Das neueste Buch von Jaroslav Rudiš hat sich in kürzester Zeit zur Bibel aller Zugfans entwickelt. Im Interview, das natürlich im Zug stattfand, spricht der 50-jährige Schriftsteller darüber, wie er beim Zugfahren reale Geschichten findet, warum der Zug sein zweites Zuhause ist und ihn Verspätungen nicht stören.
Herr Rudiš, in den meisten Ihrer Bücher sind Eisenbahner oder Eisenbahnfans die Hauptprotagonisten. Wie kam es denn zu Ihrer Begeisterung für die Bahn?
Einerseits kommt das von der Familie. Ich wollte auch Eisenbahner werden wie mein Opa, mein Onkel oder mein Cousin. Andererseits fasziniert mich an der Eisenbahn, dass sie etwas ist was uns verbindet. Für mich als Schriftsteller transportieren die Züge auch Geschichten. Nach Corona bin ich jetzt noch mehr unterwegs. Ich habe wirklich darunter gelitten, dass es nicht möglich war zu verreisen, und ich freue mich auf jede Zugfahrt. Ich habe mir jetzt zwei Interrailtickets für je drei Monate gekauft und ich kaufe mir noch ein Ticket für drei Monate für den Winter des nächsten Jahres. Dann würde ich tatsächlich gern mal in den Norden fahren und eine Runde machen von Berlin nach Stockholm, dann nach Haparanda und weiter nach Kolari und zurück nach Turku und dann irgendwie zurück nach Deutschland.
Sie sind der Lieblingsautor aller Eisenbahner. Werden Sie auf Ihren Fahrten erkannt und angesprochen?
Es passiert mir tatsächlich immer öfter, dass ich im Zug erkannt werde und mich Reisende im Bordbistro oder Restaurant ansprechen. Ich habe auch schon häufig Bücher im Zug signiert. Es freut mich natürlich schon, dass meine Bücher Leute dazu bringen in den Zug zu steigen und beispielsweise nach Prag zu fahren oder nach Brünn, wo wir jetzt gerade herkommen. Was mich sehr freut, ist, wenn mich die Eisenbahner erkennen, denn dann bin ich selbst irgendwie zu einem Eisenbahner geworden.
Sie sind sehr viel in Zügen unterwegs, schreiben Sie denn auch Ihre Bücher dort?
Das ist tatsächlich so. Und oft erlebe ich im Abteil oder Zugbistro Geschichten, die dann direkt in mein Schreiben einfließen. In meinem letzten Roman „Winterbergs letzte Reise" geht es um eine Bahnreise eines 99-jährigen Mannes, der eine Abschiedsreise durch Mitteleuropa macht – von Berlin im Zickzack über Prag und Königgrätz, Linz, Wien und Zagreb bis nach Sarajevo. Er sucht die Spuren der Geschichte und versucht das unglaublich vielfältige Mitteleuropa zu verstehen. Und er ist wie ich ein Eisenbahnmensch und auch für ihn ist es die Eisenbahn, die alles und alle verbindet. Große Teile dieses Buches sind auch im Zug entstanden und haben den Rhythmus und die Musikalität des Buches beeinflusst. Wenn sich Winterberg im Buch immer wiederholt – es sagt beispielsweise häufig „Ja, ja" oder „traurig, traurig" – dann ist das inspiriert durch das Rattern über Gleislücken oder wenn der Zug über Weichen fährt.
Ein Journalist der „Chemnitzer Freien Presse" beschreibt Sie als Eisenbahner, Biertrinker und Schriftsteller. Genau in dieser Reihenfolge. Können Sie damit leben?
(lacht) Ja schon. Vielleicht kann man das auch nicht trennen, für mich bedeutet Bier ja auch ein Wirtshaus oder einen Speisewagen. Obwohl ich gerne Bier trinke, geht es mir nicht nur darum, sondern auch um die Geschichten, die manchmal bei dem ein oder anderen Bierchen erzählt werden. Und Schriftsteller? Ich habe damit wirklich sehr, sehr lange gehadert. Bin ich ein Schriftsteller? Was macht einen zu einem Schriftsteller? Weil manchmal sage ich, ich bin einfach ein Beobachter, der Sachen aufschreibt, die mir jemand erzählt. Viele meiner Geschichten haben einen realen Hintergrund. Ich steige irgendwo in den Zug ein, und irgendjemand erzählt mir eine Geschichte … wie ein Zug fährt dann die Geschichte los, und ich schreibe sie auf.
Sie schreiben auf Tschechisch und Deutsch. Sie leben in Tschechien und Deutschland, und Sie haben das Bundesverdienstkreuz für Ihren Beitrag zur Verständigung von Tschechen und Deutschen bekommen. Was ist für Sie denn das Verbindende beider Länder?
Ich verbringe sehr viel Zeit im Zug zwischen Prag und Berlin. Da bin ich tatsächlich Stammgast – auch im Speisewagen. Das ist fast mein zweites Zuhause. Ich suche immer das, was uns verbindet, eine gemeinsame mitteleuropäische Geschichte. Die war nicht immer gut – es verbindet uns nicht nur Gutes, sondern auch Schlechtes. Das darf man nicht ausblenden. Auch darüber schreibe ich. Trotzdem suche ich in der Tat nach einer gewissen Versöhnung (lacht). Aber letzten Endes bin ich auf der Suche nach einer guten Geschichte. In beiden Ländern bin ich zu Hause – in Berlin und in einer Kleinstadt in Böhmen. Ich mag beides, und ich mag auch die beiden Sprachen. Für mich ist unser Mitteleuropa auch ein Ort, wo sich die Sprachen treffen, wo sie fließen, wo die eine Sprache in die andere übergeht. Auch solche Geschichten erzählt die Eisenbahn. Wenn ich an die Lokführer denke, die den Zug von Prag nach Dresden fahren, das sind tschechische Lokführer, die auch Deutsch sprechen oder deutsche Lokführer, die Tschechisch sprechen. Das finde ich toll, dass in Mitteleuropa eine gewisse Mehrsprachigkeit erhalten geblieben ist.
Werden Ihre Bücher in Deutschland und Tschechien anders wahrgenommen, anders gelesen und anders rezensiert?
Schon irgendwie ähnlich. Ich würde sagen, am Anfang hatte ich mehr Leser in Tschechien, aber das ändert sich ein bisschen. Deutschland ist natürlich riesengroß und mit der „Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen" habe ich auch ein anderes Publikum erreicht, ein viel, viel breiteres Publikum von Bahn-Enthusiasten. Ich finde es schön, dass das Buch so gut ankommt, denn das spricht auch für das Thema Eisenbahn.
Sie sind ein Vielfahrer, schimpfen Sie auch manchmal über die Bahn – wie viele andere Bahnfahrer – wenn Züge mal wieder verspätet sind, die Wagen in unterschiedlicher Reihung fahren oder die Toiletten verstopft sind?
Für mich hat die Eisenbahn etwas Beruhigendes. Ich fahre auch einfach mal so los. Wenn ich mit einem Text nicht weiterkomme, kaufe ich mir ein Berlin-Brandenburg-Ticket und fahre einfach los (lacht). Ich nehme dann meinen Laptop mit und versuche zwischen Brandenburg und Frankfurt an der Oder zu schreiben. Und eine Verspätung (überlegt) – wenn man so viel fährt, kommt das doch seltener vor als man denkt. Natürlich kann man auch Pech haben und stranden. Aber man kommt doch irgendwie immer weiter. Mich fasziniert das. Das gesamte System, das gesamte Bahnnetz, für mich ist das was sehr, sehr Lebendiges. Hinter den ganzen Maschinen und Fahrplänen sind doch Menschen, die das alles organisieren und lenken. Kurz und knapp: Mich stört eine Verspätung nicht. Für mich ist das eine kleine Geschichte, die die Eisenbahn erzählt. Ich beobachte manchmal auch die anderen Fahrgäste, wie sie sich ärgern bei zehn Minuten Verspätung. Ich muss dann immer die Bahnangestellten in Schutz nehmen, die haben es nicht immer leicht. Für mich sind das dann die Bahnhelden, die die Probleme auf eine psychotherapeutische Art und Weise lösen müssen.
Was war Ihre schönste Bahnreise?
Jede längere Fahrt ist spannend. Eine Reise durch mehrere Länder, zum Beispiel wenn man von Berlin über Tschechien nach Wien fährt. Zu sehen wie sich die Landschaft und die Menschen verändern. Die vielleicht schönste Fahrt war die, die ich im letzten Jahr für das Buch (gemeint ist „Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen") gemacht habe. Die ging von Berlin nach Marseille, dann weiter nach Rom und Palermo Centrale und von dort, mit ein paar kurzen Pausen, nach Rovaniemi in Finnland. Das war natürlich unglaublich intensiv. Aber ich mag das. Man gewöhnt sich natürlich auch an den Sound und die sehr angenehme Bewegung, an das leichte Wanken und Schaukeln. Als ich am Ende der Reise wieder in Berlin angekommen bin, dachte ich „ich muss jetzt losfahren, ich möchte weiterfahren". Mich beruhigt eine Zugfahrt einfach, ich würde das jedem empfehlen. Vielleicht ist das auch günstiger als eine Psychoanalyse zu machen (lacht). Aber ganz im Ernst: Ich würde die beruhigende und meditative Wirkung einer Zugfahrt nicht unterschätzen.