Carlos Santana feierte am 20. Juli seinen 75. Geburtstag. Kein Grund für die Rente: Der Meistergitarrist aus Mexiko flutet das Netz mit neuen Live-Alben, arbeitet parallel an sieben Studioproduktionen und soll bald mit einem abendfüllenden Dokumentarfilm geehrt werden.
Ein Schamane ist ein spiritueller Heiler. Er bringt Geist, Körper, Herz und Verstand in Einklang. Mit Farben und Kräutern und mit Klängen und Gesängen. Ein Schamane predigt Einigkeit und Harmonie. Carlos Santana ist ein solcher. Der amerikanische Gitarrist mit mexikanischen Wurzeln will kein Entertainer herkömmlicher Art sein. Seine Kunst hat nichts mit dem vordergründigen Showbusiness zu tun. Er versteht sie als musikalische Medizin für kranke Geister. Für meisterhafte Alben wie „Santana IV" hat er ausschließlich Musiker mit „göttlichen Qualitäten" um sich geschart.
Die Geschichte von Carlos Santana und seiner Musik beginnt vor mehr als 50 Jahren. Mit Michael Carabello und Gregg Rolie gründet der am 20. Juli 1947 im mexikanischen Autlán de Navarro geborene Gitarrist und Sänger 1966 in San Francisco die Santana Blues Band. Anfangs spielen sie noch Songs von B.B. King und Ray Charles nach, aber schon bald entwickeln die Ausnahmemusiker einen eigenen unverwechselbaren Stil unter Verwendung afrokubanischer Polyrhythmik, brodelnder Perkussion, Jazz, Folk, Blues, Orgelklängen und singender Gitarrenlinien.
1968 gehören die Erfinder des Latinrock zu den Stammbands in Bill Grahams legendärem Fillmore East in San Francisco. Ihr bemerkenswerter Auftritt beim Woodstock Festival im Jahr darauf beschert ihnen einen Plattenvertrag bei Columbia Records. Das kurz danach erscheinende Debütalbum „Santana" mit seinen streckenweise improvisierten psychedelischen Stücken wirft die Top-Ten-Single „Evil Ways" ab und verkauft sich bis heute über eine Million Mal. Auch der Nachfolger „Abraxas" wird mit Platin ausgezeichnet und „Oye Como Va" und „Black Magic Woman", die zu Welt-Hits werden sollen. Der Erfolg setzt sich mit „Santana III" im Jahr 1971 und „Caravanserai" im folgenden Jahr 1972 fort.
Vom Latinrock zum Jazz-Fusion-Stil
Anfang der 1970er-Jahre ist Carlos Santana das einzige noch verbliebene Ur-Bandmitglied und beginnt, nach neuen musikalischen Abenteuern zu suchen. Diese findet er in Plattenaufnahmen mit experimentierfreudigen Musikern wie Buddy Miles, Herbie Hancock und John McLaughlin. Gemeinsam mit Letzterem spielt er 1973 das Jazz-Fusion-Album „Love Devotion Surrender" ein, welches sich durch brillante Gitarrenduelle und hypnotisch groovende Rhythmen auszeichnet. Inspiriert wurden die gefühlstiefen Klänge durch die Philosophie von Sri Chinmoy, einem indischen Guru, der sowohl bei Santana als auch bei McLaughlin ein spirituelles Erwachen bewirkt. Für Santana, der sich ab 1974 „Devadip" (Auge Gottes) nennt, wird Chinmoys Lehre in der von Drogen geprägten Welt der Rockmusik zu einer spirituellen Alternative. Das macht sich insbesondere bei seinen Live-Auftritten bemerkbar.
Als das Interesse des Publikums an Jazz-Fusion-Musik zu schwinden beginnt, wird es auch um den Familienmann Santana ruhiger. In den 1980ern bekommen er und seine erste Frau Deborah die Kinder Salvador, Stella und Angelica. Nichtsdestotrotz nimmt Carlos weiter Alben auf. Für „Blues For Salvador" erhält er 1987 seinen ersten Grammy. Die Stadtverwaltung von San Francisco ruft den 6. Juni 1987 zum Santana-Tag aus. 1994 spielt er bei der Neuauflage des Woodstock-Festivals und 1998 wird er in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen. Ein Jahr später nimmt ihn sein Mentor und erster Produzent Clive Davis erneut unter Vertrag. Dieser ist bis heute für über 300 Nummer-1-Hits verantwortlich.
Für Carlos Santanas ausgesprochen poppiges 35. Studioalbum „Supernatural" stellt Davis eine beeindruckende Gästeliste zusammen: Eric Clapton, Lauryn Hill, Dave Matthews, Cee Lo Green, Rob Thomas und Wyclef Jean. Bis zum Frühjahr 2000 sind von der Platte bereits zehn Millionen Exemplare verkauft, und die Singleauskopplung „Smooth" hat sich zu einem weltweiten Nummer-1-Erfolg entwickelt. Bei den nächsten Grammy-Awards ist Santana in neun Kategorien nominiert, von denen er acht gewinnt. Darunter das „Album des Jahres" und der „Song des Jahres". Auch für den Longplayer „Shaman" (2002) kassiert der Künstler einen Grammy, und 2009 wird ihm schließlich diese begehrte Trophäe für sein Lebenswerk verliehen.
2014 veröffentlicht der Erleuchtete seine Erinnerungen unter dem Titel „The Universal Tone: Bringing My Story To Light" und gründet mit seiner zweiten Ehefrau und Schlagzeugerin Cindy Blackman, dem Saxofonisten Wayne Shorter, dem Keyboarder Herbie Hancock und dem Bassisten Marcus Miller die Jazz-Supergroup Mega Nova. 2016, ganze 47 Jahre nach ihrem Auftritt beim Woodstock-Festival, sorgt die Urbesetzung der Latin-Rock-Legende Santana wieder für ein Wunder in Gestalt des Studioalbums „Santana IV". Es hält, was die Namen Carlos Santana (Gitarre), Neal Schon (Gitarre), Michael Shrieve (Schlagzeug), Gregg Rolie (Gesang, Keyboards) und Michael Carabello (Congas) versprechen: Ein magisches und komplexes Rhythmusgeflecht mit afro-kubanischen Elementen trifft auf verzerrte Gitarren, melodische Soli und intuitiven, hoch fliegenden Gesang, der immer wieder an die Anfangszeit der Band erinnert.
Sehr spirituell klingt auch sein letztes Studiowerk „Blessings and Miracles". Was Santana braucht, um solch eine Tiefe zu erreichen, erklärt er wie folgt: „Du musst dich hingeben. Du musst lernen, tief durchzuatmen, zu vertrauen und zu glauben, dass es durch dich kommt. Göttliche Intelligenz durch dich für die Menschen. Die beste Kunst – ob du nun Stravinsky, da Vinci, Miles Davis oder Led Zeppelin bist – kommt durch dich. Denn es gibt eine göttliche Intelligenz, die alles jenseits deiner Erkenntnis orchestriert."
Meditation gegen statische Gedanken
Zurzeit arbeiten die preisgekrönten Filmemacher Rudy Valdez, Brian Grazer und Ron Howard an einem „intimen und aufregenden Einblick in die Gedankenwelt eines Urgesteins der zeitgenössischen Musik und erzählen die unglaubliche Geschichte von Santanas Leben – vom vierzehnjährigen Straßenmusiker zum zehnfachen Grammy-Gewinner und dreifachen Latin-Grammy-Gewinner".
Seine Gitarre ist seit über 50 Jahren seine Stimme. Und sie entwickelte sich von Album zu Album weiter. Über zwei Dutzend digitale Live-Platten hat Carlos Santana seit 2020 veröffentlicht, flankiert von digitalen Versionen seiner Klassiker im 360 Reality Audio-Raumklangverfahren. Er glaubt, seine Musik werde immer echter, authentischer, aufrichtiger und weniger kompliziert, weniger statisch und mit weniger Ablenkungen. „Eine Person kann manchmal statische Gedanken haben. Deshalb meditiere ich, um die Statik loszuwerden. Wenn ich diese Noten spiele, klingen sie sehr pur wie bei Paco de Lucía oder Eric Clapton. Ein reiner Ton bleibt für immer in der Luft hängen."
2021 unterzieht er sich erfolgreich einer Herzoperation und sagt mehrere für Dezember geplante Shows in Las Vegas ab, die er jetzt nachholt. Carlos Santana übt heute nicht mehr, aber er macht mit seinen Fingern Spaziergänge auf dem Gitarrenhals. Der Genesene arbeitet an nicht weniger als sieben neuen Studioplatten. Einer mit Stücken des Jazzgitarristen Sonny Sharrock. Eine weitere plant er mit Eric Clapton und Derek Trucks einzuspielen. Es soll „Eric, Derek und der Mexikaner" heißen und UFO-Musik mit Westernsounds à la „Spiel mir das Lied vom Tod" enthalten. Bleibt zu hoffen, dass uns Santanas Antriebe und Gefühle noch lange lebendig bleiben – obwohl er dabei sicherlich auf das richtige Maß achten muss. Gesundheitlich hatte der Künstler zuletzt mit Problemen zu tun. Nach seiner Herz-OP im vergangenen Jahr ist er Anfang Juli bei einem Konzert auf der Bühne zusammengebrochen. Nachdem er im Krankenhaus behandelt wird, gibt er in den sozialen Medien Entwarnung: Flüssigkeitsmangel und Hitze haben für seinen Zusammenbruch gesorgt, es gehe ihm aber wieder gut.