Kaum mehr als ein Hauch von Nichts: Transparente Kleider sind diesen Sommer einer der Haupttrends der Damenmode. Sie sind zwar kaum alltagstauglich, werden aber als Statement für ein starkes feminines Selbstbewusstsein propagiert.
Es gibt immer wieder mal Trends in der Damenmode, die eigentlich nur für die Laufstege oder für den roten Teppich bei prestigeträchtigen Galas entworfen zu sein scheinen. Das gilt in ganz besonderem Maße für die ultra-transparenten Kleider, die kaum noch die nackte Haut oder die intimsten Körperstellen verhüllen wollen, wie sie eine ganze Reihe von prominenten Designern diesen Sommer in ihren Kollektionen präsentiert haben. Über eine solche Freizügigkeit wäre früher heftigst diskutiert worden, weil Frauen in einem durchsichtigen Hauch von Nichts aus feministischer Perspektive leicht zu voyeuristischen Sexobjekten männlicher Betrachter degradiert werden konnten. Überraschenderweise wurden im Jahr 2022 keinerlei kritische Stimmen bezüglich der sogenannten Naked Dresses mehr vernommen. Weil man sich offensichtlich darauf verständigt hat, diese neue Sexyness nicht mehr mit den Themen Sexismus und Objektivierung von Damen automatisch in Verbindung zu bringen, sondern als Ausdruck von weiblicher Selbstbestimmung, starkem Selbstwertgefühl oder einfach Frauenpower zu akzeptieren.
Selbstbewusste Frauenpower
Das ist laut Fashion-Trendanalysten Carl Tillessen, der häufig als Berater für das Deutsche Mode-Institut tätig ist, vor allem der Generation Z zu verdanken, weil diese mit ihrer gesellschaftlichen Einstellung den Nachweis habe erbringen können, „dass sich sexy anzuziehen eben nicht im Widerspruch zu einem modernen, emanzipierten und starken Frauenbild steht und man sich damit keineswegs zum Objekt macht". Ganz im Sinne der Gleichberechtigung werden zudem diesen Sommer auch die Herren von einigen Menswear-Designern kultiviert entblättert. So viel blanke Haut war auf den Catwalks wohl noch nie zuvor gezeigt worden. Allenfalls im Freibad, am Strand oder bei den Auftritten der Chippendales dürften Frauen bislang mehr Möglichkeiten zur Betrachtung maskuliner Tatsachen eröffnet worden sein.
Allerdings könnte sich die Frage wohl erübrigen, ob diese Teile irgendeine Dame oder irgendein Monsieur auf dieser Welt wirklich tragen kann. Denn wir reden hier speziell in der Damenmode von alles anderem als blickdichten Kleidern, mal länger, mal kürzer geschnitten. Und nicht wie in früheren Saisons über Strickkleider aus großen Luftmaschen, durchsichtige Blusen aus Seide oder Chiffon beziehungsweise andere Oberteile, bei welchen die heikelsten Körperstellen durch nur partiellen Einsatz von transparenten Einlagen alltagstauglich und zur Inspiration für den Hausgebrauch geeignet waren.
Die führenden Fashion-Medien sind sich einig darüber, dass in Person von Nensi Dojaka eine aufstrebende Jung-Designerin den Stein so richtig ins Rollen gebracht und die restliche Designer-Crowd mit ihrem ganz persönlichen Stil, der laut der „Neuen Zürcher Zeitung" „für eine neue, mysteriöse und durchdachte Interpretation klassischer Sexyness, die vor Selbstbewusstsein nur so strotzt" steht, gewissermaßen vor sich her getrieben hatte. Die Entwürfe der Gewinnerin des LVMH-Awards, des weltweit bedeutendsten Designer-Nachwuchspreises, waren in Promi-Kreisen in den letzten Monaten heiß begehrt, sowohl die Schauspielerin Zendaya als auch das Model Jourdan Dunn oder die Bloggerin Camille Charriere ließen sich in Dojaka-Kreationen fotografieren. Zendaya posierte bei einer Party in einem farblich zwischen Bordeauxrot und Braun changierenden, dessousähnlichen Chiffonkleid mit hohem Beinausschnitt, wobei Brust, Hüfte und Teile der Beine kaum verhüllend mit transparenten Stoffstücken bedeckt waren.
Blick auf Verborgenes
Die Designer-Kollegen wollten der gebürtigen Albanerin offenbar den sexy Part nicht allein überlassen, zumal inzwischen auch weitere junge Marken wie Supriya Lele in London oder Ludovic de Saint Sernin und Coperni in Paris ganz offensiv in dieses spezielle Bekleidungssegment hineindrängen. Wollte man in den wichtigsten sozialen Medien oder bei der jüngeren Generation auf diesem Feld im Spiel bleiben, galt es daher eigene Duftmarken mit enganliegenden und transparenten Kleidern oder lose lediglich mit Schnüren zusammengefügten Teilen zu setzen, Verkaufbarkeit hin, Tragbarkeit her.
Von daher hatte Moschino-Designer Jeremy Scott der Schauspielerin Vanessa Hudgens auf deren Wunsch hin für den Auftritt bei der Met Gala 2022 einen Hauch von Nichts aus schwarzer Spitze auf den Leib geschneidert. Im Herbst 2021 war Kendall Jenner auf dem roten Met-Teppich mit einem ähnlich freizügigen Kleid gesichtet worden, das von Givenchy-Kreativchef Matthew M. Williams entworfen worden war. Schauspielerin Zoë Kravitz sorgte beim gleichen Event mit einem Kettenhemd von Saint Laurent für Aufsehen. Wobei auch der unübersehbaren Unterwäsche der beiden Promi-Ladys Aufmerksamkeit zuteilwurde: Jenner hatte sich für einen Slip entschieden, Kravitz für einen Tanga. Sie hatten also nicht auf unsichtbare Höschen gesetzt, wie sie beispielsweise das Unternehmen Spanx populär gemacht hatte. Auch nicht auf die sogenannte Strapless Panty, ein dreieckiges Stoff-Feigenblatt, das als Höschen-Alternative unter durchsichtigen Klamotten ohne Bändchen oder Seitenteile auskommt und nur mithilfe eines Silikon-Klebestoffes auf der Haut gehalten wird. „Die Kleider, die 2022 im Trend liegen", so „Harper’s Bazaar", „erscheinen nach der Phase des Loungewear-Trends ungewohnt freizügig ... Lange und kurze Kleider geben den Blick wieder frei auf verborgen
Gebliebenes – warum versteckte man den nackten Kör-per gleich nochmal so lange?"
Damit soll nun offenbar endgültig Schluss sein, zumindest könnte frau diesen Eindruck angesichts der Vielzahl von Naked Dresses auf den Catwalks für die Sommersaison 2022 gewinnen. Den Auftakt machte Khaite in New York, wo Designerin Catherine Holstein ein langärmeliges, bis knapp über dem Bauchnabel offenes, hauchzartes Glitzerkleid präsentiert hatte, das auf Instagram gepostet und gefeiert wurde. An gleicher Stelle zeigte Tom Ford ein bronzefarbenes, ultra-figurbetontes Kleid samt Rundhalsausschnitt. Bei Eckhaus Latta verbargen Stoffstreifen bei Miniröcken kaum den Blick auf intimste Körperregionen, die Tangas der Models konnten daher regelrecht ins Auge springen. David Koma, der sich längst einen Namen für die Party-Wear der Stars gemacht hat, zeigte in London eine semitransparente, paillettenfunkelnde Variante des gewagten Trends. An der Themse spielte Kleider-Transparenz auch bei Labels wie Nensi Dojaka (ihre Debütkollektion mit negligéähnlichen Minikleidern wurde geradezu enthusiastisch gefeiert), Supriya Lele (mit jeder Menge Promi-Party-Looks der Saison), Maximilian, Rejina Pyo oder Ashish eine zentrale Rolle.
Coperni plädierte in Paris für kurze Kleider, die dank des durchsichtig-silbrigen Metal-Meshs tiefe Einblicke erlaubten. Givenchy hatte für sein Naked-Kleid eine Cut-out-Allover-Variante aus Jersey gewählt. Viel nackte Haut war auch bei den Dresses von Koché zu bewundern. In Mailand ließ es sich Versace natürlich nicht nehmen, sich mit eleganten transparenten Kleidern samt langen Schlitzen und asymmetrischem Schnitt an die Spitze des Naked-Trends zu setzen, schließlich zählen sexuelle Anspielungen seit jeher zur DNA des Labels. Alessandro Michele gab sich für Gucci etwas wankelmütig mit einem Lingerie-Kleid, zu dem das Model Strümpfe trug. Weitaus überzeugender waren in Milano hingegen die bodenlangen, bestickten Kleider von Blumarine. Giorgio Armani beließ es bei knöchellangen Tüllroben. Alessandro Dell’Acquas aktuelle Kollektionen für das Label N°21 standen für Damen und Herren gleichermaßen unter dem Motto Body Positivity. Von daher gab es viel Transparentes, teils aus Häkelstoffen, teils aus hauchdünnen Materialien.
„Liebe, Sex und Freiheit"
Ganz neu sind die Naked Dresses natürlich nicht, sorgten sie früher doch regelmäßig für Skandale. Schon 1974 hatte Superstar Cher die Welt bei ihrem Auftritt auf der Met Gala mit einem transparenten, von Bob Mackie designten Traumkleid geschockt – zumal Cher nichts darunter trug. Bei der Oscar-Verleihung 1988 wiederholte die Sängerin ihren Kleider-Coup, wieder war die Robe von Bob Mackie entworfen worden. Doch spätestens seit Rihanna 2014 in einem Hauch von zartem Nichts, das von Designer Adam Selman entworfen und mit unzähligen funkelnden Swarowski-Steinen geschmückt war, über den roten Teppich bei den CFDA-Awards stolziert war, hatten viele Superstars keine Bedenken mehr, ihre Bodys relativ unverhüllt zu zeigen.
Den Vogel schoss dabei fraglos Kendall Jenner 2017 ab, als sie in einem transparenten Dress von La Perla, in den 85.000 Kristalle eingearbeitet waren, die Makellosigkeit ihrer Pobacken unter Beweis stellen konnte. Inzwischen sind Auftritte von Promi-Frauen in Naked Dresses nichts Ungewöhnliches mehr. So war beispielsweise Rita Ora in einer schwarzen Robe von Donna Karan zu bewundern, Beyoncé verzauberte in einem Givenchy-Galakleid, Jennifer Lopez hatte eine Netzhülle von Julien Macdonald übergestreift, Bella Hadid ließ in einem Kleid von Ralph & Russo tief blicken, Cara Delevingne präsentierte ihre Kurven in einem Fishnet-Dress von Versace, Elsa Hosk tat gleiches in einer Glitzer-Robe von Alberta Ferretti.
Noch ein kurzer Blick auf die entblößte Menswear dieses Sommers. Einige Designer haben sich dazu entschlossen, bei ihren Kreationen ganz tief in die sexy Kiste zu greifen, was es in dieser Form wohl außerhalb des Fetisch-Segments noch nie zuvor gegeben hatte. Freigelegte Unterhosen, bauchfreie Tops, transparente Stoffe und vieles mehr. Hauptdarsteller ist der gebürtige Belgier Ludovic de Saint Sernin, der in seinem Pariser Atelier seit jeher dem Motto „Liebe, Sex und Freiheit" folgt und aktuell beispielsweise Bustiers aus Lederstreifen in seiner Sommerkollektion führt. Die Niederländerin Sophie Hardeman setzt heuer mit Jeans-Bodys oder Hosen im Stil von Rodeo-Beinschützern noch einen drauf. Auch Glenn Martens in seiner Doppelfunktion bei Y/Project und Diesel oder Alejandro Gómez Palomo für sein Label Palomo Spain sind tatkräftig an der neuen männlichen Entblätterung beteiligt. Bleibt nur noch die Frage zu beantworten, ob sich irgendjemand außer der mutigen Stil-Ikone Harry Styles an solche freizügigen Klamotten heranwagen wird.