Mit Oscar da Silva hat zwar ein Leistungsträger den Club verlassen, doch Alba Berlin macht anders als in den Vorjahren keinen größeren Umbruch durch. Verpflichtet wurden Talente mit großer Perspektive.
Das Gerücht machte schon lange die Runde, Mitte Juli war es dann auch offiziell: Oscar da Silva verlässt Alba Berlin nach nur einer Saison. Der Nationalspieler, der erst im vergangenen Sommer in die deutsche Hauptstadt gewechselt war, machte von seiner Ausstiegsklausel Gebrauch. Bei Alba war ihm deshalb niemand wirklich böse. Zum einen, weil sich die Berliner den Power Forward auf die gleiche Weise aus Ludwigsburg geangelt hatten. Und zum anderen, weil wohl fast alle Spieler in Europa die Tür öffnen würden, wenn der große FC Barcelona anklopft. „Wir sind sehr stolz auf Oscar und die Art und Weise, wie sehr er sich bei uns in nur einer Saison entwickelt hat", sagte Albas Sportdirektor Himar Ojeda, dessen Abschiedsworte nur Dankbarkeit ausdrückten: „Er hat in dieser Spielzeit sein Können ausdrucksvoll zur Schau gestellt und ist als Sportler und Mensch gewachsen. Er ist ein toller Typ mit einer großen Zukunft."
Da Silva wechselt „mit einem lachenden und einem weinenden Auge" zum spanischen Spitzenclub, wie er selbst sagte. Denn in Berlin hatte sich der 23 Jahre alte Power Forward prächtig entwickelt, sowohl in der Bundesliga als auch Euro League viel Spielzeit erhalten, und es wurde ihm große Verantwortung übertragen. Außerdem konnte er mit dem Meistertitel und dem Pokalsieg das Double feiern – eine völlig neue und sehr prägende Erfahrung für den Sohn einer deutschen Mutter und eines brasilianischen Vaters. Es sei eine „unglaublich aufregende, lehrreiche und erfolgreiche Saison" gewesen, und er werde „für immer dankbar sein für die Chance", sagte da Silva. Aber es sei an der Zeit, „ein neues sportliches Kapitel" aufzuschlagen.
Da Silva entwickelte sich prächtig
In Barcelona wird alles noch mal eine Nummer größer sein für da Silva. Das Team wird von Star-Trainer Sarunas Jasikevicius gecoacht, seine neuen Teamkollegen sind unter anderem Nick Calathes und Nikola Mirotic, zwei der bestbezahlten Spieler in Europa. Deutsche Basketballprofis im Blaugrana-Trikot gab es schon einige: Patrick Femerling, Tibor Pleiß, aber auch der kürzlich verstorbene Ademola Okulaja liefen schon für Barcelona auf. Da Silva unterschrieb dort einen Dreijahresvertrag – aber die Vergangenheit hat gezeigt, dass der selbstbewusste Profi mit seinen Aufgaben wächst und gern schnell neue Herausforderungen annimmt. Demnächst also bald die NBA? Eigentlich hatte der gebürtige Münchener, der an der Stanford University studiert und erfolgreich College-Basketball gespielt hat, schon 2021 mit einem Wechsel in die beste Liga der Welt geliebäugelt. Womöglich wird dieser Traum über ein paar Umwege doch noch wahr.
Und Alba? Verliert das Team wie in den Vorjahren wieder mehrere Leistungsträger? Mitnichten. Die Verantwortlichen konnten das Meisterteam bis auf da Silva zusammenhalten. „Ich gehe davon aus, dass alle anderen Spieler bleiben", sagte Ojeda der „Berliner Zeitung". Tim Schneider war der einzige Spieler, bei dem der Vertrag am Saisonende ausgelaufen war. Doch mit dem gebürtigen Berliner einigte man sich relativ problemlos auf einen neuen Kontrakt über drei Jahre. Es scheine fast so, „als hätte ich für das Männerteam diesen Sommer quasi nichts zu tun", scherzte Ojeda.
Das ist natürlich nicht ganz die Wahrheit, denn der Sportdirektor versucht stets, die Qualität des aktuellen und zukünftigen Kaders zu erhöhen. Da das Gerüst für die Saison 2022/23 aber steht, setzt der Club bei den Neuzugängen auf hochveranlagte Talente, die langsam herangeführt werden sollen. Einer von ihnen ist Gabriele Procida, der 20-jährige Italiener kommt von Fortitudo Bologna. Dieser Deal ist ein echter Coup von Alba, denn der Shooting Guard zählt zu den größten europäischen Talenten in seiner Altersklasse. Das weiß man auch in der NBA, beim jüngsten Draft wurde Procida an Position 36 von den Detroit Pistons gezogen.
Der Plan: Der 1,98 Meter große Italiener soll sich bei Alba, das auch in Nordamerika für seine hervorragende Ausbildung bekannt ist, das Rüstzeug für die NBA holen. „Gabriele ist bereit, auf dem höchsten Level zu performen, und wir wollen ihm dabei helfen, sein Spiel auf das nächste Level zu bringen", sagte Ojeda, der den Neuzugang schon „eine Weile unter Beobachtung" hatte.
Ähnliches gilt für Ziga Samar. Der 21 Jahre alte Aufbauspieler erhielt in Berlin sogar einen Vierjahresvertrag, so groß ist das Vertrauen der Verantwortlichen. Samar kommt von Fuenlabrada CB, in der spanischen Topliga wurde er zuletzt ins Team der besten Nachwuchsspieler gewählt. Sein Talent hatte der 1,97 Meter große Jungprofi auch bei der U18-Europameisterschaft bewiesen, als er mit Slowenien Bronze gewann und zum besten Guard des Turniers ausgezeichnet wurde. „Er hat ein enormes Potenzial", schwärmte Ojeda: „Gleichzeitig passt Alba perfekt zu ihm. Wir werden ihm helfen, sein Potenzial weiter auszuschöpfen und ihm die Möglichkeit geben, sich zu einem Spieler auf absolutem Topniveau zu entwickeln."
Die Suche nach Rohdiamanten
An der Grundausbildung dürfte es nicht scheitern, Samar durchlief die hochgelobte Jugendabteilung des spanischen Renommierclubs Real Madrid. Doch auch Alba Berlin sei „eine großartige Organisation", meinte der junge Neuzugang: „Ich freue mich sehr darauf, nach Berlin zu kommen und all die Leute kennenzulernen, die gemeinsam an diesem Projekt arbeiten." Ein ganz entscheidender Punkt für sein „Ja" sei die große europäische Bühne gewesen: „Es war immer mein Traum, in der Euro League zu spielen." Ende Juli gab Alba dann noch den Transfer des 26 Jahre alten Centers Yannick Wetzell (Neuseeland) bekannt.
Wetzell, Samar und Procida sollen von Führungsspielern wie Luke Sikma und Maodo Lo lernen, auch deshalb ist Ojeda froh, dass die beiden noch ein Jahr unter Vertrag stehen. Im Hintergrund arbeitet der Sportdirektor fleißig an einer Verlängerung, er wolle „proaktiv, statt reaktiv" agieren, betonte der Spanier. Sikma und Lo haben dabei allerhöchste Priorität, doch auch sechs weitere Verträge enden im kommenden Sommer. Um dann einen erneuten XXL-Umbruch zu vermeiden, müssen vorher Nägel mit Köpfen gemacht werden. Doch Ojeda weiß aus Erfahrung, dass nicht alle Topspieler zu halten sein werden. Dafür bieten die Spitzenclubs in Spitzenligen ein Gehalt, bei dem Alba nicht mithalten kann.
Also muss sich Ojeda weiterhin auf die Suche nach Rohdiamanten begeben, auch wenn sich wie in diesem Jahr die Fluktuation in Grenzen hält. „Ich scoute Jahr für Jahr Spieler, unabhängig vom aktuellen Bedarf", sagte er. Bei seinem diesjährigen Besuch bei der Summer League der NBA in Las Vegas führte Ojeda zahlreiche Gespräche, er beobachtete viele Talente, stärkte sein Netzwerk. Trotzdem ist er froh, dass er in diesem Jahr nicht die ganz großen Entscheidungen für die Männermannschaft vorbereiten und treffen muss, denn seit 2019 ist er auch für den Kader des Frauen-Teams verantwortlich. Und diese Aufgabe hat mit dem jüngsten Aufstieg in die Bundesliga eine völlig neue Dimension angenommen. „Es ist ein großer Sprung. Der Wettbewerb ist viel größer, die Qualität der Spielerinnen viel höher", erklärte Ojeda. Man wolle zwar den Kern der Mannschaft zusammenhalten, müsse aber auch Spielerinnen mit Erstligaerfahrungen dazugewinnen. Zwei von ihnen konnte der Sportdirektor bereits verpflichten: Nina Rosemeyer und Deeshyra Thomas.