Sein Triumph in Wimbledon könnte für längere Zeit der letzte von Novak Djokovic gewesen sein. Wegen seiner Weigerung, sich impfen zu lassen, droht ihm das Aus bei den kommenden zwei Grand-Slam-Turnieren.
Novak Djokovic geht in die Hocke und schüttelt verzweifelt den Kopf. Dann fragt er einen kleinen Jungen, der das Show-Match des Tennisprofis durch einen Zaun verfolgt, nach einem Tipp für einen besseren Return. Der neunjährige Anes Halilagic, der ein großer Fan des Serben ist, antwortet ihm. Doch auch das half nichts, Djokovics Gegner schlägt ein Ass – aber sauer ist der Star deswegen nicht. Ganz im Gegenteil. Er läuft zum Zaun und gibt dem Jungen ein Autogramm auf dessen Kappe.
Diese nette Szene, die den kleinen Anes in sozialen Medien für kurze Zeit zu einer kleinen Berühmtheit gemacht hat, ereignete sich in Bosnien, genauer gesagt auf einem neuen Tennisplatz bei den sogenannten Bosnischen Pyramiden. Djokovic weilt öfters in dieser Region, die durch die umstrittene Hypothese des Esoterikers Semir Osmanagić, hier gebe es mehrere menschengemachte Pyramiden, bekannt wurde. Djokovic wurde sogar zum Ehrenbürger der angrenzenden Stadt Visoko ernannt. Nach seinem Wimbledon-Triumph war er dorthin zurückgekehrt, wo man ihn ganz sicher mit offenen Armen empfängt. Der 35-Jährige dürfte es genossen haben, denn auf der Tour schlägt man ihm nun die Tür vor der Nase zu.
Bei den kommenden zwei Grand-Slam-Turnieren, den US Open in New York (29. August bis 11. September) und den Australian Open in Melbourne (16. bis 29. Januar 2023), darf der „Djoker" wohl nicht starten. Der Grund: Seine Weigerung, sich gegen das Coronavirus impfen zu lassen. Daraus machte der Ausnahmespieler nach seinem vierten Titel in Folge auf dem „Heiligen Rasen" in Wimbledon gegen den australischen Tennis-Rüpel Nick Kyrgios auch keinen Hehl mehr. „Ich bin nicht geimpft und habe auch nicht vor, mich impfen zu lassen", sagte Djokovic. Er weiß natürlich, dass diese Haltung, die viele als fahrlässig auch seinen Mitmenschen gegenüber bezeichnen, andere wiederum als konsequent, seinen Preis hat.
Vor allem die Teilnahme an den US Open wird mit jedem Tag, an dem die Einreisebestimmungen nicht geändert werden, immer unwahrscheinlicher. „Ich hoffe auf positive Nachrichten, aber es bleibt nicht mehr viel Zeit", sagte Djokovic dem serbischen TV-Sender RTS: „Ich denke nicht, dass eine Ausnahme realistisch ist. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt." Um in den USA einzureisen, müssen ausländische Gäste – egal ob Touristen oder Profisportler – einen vollständigen Impfnachweis vorzeigen. Djokovics Trainer Goran Ivanisevic sieht daher keine realistischen Chancen auf einen Start seines Schützlings in New York. Er stelle sich auf „lange und heiße Sommerferien" ein, sagte der frühere Wimbledonsieger (2001) – und zwar „von heute bis auf Weiteres."
Schon das traditionelle ATP-Masters-1000-Turnier ab dem 7. August in Montreal dürfte Djokovic verpassen, denn auch in Kanada gilt: Ohne Piks keine Einreise! „Entweder ändert die kanadische Regierung die Regeln hinsichtlich der Impfung, oder Novak Djokovic rollt die Ärmel hoch und lässt sich impfen", beschrieb Turnierdirektor Eugen Lapierre die Lage, die seiner Meinung nach aussichtslos sei: „Ich glaube nicht, dass diese Szenarien realistisch sind."
Heftige Turbulenzen in Australien
Ähnliches gilt für die US Open. Er würde sehr gern am USTA Billie Jean King National Tennis Center in Flushing Meadows aufschlagen, „aber wenn es nicht klappt, ist das nicht das Ende der Welt und auch nicht das erste Grand-Slam-Turnier, von dem ich mich zurückziehen muss", sagte der Serbe. Er spielte damit auf Chaostage vor den Australian Open Anfang des Jahres an, die sowohl ihm als auch dem Turnier massiv geschadet hatten. Djokovic war trotz seiner Impf-Weigerung nach Down Under gereist, weil er nach Absprache mit dem australischen Verband fest von einer Ausnahmeregelung ausgegangen war. Doch das war ein Trugschluss – und der Beginn einer Schlammschlacht, bei der der Kampf gegen das Virus nur noch bedingt eine Rolle spielte.
Djokovic wurde zunächst die Einreise verwehrt, die Grenzbehörden brachten ihn in ein Abschiebehotel. Die Aufregung war weltweit riesig, die Sportszene gespalten. Wegen eines Formfehlers gab ein Gericht in Melbourne dem Djokovic-Einspruch statt, der Tennisprofi durfte einreisen und sich auf das erste Major-Turnier des Jahres vorbereiten. Doch die Freude währte nur kurz, Australiens Einwanderungsminister Alex Hawke erklärte das Visum wenig später für ungültig. Dagegen legten die Anwälte des Spielers vor dem Bundesgericht in Australien Einspruch ein, aber der wurde abgelehnt. Djokovic musste das Land verlassen. Nicht geschlagen, aber gedemütigt.
Die heftigen Tage in Australien hätten bei ihm „Turbulenzen" ausgelöst, gab der sonst so selbstsicher wirkende Djokovic zu. Er habe Zeit gebraucht, „um den Sturm zu überstehen". Wie sehr ihm der Wirbel emotional zugesetzt hat, zeigen auch die Aussagen seines Trainers Ivanisevic. Der meinte, andere Profis hätten sich davon nicht mehr erholt, „sie würden nie wieder Tennis spielen". Eine zweite Tortur will sich Djokovic unbedingt ersparen, für ihn ist klar: Besteht Australien auf der Impfpflicht, wird er seinem Lieblingsturnier, das er bereits neunmal gewonnen hat, definitiv fernbleiben. So ein Fall werde sich „nicht wiederholen", betonte Djokovic, weil er nicht einreisen werde, „wenn ich keine Erlaubnis bekomme".
Bei den Australian Open könnte es noch zu einem Umdenken kommen. Die Turnier-Organisatoren wollen den Topstar ohnehin sehr gern an den Start bringen, und auch in der Politik hat der Serbe seine Unterstützer. Der neue australische Premierminister Anthony Albanese gilt als großer Tennis-Fan, der bei der Lösung des Problems mit eingebunden sein soll. Auch in Amerika werden Stimmen lauter, die ihm die Einreise per Ausnahmeregelung ermöglichen wollen. „Lasst den Kerl herein und in den USA spielen", forderte kürzlich Tennis-Ikone John McEnroe: „Alles andere ist lächerlich." Es könne nicht sein, dass für den Leistungssport keine Ausnahmeregelungen möglich seien. Die Politik mische sich „zu sehr ein", kritisierte McEnroe.
Auch aus dem Kollegenkreis gibt es mehrere Leute, die Djokovics Wettbewerbsnachteil aufgrund seines Impfstatus nicht nachvollziehen können. Sollte es doch so kommen, wäre Rafael Nadal der große Favorit für die US Open, zumal das Turnier für Roger Federer nach dessen Knie-OP noch zu früh kommt. Nadal nahm nur anderthalb Wochen nach seiner Bauchmuskelverletzung, die ihn zur Absage des Wimbledon-Halbfinals gegen Kyrgios gezwungen hatte, das Training wieder auf.
Der Spanier wird alles in seiner Macht Stehende tun, um in New York an den Start zu gehen und seinen 23. Grand-Slam-Titel zu gewinnen. Er hätte dann wieder zwei Major-Siege Vorsprung auf seinen Rivalen Djokovic. Doch selbst wenn dieser Plan aufgeht: Langfristig spricht alles für Djokovic, der erfolgreichste Spieler in der Geschichte des Tennissports zu werden.
Während Nadal aufgrund von Problemen mit seinem linken Fuß nur mit Schmerzmitteln auf den Court gehen kann und zuletzt immer wieder von seinem baldigen Karriereende gesprochen hat, steht Djokovic in der Blüte seiner Schaffenskraft. „Er will die Nummer 30 erreichen", sagte sein zweiter Trainer, Bogdan Obradovic, mit Blick auf die Titelsammlung bei Grand Slams. Damit würde Djokovic vielleicht eine Bestmarke für die Ewigkeit aufstellen. Sein Schützling werde „in den nächsten fünf Jahren spielen und wahrscheinlich 20 Gelegenheiten haben, um diese Zahl zu erreichen", sagte Obradovic. Nur eben sehr wahrscheinlich nicht bei den US Open 2022 und den Australian Open 2023.
Sein Faible für Esoterik ist bekannt
Doch nicht nur die verpassten Titelchancen wären ein Problem für ihn. Auch in der Weltrangliste würde der Serbe weiter nach unten durchgereicht. Schon beim Mitte Juli veröffentlichen Ranking war er von Platz drei auf sieben abgerutscht – trotz seines Triumphs in Wimbledon. Der Grund: Beim wichtigsten Rasenturnier der Welt wurden keine Punkte vergeben, weil die Organisatoren den russischen und belarussischen Spielern und Spielerinnen entgegen der ATP-Haltung das Startrecht aufgrund des russischen Angriffskrieges in der Ukraine verweigert hatten. Seine 2.000 Punkte für den Sieg aus dem Vorjahr verlor Djokovic dagegen. Durch das Einreise-Verbot für die kommenden Turniere in Nordamerika wird der Topathlet auch viele, viele Punkte verlieren.
Um sich für die ATP Finals in Turin der acht besten Spieler der Welt (13. bis 20. November) zu qualifizieren, muss er sich dank seines Wimbledon-Gewinns „nur" unter den Top 20 der Rangliste halten. Aber wo sollen die Punkte dafür her? Djokovic weiß es nicht, und es kümmert ihn offenbar auch nicht. „Um ehrlich zu sein, bezweifele ich, dass ich Punkte für die Weltrangliste jagen werde", sagte er kürzlich.
Sollte er wie von allen erwartet die Nordamerika-Turniere verpassen, müsse er „sehen, wie mein Terminplan aussehen wird". Djokovic wirkt in der Debatte deutlich gelassener als noch vor einem halben Jahr. „Mir ist es wichtig, körperlich und geistig gesund zu bleiben", sagte er, „damit ich noch lange spielen kann".
Und dennoch stellt sich die Frage: Warum nimmt Novak Djokovic all den Stress auf sich, statt sich einfach den Piks zu geben? „Ich war nie gegen Impfungen", sagte Djokovic, der nach eigenen Angaben auch gegen Kinderkrankheiten geimpft worden sei. Er wolle jedoch die Freiheit haben, selbst zu entscheiden, was er seinem Körper zufüge. Leute, die etwas mehr Kontakt zu ihm haben, beschreiben Djokovic als sehr intelligent, als sehr reflektiert. Doch auch sein Faible für Esoterik ist bekannt, die Grenzen zu Verschwörungstheorien sind hier fließend.