Nach den „Landpartien" in England und Österreich macht der rasende Formel-1-Zirkus am Sonntag (24. Juli) Station in Frankreich. Schauplatz ist das Bergdorf Le Castellet zwischen Marseille und Nizza.
Der Formel-1-Zirkus ist rast- und ruhelos. Manchmal auch ratlos. Nach seiner Vorführung in Silverstone ging’s von der Insel direkt in die Alpenrepublik nach Österreich. In die malerische Steiermark. Ins Murtal nach Spielberg. Nach zwei actiongeladenen Rennen gab’s nur eine kurze Verschnaufpause, bis die F1-Karawane im 1.130 Kilometer entfernten Le Castellet in Südfrankreich Saisonlauf Nummer zwölf aufführt. Spielt Ferrari an der Cote d’Azur wie zuletzt bei Red Bull und „Super-Bulle" Max Verstappen wieder den Spielverderber? Die Roten meldeten sich jedenfalls mit einem Sieg in England (Carlos Sainz) und Österreich (Charles Leclerc) im WM-Kampf zurück. FORUM analysiert die jüngsten Ferrari-Triumphe und die Niederlagen von WM-Rivale Red Bull.
Das atemberaubende Hardcore-Rennen in Silverstone war das bisher chaotischste F1-Rennen der Saison. Dieser GP von Großbritannien war ein Nerven-Krimi, der an Dramatik, Action und Spannung nicht zu überbieten war. Ein Rennen, in dem es drunter und drüber ging. Ein Rennen, bei dem den Zuschauern schon nach der ersten Kurve der Atem stockte, wird noch lange im Gedächtnis bleiben. Ein Rennen, das nach einem der verheerendsten Horror-Unfälle mit Totalschaden, aber für den Fahrer unverletzt mit verdammt viel Glück im Unglück endete.
Am Start waren nicht nur 20 Piloten, sondern auch eine Heerschar von Schutzengeln, die im Cockpit von Alfa-Sauber-Pilot Zhou Guanyu als „Co-Piloten" an Bord waren. Und sie hatten schon gleich nach dem Start alle Hände voll zu tun, mussten Überstunden schrubben. Der Chinese gönnte seinen engelhaften Helferinnen keine Ruhepause. Eine Kettenreaktion unglücklicher Umstände nach der ersten Startkurve löste das Unheil aus. Die Kurzfassung: Angestoßen von George Russell im Mercedes wurde der Alfa-Sauber-Bolide von Zhou ausgehebelt, schlitterte kopfüber von der Asphaltstrecke auf einem atemberaubendem Ritt auf dem Halo (dazu später) durchs Kiesbett, überschlägt sich erneut, hebt ab, steigt auf, katapultiert sich über den Reifenstapel und landet kopfüber eingeklemmt zwischen Metallzaun und Reifenstapeln. Auch nur ohne eine einzige Schramme wurde der 23-jährige F1-Neuling völlig unverletzt aus seinem Alfa-Sauber-Schrottauto geborgen. Seine „geflügelten" Helfer, die „Engel", hatten während Zhous mehrfacher Überschläge schützend ihre Hand über den Fahrer gehalten und einen Top-Job verrichtet. Noch mehr Hilfe leistete der Halo (deutsch: Heiligenschein) auf dem Boliden.
Silverstone war das stressigste Rennen der Saison
Bei seiner Einführung 2018 wurde das teils verschmähte, verhöhnte und unästhetische Bauteil in Silverstone gleich zum doppelten Lebensretter. Fünf Stunden vor dem unglaublichen Horror-Crash von Zhou rettete der Halo beim Formel-2-Rennen auch dem Israeli Roy Nissany nach dessen „Überflug"-Unfall ebenfalls das Leben. „Ohne den Halo wären wir heute nicht mehr am Leben", berichteten beide Piloten nach ihren haarsträubenden Unfällen. Das Cockpit-Schutzsystem Halo hat nur die ebenso simple wie wichtige Aufgabe: Leben zu retten. Ein Überrollbügel mit drei Streben aus dem Leichtmetall Titan spannt sich über den Kopf der Fahrer, neun Kilo schwer, an drei Stellen mit dem Cockpit verbunden. Es soll dem Druck bis zu zwölf Tonnen standhalten.
Seinem eigenen Druck standgehalten hat endlich auch Mick Schumacher. Endlich hat der Pilot nicht nur seinen ersten WM-Punkt für seinen Arbeitgeber, den US-amerikanischen Rennstall Haas, eingefahren. Mick war wie ein Boxer angezählt, öffentlich sogar von seinem Teamchef Günther Steiner. Mick lag am Boden, raffte sich in seinem 31. F1-Rennen aber auf – und schlug zu. Ihm gelang nicht nur der lang ersehnte erste WM-Punkt sondern gleich vier WM-Zähler auf „einen Streich". Profitiert hat er bei diesem „Streich" auch von sechs Ausfällen. Mit Platz acht in Silverstone landete Mick noch einen Rang vor seinem Kumpel Sebastian Vettel (Aston Martin). Seine Kritiker, die ihn schon aufs Abstellgleis schoben, hat er ruhig gestellt. Der Bann war gebrochen, der Knoten geplatzt, der Punktlos-Fluch verraucht, das Team erlöst. Mick Schumacher, der Erlöser. Für sein Haas-Team war Silverstone ein fast „historisches" Datum. Mit seinem Teamkollegen Kevin Magnussen auf Platz zehn kamen beide Autos in die Top Ten. Das heißt: Zum ersten Mal seit drei Jahren, zuletzt seit Hockenheim 2019 (Grosjean Siebter, Magnussen Achter), rannten die „Haasen" auf die Plätze der ersten Zehn. Nebenbei: Mick Schumacher ist der 347. Fahrer, der in der Königsklasse Formel 1 in die Punkte raste – aber erst in seinem 31. Anlauf. Zum Vergleich: Papa Michael gelangen die ersten WM-Punkte schon in seinem zweiten F1-Rennen mit Platz fünf im Benetton in Monza/Italien.
Perez brauchte 190 Anläufe
In den letzten Silverstone-Runden duellierte sich Sohnemann Mick sogar mit Weltmeister Verstappen. Der „Bulle", der mit Reifenproblemen kämpfte, wehrte sich jedoch mit allen Mitteln. Mit Platz sieben, gestartet von Rang zwei, betrieb der „stramme Max" noch Schadenbegrenzung. Sein Stallgefährte Sergio Perez (Monaco-Sieger) wurde im zweiten Red Bull nach 52 aufregenden Runden Zweiter vor Lewis Hamilton und Charles Leclerc im Ferrari. Dessen Kommandostand hat seinen „roten Prinzen" erneut mit falschen Strategien im WM-Kampf einbremst. Ganz nach vorne hat es in Silverstone Ferrari-Pilot Carlos Sainz geschafft. Für den stolzen Spanier war es ein „goldenes Wochenende". Samstags seine erste Poleposition, sonntags sein Formel-1-Premieresieg in seinem 150. Rennen. Spitzenreiter in dieser eher unrühmlichen Statistik ist der Mexikaner Perez, der 190 GP-Anläufe benötigte, um seinen ersten F1-Sieg einzufahren (vom letzten Platz 2020 in Bahrain im Racing Point-Renner). Mit Auto-Nummer 55 brachte Carlos Sainz auch seine 55. Führungsrunde in der Formel 1 auf die Strecke. „El Matador" Sainz Junior ist nun der 112. GP-Sieger in der Königsklasse und 40. Sieger in Diensten des springenden Ferrari-Pferdes. Gleichzeitig bescherte Sainz dem Team Ferrari den 241. F1-Sieg (vor McLaren 183 und Mercedes 115).
In Silverstone noch strahlender Sieger und sieben Tage später in Österreich der Pechvogel – der Madrilene fuhr von einem Extrem ins andere. Gestern noch himmelhoch jauchzend, heute zu Tode betrübt. In Runde 56 von 71 Umläufen bahnt sich das Unheil auf dem Red Bull-Ring in Spielberg an. Sainz versucht, den vor ihm fahrenden Verstappen auf Platz zwei niederzukämpfen. Doch seine Attacke verpuffte. Mit qualmendem Heck stellte er seinen Boliden in der Auslaufzone ab. Plötzlich fackelte das Auto und brannte lichterloh. Ferrari war on fire. Es habe „keinerlei Vorwarnung" gegeben, beschrieb Sainz die Situation bei Sky. „Ich sah das Feuer, es war ziemlich eigenartig, aber irgendwann musste ich aus dem Auto springen, das ja noch an einer abschüssigen Stelle rückwärts rollte", beschrieb der unversehrte Ferrari-Pilot die feurige Situation.
Mehr Glück bei diesem dramatischen, feurigen GP Österreich hatte Sainz’ Stallkollege Charles Leclerc. Dreimal hatte der Ferrari-Chefpilot Weltmeister Verstappen überholt, der von Startplatz eins ins Rennen ging. Dennoch musste sich der Monegasse ins Ziel zittern. „Ich habe Probleme mit dem Gaspedal, das klemmt", funkte Leclerc elf Runden vor Schluss an seine Box. Es begann eine Zitterpartie. Runde um Runde meldete Leclerc Probleme, der „Bulle" (Verstappen) kam dem schwarzen „Pferd" immer näher. Doch am Ende hält der Ferrari durch, der 24-Jährige feiert mit 1,5 Sekunden Vorsprung seinen dritten Saisonsieg (den fünften insgesamt). „Es war ein gutes Rennen, aber es hat sich komisch angefühlt. Das Gaspedal kam nicht mehr richtig in die Ausgangsstellung, am Ende habe ich es allerdings hinbekommen, aber diesen Sieg habe ich definitiv gebraucht", atmete Leclerc nach seiner Zitterpartie durch. „Mit Herz und Talent steigt Leclerc zum wilden Stier in der Arena von Red Bull auf", lobte die italienische Tageszeitung „La Republica" den Sieg Leclercs. Gleichzeitig bescherte Leclerc Ferrari den ersten Sieg in Spielberg nach 19 Jahren. 2003 hatte Michael Schumacher in einem roten Renner gewonnen.
Mit seinem Zittersieg hat der Monegasse auch die Oranje-Party der 50.000 Verstappen-Fans unter den 105.000 Zuschauern (insgesamt 303.000 Besucher an drei Tagen) ordentlich verdorben. Beim Heimrennen der „Bullen" auf dem Red-Bull-Ring galt der WM-Führende Verstappen als großer Favorit auf den Sieg. Nach seinem Erfolg im Samstags-Sprint (ein Quickie über 100 Kilometer) musste Verstappen sich am Rennsonntag mit Platz zwei begnügen, den er nach dem Ausfall von Sainz „geerbt" hat. „Ich hatte Probleme mit den Reifen, viel zu viel Verschleiß. Das hatte ich so nicht erwartet. Aber an einem schlechten Tag Zweiter zu werden, ist gut", analysierte der „Bulle". Als Dritter komplettierte Mercedes-Star Lewis Hamilton das „Stockerl" in Spielberg.
Starke Form beim „kleinen Schumi"
Fahrer des Tages aber war Mick Schumacher. Sieben Tage nach seinen ersten WM-Punkten in Silverstone schlug der Haas-Pilot in seinem überraschend schnellen Dienstwagen erneut zu und machte auf der Red Bull-Rennbahn fette Beute. Und zwar mit acht Zählern. Der junge „Hase" aus dem kleinen Haas-(Renn)Stall raste von Startplatz neun nach einem blitzsauberen Rennen abgebrüht in Zweikämpfen mit sehenswerten Überholmanövern auf Rang sechs. Für diese Leistung gab es Lob von allen Seiten. Sein kritischer Teamchef dankte seinem Angestellten für eine „großartige fantastische Leistung". Mercedes-Boss Toto Wolff sprach von einer „guten Fahrt" Schumachers, „er hat gut verteidigt und war immer sportlich fair. Er ist ein guter junger Mann". Es scheint, Schumacher ist in der Formel 1 angekommen. „Wir haben jetzt ein Auto, mit dem wir näher an die Top-Teams heranrücken können", ist „Jung-Schumi" zuversichtlich.
Bei Micks Landsmann Sebastian Vettel läuft in Spielberg so gut wie nix zusammen. 19. im Samstags-Sprint und 17. und Letzter im Sonntags-Rennen. Zweimal segelte er ins Kiesbett: Im Sprint nach einem Crash mit Williams-Fahrer Alex Albon, im Rennen kegelte ihn Alpha Tauri-Pilot Pierre Gasly von der Bahn, nachdem sich Vettel im Aston Martin von Startplatz 19 auf Rang 13 vorgearbeitet hatte. „Vielleicht habe ich ja eine Zielscheibe auf dem Auto", scherzte der 35-Jährige etwas gequält nach dem Rennen. „Das Auto war durch dem Schubser von Gasly nicht mehr in bestem Zustand. Und am Anfang waren wir zu langsam. Es war einfach ein blöder Tag für uns", so das Vettel-Fazit.
Blicken wir vor dem Frankreich-GP am Sonntag (15 Uhr/Sky) nach elf von 22 Rennen auf den WM-Stand. Verstappen führt die Fahrerwertung mit 208 Punkten vor Leclerc (170) an. Es folgen Perez (151/Red Bull), Sainz (133/Ferrari) und die beiden Mercedes-Fahrer Russell (128) und Hamilton (109) als Fünfter und Sechster.