgerreich und heute zum Trentino, der Autonomen Provinz Trient. Palmen und Oleander geben der Uferzone einen mediterranen Touch. Sonst aber hat die Gegend einen alpinen Charakter. „Wir sind der sportlichste Teil des Gardasees", sagt Luisa Visintainer von der Garda-Trentino Tourismuswerbung. „Wer hier Urlaub macht, liebt in aller Regel knackige Trekking-Touren, Mountainbike-Pisten und Klettersteige." Surfer und Kite-Surfer finden hier, wo der See am schmalsten und die Berge am steilsten sind, ebenfalls ihr Dorado. Zuverlässig sorgen die Winde „Pelèr" und „Ora" für Kraft im Segel und Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 60 Stundenkilometern.
Malerische Orte und Landschaften
Für Tagesausflügler, die es ruhiger angehen lassen wollen, bietet sich ab Riva eine kleine Wanderung zur Cascata Varone an – drei Kilometer ab Ortsmitte. Seit über 20.000 Jahren gräbt sich das Wasser ab dieser Stelle durch den Felsen. So ist eine Grotte entstanden, in der das Wasser aus 100 Metern Höhe in die Tiefe fällt. Besucher wandeln in der Grotte auf einem künstlich angelegten Steg, können das von farbigem Scheinwerferlicht in Szene gesetzte Schauspiel auf verschiedenen Ebenen bewundern. Franz Kafka und Thomas Mann waren auch schon hier. Auf dem Rückweg mache ich noch einen Abstecher zur Ölmühle, verkoste Öle, die auch aus Oliven dieser Gegend, dem nördlichsten Olivenanbaugebiet Europas, gepresst wurden.
Die nächsten Tage, südwärts fahrend, mache ich Station im postkartenschönen Limone und im nicht minder malerischen Gardone, wo man historische Zitronengärten bewundern und allerhand Zitronenspezialitäten verkosten kann. In Gardone hat sich der italienische Dichter Gabriele D’Annunzio vor 100 Jahren mit Villa, Park und monumentalem Heldengrab ein Gesamtkunstwerk errichten lassen, das er seiner damals noch recht jungen Nation gewidmet hat. Eine Besichtigung dieses „Vittoriale degli Italiani" ist ein Ausflug in die verstiegene Gedankenwelt des Mannes, der längst ein namhafter Schriftsteller war, als er zum Ideengeber des Faschistenführers Benito Mussolini, zeitweise aber auch zu dessen Gegenspieler wurde.
Eine letzte Nacht am See, ein letzter Landgang in Sirmione, dem bekanntesten Ort am südlichen See mit seiner fast vollständig erhaltenen Scaligerburg, den Thermalanlagen und der hochgelegenen gelben Villa, in der einst Opern-Diva Maria Callas residierte. Nach einem Aperitivo am Strand neben der Burg nehme ich Abschied vom See, mit unzähligen Eindrücken, einem Fläschchen Limoncino und feinem Olivenöl im Gepäck – und leichtem Sonnenbrand auf der Nase.