Die Hansestadt Wismar lockt Kultur-Fans in diesem Sommer mit einem besonderen Erlebnis. Vor 101 Jahren wurde hier nämlich der Stummfilm „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens" gedreht. Jetzt gibt es spezielle Touren durch die Stadt.
Eine gigantische Gotik-Backsteinkirche, ein imposantes Rathaus, historische Stadtmauern und Marktplätze – das macht das historische Zentrum von Wismar aus und zeigt auch, wie reich die Stadt in der Hansezeit war. Auf dem Gartenhof des Vereins Kulturmühle in Wismar herrscht eine kreative Idylle – Farbtöpfe stehen herum, Hammer, Zange, Leisten liegen auf Tischen und Bänken neben Kostümen, Stoffen und Requisiten. Dahinter sind übergroße Masken, Skulpturen und Marionetten zu sehen: Die Vorbereitungen für das bevorstehende Straßentheaterspektakel „Nosferatu ‒ ein Drehtag des Grauens, Klappe die Zweite" laufen auf Hochtouren.
Im Juli 1921 drehte in Wismar der Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau „Nosferatu ‒ Eine Symphonie des Grauens". Es war die erste Verfilmung auf der Grundlage von Bram Stokers Roman „Dracula". Greta Schröder, Max Schreck und Gustav von Wangenheim spielten die Hauptrollen in der gruseligen Story vom dämonischen Grafen Orlok, einem Vampir aus den Karpaten, der mit dem Schiff, mit Sarg unterm Arm und Ratten im Schlepptau durch das Wassertor trat und der Stadt eine tödliche Krankheit brachte, nämlich die Pest.
Wismar, die Stadt, die im Stummfilmklassiker Wisborg genannt wurde, lieferte die ersten Drehorte. Weitere Aufnahmen wurden in Lübeck, Rostock, Sylt, Lauenburg, in den Karpaten, der Hohen Tatra, im Tegeler Forst und in den damaligen Johannisthaler Filmanstalten in Berlin gedreht. Der Horror-Klassiker „Nosferatu" ging in die Filmgeschichte ein.
Neuauflage vor historischer Kulisse
101 Jahre später wird jetzt vor historischer Kulisse der Wismarer Altstadt ein neues Horror-Spektakel präsentiert. Bis zu über vier Meter große Figuren werden durch Schauspieler und Puppenspieler zum Leben erweckt und erzählen vor den originalen Drehorten eine schaurig-spannende Vampirgeschichte. Die Zuschauer laufen mit von einem Original-Drehort zum nächsten und erleben den Vampir auf einer großen Leinwand.
Die Idee zur Neuinterpretation hatte Regisseur Lars Maué vom Verein Kulturmühle. Angestachelt hatte ihn ein Artikel in einer Regionalzeitung, der fragte, weshalb Wismar eigentlich seine „blutige Vergangenheit" nicht nutze? „Ich dachte, ja warum nicht? Sofort war der Funke übergesprungen. Nosferatu sollte in einer Neufassung auferstehen." Doch zur Aufführung kam es nicht. „Die Corona-Pandemie forderte uns alle dazu heraus, das Stück nochmals völlig neu zu erschaffen, indem Darsteller wie Publikum Abstand halten." Die Idee der großen Figuren war geboren. „Der Vorteil: Sie bleiben Corona-kompatibel. Außerdem können wir das stumme Theater ohne Lärmbelästigung für die Anwohner realisieren. Entsprechend haben wir die Choreografie aufgebaut, die Bewegungsabläufe der agierenden Figuren eingeprobt." Lars Maué will nicht einfach die Filmhandlung wiedergeben. Er hat eine eigene, spannende Vampirgeschichte entwickelt. „Wir haben auf die ursprüngliche Fassung zurückgegriffen und doch Inhalte neu dramatisiert, Bilder völlig neu entwickelt."
Unübersehbar die schaurigste Figur: der Vampir, an dem sich Lars Maué zu schaffen macht. Er ruckelt an der hohen Grusel-Gestalt im schwarzen Gewand herum, klettert in das Gehäuse und versucht mehrmals mithilfe seiner Kollegen, die Marionette über die langen Holzstäbe aufzurichten, bis es ihm endlich gelingt. Dies erfordere hohe Konzentration und körperliche Kraft, sagt der Maskenbauer. Am St.-Marien-Kirchturm wartet eine junge Frau, kostümiert im 20er-Jahre- Look. Lange, cremefarbene Perlenhalskette, Charleston-Kleid und Stirnband mit Federschmuck.
Stadtführung mit Nosferatu
Christine Kraß wartet auf ihre Gäste. Von hier aus startet sie die „Nosferatour" durch Wismar. Die Stadtführerin weist auf Szenenbilder, Plätze, Tafeln, die an die einstigen Filmaufnahmen erinnern: Im Hof der Heiligen-Geist-Kirche, unter dem Wassertor, vor dem Stadthaus am Markt. Die Stadtführerin wartet aber auch mit Anekdoten auf, so wie der von der Zeitungsannonce während der Dreharbeiten: „30 bis 50 lebende Ratten sofort zu hohen Preisen zu kaufen gesucht." Mit dem folgenden Angebot an Ratten aber hatte das Film-Team nicht gerechnet. In den darauffolgenden Tagen wurden daher unzählige Anzeigen zu Rattengift veröffentlicht.
Eine Frage, die Christine Kraß immer wieder beantworten muss, dreht sich darum, was den Drehbuchautor zu diesem Filmstoff bewegte. „Das Grauen des Ersten Weltkriegs steckte noch tief in den Menschen. Die Spanische Grippe forderte 50 Millionen Tote. Die Überlebenden fielen in starke Depressionen. Der Vampir stehe als Synonym für die Pest", schätzt die Stadtführerin.
Immer in ihrer Nähe zeigt sich etwas verborgen und doch präsent eine furchterregende Gestalt mit zwei vorstehenden, unappetitlich aussehenden Zähnen, mit langen Fingernägeln und langen Ohren. Sie trägt einen schwarzen Sarg abwechselnd unter dem rechten Arm, auf dem Rücken oder vor dem Oberkörper. Es ist der Gegenspieler von Christine Kraß. Hinter der Maskerade steckt Micha Glockemann. Wenn der Abend dämmert, ziehen er und seine Kollegin einmal im Monat durch Wismar und halten bei Stadtbesichtigungen das Erbe Nosferatus wach.
Wismar hat aber als Filmstadt noch mehr zu bieten – nämlich als Schauplatz der erfolgreichsten Krimiserie des ZDF, „Soko Wismar". Micha Glockemann spielt regelmäßig als Komparse in der Serie mit und nimmt Touristen mit auf Soko-Spuren. In seinen Stadtführungen liefert er neben Wissenswertem zu Wismar auch Insider-Infos vom Dreh. Denn Verfolgungsjagden gab es nicht nur im Rathaus oder auf dem Marktplatz. Auch in Gärten oder engen Gassen wurden Tatwaffen entdeckt. Mittlerweile reisen Fans der Vorabend-Krimiserie aus ganz Deutschland an. Seit 2004 lösen die Ermittler der „Soko Wismar" jede Woche einen neuen Fall. Beim Vorspann „fliegen" die Zuschauerinnen und Zuschauer mit dem Hubschrauber über Hafen und Altstadt – und bekommen schon zu Beginn einen wundervollen Blick auf Wismar.