Seit 2002 ist der Tierschutz als Staatsziel im Grundgesetz verankert. Seitdem ist auf dem politischen Parkett wenig passiert, und Gesetzesverstöße werden auch nicht ausreichend verfolgt.
Schon seit Jahren wird das Thema in den Parlamenten diskutiert: die Kennzeichnung für die Tierhaltung in der Fleischproduktion. In der vergangenen Legislaturperiode war die Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) mit ihrem Vorhaben, ein freiwilliges Logo einzuführen, gescheitert. Klöckners Nachfolger Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) nahm am 7. Juni erneut Anlauf. So stellte der Minister ein verpflichtendes Eckpunktepapier mit fünf Stufen der Tierhaltung vor. Es soll zunächst für die Haltung von Schweinen gelten und muss erst noch vom Bundestag und Bundesrat genehmigt werden. Fleischkonsumenten sollen daran ablesen können, wie viel Platz die Tiere während der Mast hatten, ob frische Luft in ihre Ställe kam und ob und wie lange sie Auslauf im Freien hatten. „Zukunftsfest kann die landwirtschaftliche Tierhaltung nur dann sein, wenn sie dem Tierwohl gerecht wird", sagte der Grünen-Politiker bei der Vorstellung seines Gesetzentwurfs in einer Pressekonferenz. „Wer Tiere nutzt, hat auch die Pflicht, sie gut zu halten." Umgekehrt könne auch von Politik und Gesellschaft eingefordert werden, „die Rahmenbedingungen für das Tierwohl und den Tierschutz zu schaffen und dabei zu unterstützen", so der Minister weiter. Wie verhält es sich mit dem Staatsziel Tierschutz, das Legislative, Judikative und Exekutive umsetzen sollten?
Tierschutz versus Wirtschaft
Der grüne Bundeslandwirtschaftsminister versucht sich derzeit eher in einem schwierigen Spagat zwischen Tierschutz und den wirtschaftlichen Interessen der Tierzüchter. Von 2010 bis 2020 habe sich die Zahl der schweinehaltenden Betriebe halbiert, beklagte er bei der Präsentation des neuen Tierhaltungssiegels. Diese Entwicklung, sagte er weiter, müsse „große Sorgen bereiten". Es ginge um „ländliche Existenzen in unserem Land überhaupt". Er wolle, dass „auch in Zukunft noch gutes Fleisch aus Deutschland auf den Tisch" komme.
Seit 20 Jahren ist der Tierschutz als Staatsziel im Grundgesetz verankert. Damals wurden Tiere in Artikel 20a des Grundgesetzes, in dem bereits die natürlichen Lebensgrundlagen geschützt sind, mit aufgenommen. Tierschützern und vereinzelt auch Politikern ist das zu wenig. „Der Tierschutz gehört mit einem eigenen Artikel (20b) ins Grundgesetz", heißt es etwa im Programm der Tierschutzpartei.
Tatsächlich ist trotz Verfassungsergänzung das Mensch-Tier-Verhältnis nie ernsthaft reformiert worden. Noch immer sind Tierversuche, Massentierhaltung, qualvolle Tiertransporte und vieles mehr an der Tagesordnung – Praktiken, die alles andere als mit dem Tierwohl vereinbar sind. Allein in diesem Monat gab es in Deutschland mehrere Unfälle mit Schweinetransportern. Dabei kamen nicht nur etliche der Tiere ums Leben, sondern auch die Umstände der Tiertransporte waren frappierend: So etwa war auf der A 3 in Bayern ein Transporter mit 900 (in Worten: neunhundert!) Schweinen umgekippt, 700 Ferkel starben. Ein anderes Beispiel sind wiederkehrende Brände von Schweineställen. „In Alt Tellin sind 55.000 Schweine verbrannt, aber so etwas passiert dauernd", sagt Axel Lüssow, Bezirksverordneter der Grünen in Berlin-Pankow und Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Tierschutzpolitik Berlin. „Diese Ställe dürften so gar nicht mehr genehmigt werden, der Brandschutz ist absolut unterirdisch", sagt der LAG-Sprecher im Gespräch. „Nach dem Staatsziel Tierschutz müssten diese Ställe sofort verboten werden." Das passiere aber nicht, weil es immer einen Bestandsschutz gebe. Eigentum steche dann den Tierschutz aus. Dabei sei etwa beim Thema Kükentöten durch ein Urteil festgelegt worden, dass „wirtschaftliche Interessen nicht automatisch über dem Tierschutz" stünden.
Mehr Vollzug im Strafrecht
Der Kommunalpolitiker sieht die Probleme auch in der mangelnden Umsetzung von bestehenden Gesetzen. „Aktuell haben wir ein Vollzugsdefizit, allein durch das nicht ausreichende Personal, das Tierhaltung kontrollieren soll", sagt der grüne Kommunalpolitiker. Zudem seien viele Veterinärbehörden aus seiner Sicht oftmals nicht unabhängig, weil auf dem Land manchmal zu viel Nähe zwischen den Viehzuchtbetrieben und den Veterinärmedizinern bestünde. Auch die einzelnen Verordnungen, „wie was gehalten werden muss, und wo eine Verordnung ein Gesetz wieder aufweicht", müssten angepasst werden, denn sonst stünden die „hehren Ziele in Tierschutz- und Grundgesetz nur auf dem Papier". Als weiteres Beispiel nennt Lüssow zu lange oder wiederholte Übergangsfristen, wie etwa bei der betäubungslosen Ferkelkastration. „Sie sollte längst ausgelaufen sein, aber es wurde einfach weitergemacht, und dann kommt noch mal eine neue Übergangsfrist obendrauf. Das dürfte eigentlich gar nicht passieren", moniert er. Übergangsfristen seien nicht dazu da, bereist tierschutzwidrige Zustände zu verlängern. Auch kritisiert der Tierschutzpolitiker ein Wissensdefizit im Jurastudium. „Viele Staatsanwaltschaften haben in ihrer Ausbildung das Thema einfach nie gelernt." Bei genauerem Hinschauen seien Verstöße gegen Tierschutzgesetze oft auch Wirtschaftskriminalität, da viele Landwirte EU-Subventionen bekämen. Tatsächlich soll laut Koalitionsvertrag der Ampel der Tierschutz bis 2026 ins Strafrecht übergeführt werden.
Özdemirs Vorstoß sieht der Kommunalpolitiker insofern als Fortschritt, als dass durch das Label „mehr Transparenz" hergestellt werde. Allerdings sei abzuwarten, wie die Konsumenten reagieren. „Gerade wenn es eine hohe Inflation gibt, und einige Parteien das Recht auf billiges Fleisch leider als Grundrecht promoten, dann muss es nicht zwingend so sein, dass Informationen auch eine Verhaltensänderung zur Folge haben." Seiner Ansicht nach müsste die Kennzeichnung auch an konkrete Förderungen für die höchsten Haltungsstufen oder einen Ausstieg aus der Tierhaltung geknüpft sein, um effektiveren Tierschutz zu erreichen.
Enttäuscht vom Bundeslandwirtschaftsminister äußert sich Inka Seidel-Grothe, Bezirksverordnete der Tierschutzpartei in Berlin Marzahn-Hellersdorf, gegenüber FORUM: „Das, was angedacht ist, ist keine konsequente Verbesserung", sagt sie. „Wenn Özdemir ein neues Biosiegel rausgibt, damit die Mastschweine zwei Zentimeter mehr kriegen, ist das ein bisschen lächerlich. Da müsste viel mehr passieren." Aus ihrer Sicht sollten die Kasten- und Anbindehaltung genauso verboten werden wie etwa Tierversuche und Tiertransporte. „Es wäre ein Leichtes, das zu stoppen", sagt sie. Man müsse Tiere nicht nach Asien, Afrika oder Sibirien verschiffen und ihnen so eine Qual zumuten.
Höhere Steuer auf Pflanzliches
Die Bezirksverordnete hat mehrere Lösungsansätze. So kann sich Inka Seidel-Grothe vorstellen, dass es mehr Bildung in Sachen Tier- und Naturschutz geben soll, etwa durch ein eigenes Schulfach. Das Tierwohl kann ihrer Ansicht nach auch über den Preis gesteuert werden. „Es wäre gut, wenn nicht nicht das Negative subventioniert wird, sondern dass die Menschen zur Kasse gebeten werden für den Schaden, den sie anrichten." Sie findet es eine „Katastrophe", dass Obst teurer als Fleisch sei. „Das Ganze müsste umgekehrt sein." Statt dass die EU etwa Fleisch-und Milchprodukte subventioniere, sollten diese Subventionen aus ihrer Sicht direkt an die Bauern gehen. Axel Lüssow weist darauf hin, dass Kuhmilch mit sieben Prozent besteuert wird, während pflanzliche Milchalternativen mit einen Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent verkauft werden. Insgesamt, so sagt er, müsse es in puncto Tierschutz einen „politischen Willen mit parteiübergreifenden Mehrheiten" geben. Das wünscht sich auch Inka Seidel-Grothe: „Es gibt einen regelrechten Schrei nach Veränderung, dem die Politik nicht nachkommt". Dabei müsse sie einfach nur handeln. „Die Gesellschaft ist bereit für Veränderungen."