Der nächste Profi der Eisbären Berlin hat sich einen NHL-Vertrag geangelt: Kai Wissmann will sich bei den Boston Bruins durchsetzen. Wie? Indem er sein Spiel wie immer einfach hält.
Dass Kai Wissmann für höhere Aufgaben berufen ist, deutete sich schon früh in der abgelaufenen Meistersaison an. Heimlich, still und leise hatte sich der Profi der Eisbären Berlin zu einem der besten Verteidiger der Deutschen Eishockey Liga (DEL) gemausert und sogar mit einer neugewonnenen Torgefährlichkeit überzeugt. „Kai Wissmann ist der heimliche Star der Eisbären" – so betitelte im vergangenen Herbst der Tagesspiegel einen Bericht über den Mann, der am liebsten nicht im Mittelpunkt steht. Doch auch die NHL-Scouts dürften schon damals genau hingeschaut und erkannt haben, dass Wissmann die nächste Entwicklungsstufe genommen hat. Und weil er sein Niveau halten und in den Playoffs sogar noch steigern konnte, und weil er bei seinem WM-Debüt im Mai als Nationalspieler sein internationales Format nachgewiesen hat, erhielt Wissmann als Belohnung das, wovon alle Eishockeyspieler träumen: einen NHL-Vertrag.
Einer der besten DEL-Verteidiger
Die Boston Bruins sicherten sich die Dienste des selten spektakulär spielenden, dafür aber immens zuverlässigen Verteidigers für die kommende Saison 2022/23. Von seinem Aufstieg erfuhr Wissmann im Urlaub – der anschließend umso schöner war. „Ich freue mich sehr über den Vertrag bei den Boston Bruins und kann es kaum erwarten, dass es losgeht", sagte der 25-Jährige, der für die Chance seines Lebens seinen noch ein Jahr laufenden Vertrag bei den Eisbären auflöste. Wie dankbar er für die Ausbildung beim Hauptstadtclub in den vergangenen zehn Jahren war, bewiesen seine Abschiedsworte an die Berliner. „Sie haben mir die Möglichkeit gegeben, im Alter von 17 Jahren meine ersten DEL-Spiele zu absolvieren und haben großen Anteil an meiner Entwicklung", sagte Wissmann: „Ein besonderer Dank gilt natürlich auch meiner Familie sowie meinen Trainern und meinen Mitspielern."
Bei den Verantwortlichen überwog auch die Freude darüber, dass es einer von ihnen mal wieder „über den Teich" geschafft hat, als die Trauer über den Verlust eines erstklassigen Spielers. „Wir sind sehr stolz und freuen uns unglaublich für Kai", sagte Sportdirektor Stéphane Richer. Wissmann habe in den vergangenen Jahren „eine enorme Entwicklung" gemacht und sei „zu einem der besten Verteidiger der gesamten Liga gereift". Deshalb habe er sich den Vertrag in der nordamerikanischen Profiliga auch „verdient". Und das sei gleichzeitig „eine Bestätigung unserer Arbeit", betonte Richer: „Die Eisbären sind ein sehr guter Club für junge Talente."
Der DEL-Rekordmeister gibt Wissmann sogar die Möglichkeit, sich vorerst bei seinem alten Arbeitgeber fit zu machen. „Bis zu seiner Abreise nach Nordamerika wird der Verteidiger noch am Trainingsbetrieb der Berliner teilnehmen", teilte der Club mit. Das wird Anfang August sein, dann fliegt Wissmann zunächst nach Kanada, um sich dort mit Hilfe von Privattrainern einen Monat lang intensiv auf den Start der Vorbereitung bei den Bruins im September vorzubereiten. Er bezahlt diese Coaches aus eigener Tasche, „mein Berater hat mir das empfohlen", sagte Wissmann der Berliner Morgenpost. Denn klar ist auch: Der Konkurrenzkampf in der Vorbereitung eines NHL-Clubs ist gnadenlos. Jede kleinste Schwäche könnte für Wissmann das Aus bedeuten, ehe das Abenteuer überhaupt so richtig angefangen hat.
Sein NHL-Vertrag allein garantiert noch längst keine Einsatzzeiten in der stärksten Eishockeyliga der Welt. Um nicht in eins der Farmteams abgeschoben zu werden, muss Wissmann die hohen Ansprüche von Beginn an erfüllen. „Ich gehe dahin mit dem Ziel, NHL zu spielen", sagte der Nationalspieler: „Das ist eine einmalige Chance." Er wolle aber deswegen nicht verkrampfen, sondern möglichst locker aufspielen und seinem Stil treu bleiben. „Ich gehe ins Camp und versuche, frei im Kopf zu sein", sagte er. Doch ihm sei auch bewusst, dass er womöglich einen Umweg gehen müsse, „dass es auch sein kann, dass ich in der AHL anfange". Ein Problem wäre das für ihn nicht: „Dafür bin ich auch bereit."
Es ist auch diese tadellose Einstellung, die die Scouts und Bosse der Boston Bruins, eine der traditionsreichsten Franchises in der NHL, von einer Verpflichtung überzeugt haben. In einem der ersten Gespräche fragten sie den Deutschen, wie er sich selbst als Spieler einschätzen würde. Seine Antwort? „Hinten solide, guter Aufbaupass." Er sei selbst gespannt gewesen, „ob das übereinstimmt mit dem, was sie denken". Ganz offensichtlich war dem so, denn in den Wochen darauf folgte das offizielle Angebot des Original-Six-Team der NHL. Und das bringt Wissmann auch finanziell in eine neue Liga: Sein Einstiegsgehalt soll umgerechnet rund 770.000 Euro betragen. Zum Vergleich: In der DEL verdienen Spitzenspieler rund 150.000 Euro.
Richer verriet, dass neben Boston auch andere Vereine bei Wissmann angeklopft hätten. „Schon während der Weltmeisterschaft in Helsinki gab es Anfragen mehrerer NHL-Clubs", sagte der Eisbären-Sportdirektor. War er von Bundestrainer Toni Söderholm für die Olympischen Winterspiele in Peking noch außen vorgelassen, kam er bei der WM an ihm nicht mehr vorbei. Schließlich war Wissmann beim neuen und alten deutschen Meister „Mister Zuverlässig": Der 1,94 Meter große und 94 Kilogramm schwere Defensivspieler absolvierte in der Spielzeit 2021/22 sämtliche Pflichtspiele der Berliner und war mit einer Plus-Minus-Quote von +31 der Top-Verteidiger der DEL-Hauptrunde. Auch in den Playoffs lief Wissmann zur Höchstform auf.
Wissmann spielt die einfachen Dinge
Bei der WM bestätigte er auf eindrucksvolle Weise, dass er längst zu Deutschlands besten Kufencracks gehört. Sehr solide in der Defensive, wuchtig im Vorwärtsgang – Wissmann war einer der auffälligsten DEB-Akteure. Mehr als seine sieben WM-Scorerpunkte (zwei Tore, fünf Assists) holte keiner seiner Teamkollegen. Die Nicht-Berücksichtigung für Olympia habe eine Rolle gespielt, gab Wissmann zu: „Es war mein Ziel zu beweisen, dass ich in die Mannschaft gehöre. Nicht nur für eine WM, sondern auf Dauer. Vielleicht war es ein bisschen eine Trotzreaktion."
Und wieder waren es nicht die spektakulären Dinge, mit denen er begeisterte. Sondern die einfachen. „Ich habe halt einfach gespielt", sagte Wissmann, „so viel denkt man da ja nicht drüber nach. Es ging alles so schnell." Schafft Wissmann auch in der NHL den nächsten Schritt auf der Karriereleiter, wird Söderholm ihn definitiv immer berufen –
sofern die Möglichkeit dazu besteht. Kai Wissmann scheint jemand zu sein, der an seinen Aufgaben wächst. Als er bei den Eisbären mehr und mehr in die Führungsrolle quasi hineingedrängt und zum ersten Mal Deutscher Meister wurde, habe ihm das „persönlich viel Selbstvertrauen gegeben". Viel gelernt habe er auch vom Kapitän Frank Hördler. „Wenn er in den Zweikampf geht und entscheidet, das ist jetzt mein Puck, dann geht er mit allem rein, was er hat", berichtete Wissmann, der zugab: „Das hat mir am Anfang noch gefehlt." Doch inzwischen sei er auch in diesem Bereich „besser geworden."
Eine größere Entschlossenheit wird er in der NHL auch brauchen, dort sind neben Talent auch Ellenbogen und Vertrauen in die eigenen Qualitäten gefragt. Doch an seinem Erfolgsrezept sollte Wissmann nicht herumdoktern: einfach spielen.