Neun Rennen hat er noch vor der Brust. Dann ist Schluss. Mit dem Finale in Abu Dhabi verabschiedet sich Formel-1-Pilot Sebastian Vettel in den Rennfahrer-Ruhestand. Eine grandiose Karriere geht zu Ende. Wir blicken zurück auf Vettels emotionale Rücktrittserklärung und analysieren die beiden vergangenen Rennen vor der Sommerpause.
Typisch Vettel. Als einziger Formel-1-Fahrer hat er sich den sozialen Medien verweigert. Die Plattformen wie Facebook oder Twitter hat er gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Anderthalb Jahrzehnte lang. Der Aston-Martin-Pilot hat es immer vorgezogen, selbst aktiv zu werden, anstatt Nachrichten online zu posten. In einem früheren RTL-Interview hatte Vettel seine Haltung zu Instagram und Co. so begründet: „Ich verstehe einfach nicht, dass man ständig mitteilen muss, was man macht, wo man ist und mit wem man alles unterwegs ist. Ich habe dieses Mitteilungsbedürfnis einfach nicht." Schön und gut.
Aber jetzt, mit 35 Jahren, in der Blüte seines Lebens, hat Sebastian Vettel wie ein Flugzeugpilot den „Umkehrschub" vorgenommen. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel hat er in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag vor dem Ungarn-Grand-Prix einen Account bei Instagram angemeldet. Am Donnerstagvormittag hatte Vettel schon eine halbe Million Nutzer. Und das, ohne ein einziges Foto auf seinem Account veröffentlicht zu haben. Der einzige Inhalt war der Hinweis „12:00 PM @sebastianvettel". Was steckte wohl dahinter? Ist es der Tag, an dem Vettel seine Influencer-Karriere beginnt? High noon an jenem Donnerstag. Normalerweise werden die Piloten donnerstags vor einem Grand Prix um 15 Uhr (Ortszeit) zur Pressekonferenz verdonnert, müssen sich den Fragen der Weltpresse stellen. Sebastian macht aber sein eigenes Ding. Und zwar an jenem Donnerstag bereits um 12 Uhr. Typisch Vettel. Zur „High-Noon-Zeit" hieß es: Film ab.
Wir sehen in dem Video einen Sebastian Vettel mit gestutztem Bart, langer Mähne und in einem pechschwarzen T-Shirt. Nicht wenige Beobachter vergleichen Vettels äußeres Erscheinungsbild mit „Jesus Christus als Rebell".
Vergleiche mit „Jesus Christus als Rebell"
Entschlossen und gefestigt nimmt Sebastian Vettel auf einem Hocker Platz, guckt mit ernstem Blick in die Kamera, atmet einmal tief durch und legt mit seiner „Predigt" mit Ich-Botschaften und mit viel Pathos in der Stimme los: „Ich werde meine Zeit in der Formel 1 am Ende des Jahres beenden." Das hat gesessen. Ohne Wenn und Aber. Seine Entscheidung begründet er mit „veränderten Zielen". Diese seien „weg von Rennsiegen und um Meisterschaften zu kämpfen, hin zu meinen Kindern. Ich möchte sie aufwachsen sehen, ihnen meine Werte weitergeben, ihnen zuhören und mich nicht mehr verabschieden müssen. Ich möchte von ihnen lernen und mich von ihnen inspirieren lassen." Vettel ist Vater von drei Kindern, den Töchtern Emily (acht), Matilda (sechs) und einem Jungen (geboren im November 2019), dessen Name nicht bekannt ist. „Für mich passt das Maß an Aufopferung für den geliebten Sport sowie ein guter Vater und Ehemann einer wunderbaren Frau zu sein, nicht mehr zusammen. Ich habe während meiner F1-Karriere auf ein normales Familienleben verzichten müssen, und das hat mich viel Energie gekostet. Der Familienvater hat erkannt: „Es gibt auch ein Leben neben der Rennstrecke. Rennfahrer zu sein war nie meine einzige Identität." Über sein Privatleben schweigt Vettel in weiten Teilen und schützt seine Familie dadurch. In dem knapp vierminütigen Clip gibt er aber preis, dass er „die Natur und ihre Wunder liebt." Er sei „stur und ungeduldig". Und: „Ich mag es, Menschen zum Lachen zu bringen. Vor allem aber bin ich ein Optimist, der an das Gute im Menschen glaubt. Ich liebe auch Schokolade, und meine Lieblingsfarbe ist Blau". Soziales Miteinander bedeutet für ihn „tolerant zu sein. Ich denke, dass wir alle das gleiche Recht zu leben haben, ganz egal, wie wir aussehen, woher wir kommen oder wen wir lieben."
Die Rücktrittserklärung des viermaligen Weltmeisters war ein Paukenschlag und verbreitete sich unter seinen Fahrerkollegen wie ein Lauffeuer. Die Reaktionen seiner Weggefährten ließen nicht lange auf sich warten. Kumpel Mick Schumacher nennt seinen Mentor eine „Inspiration" und dankt ihm für „unsere Freundschaft. Du warst und bist für mich eine wichtige Person. Ich bin traurig, dass du uns verlässt". Für Rekordchampion Lewis Hamilton ist es „eine Ehre, dich einen Konkurrenten zu nennen und eine noch größere Ehre, dich meinen Freund zu nennen". Nico Rosberg, Weltmeister 2016, bezeichnet Vettel als „absolute Legende" und einer „der Rivalen, die ich am meisten respektiert habe". Vettels Aston-Martin-Teamchef Mike Krack: „Seb ist ein herausragender Fahrer, schnell, intelligent, strategisch. Seine Qualitäten werden wir vermissen, wir haben viel von ihm gelernt. Wir wollten mit ihm weitermachen, aber letztendlich hat er sich für seine Familie entschieden, und das respektieren wir." Teambesitzer Lawrence Stroll, Vater von Vettels Teamkollege Lance Stroll: „Ich möchte Sebastian aus tiefstem Herzen für seine großartige Arbeit, die er in den letzten eineinhalb Jahren für Aston Martin geleistet hat, danken. Natürlich respektieren wir seine Entscheidung, auch wenn wir gern mit ihm weitergemacht hätten."
Sein Rücktritt kommt nicht ganz unerwartet
Vettels Rücktritt kommt nicht ganz unerwartet. Doch überraschend war die Art und Weise, wie er seinen Rücktritt vermittelte. Er wählte nicht den offiziellen Pressetermin des Teams, sondern er wählte Instagram. Schon lange wurde darüber diskutiert, ob Sebastian einen neuen Vertrag bei seinem fünften Arbeitgeber Aston Martin (nach BMW Sauber, Toro Rosso, Red Bull, Ferrari) unterschreiben wird, oder den Helm an den Nagel hängt. Das Pfeifen der Spatzen von Vettels möglichem Abgang von der großen Motorsportbühne war zuletzt öfter und auch lauter vom Gezwitscher der Vögel von den Dächern der Motorhomes im Fahrerlager wahrzunehmen.
Mit seiner Rücktrittsankündigung hat Vettel aber keinesfalls die Formel-1-Welt in eine Schockstarre versetzt. Diesen Hammerschlag hat Vettels Landsmann Nico Rosberg geschwungen. Fünf Tage nach dessen ersten WM-Triumph, am 2. Dezember 2016, hat der Mercedes-Pilot Knall auf Fall seinen Rückzug bekanntgegeben.
Als viermaliger Weltmeister mit 53 F1-Siegen und vermutlich seinem letzten Triumph 2019 mit Ferrari in Singapur muss Vettel niemandem mehr etwas beweisen. Ein WM-Titel mit Ferrari blieb dem Heppenheimer während seiner sechs Jahre bei den Roten verwehrt. Von der roten (Ferrari-)Gurke ging’s 2021 in die grüne (Aston Martin)-Gurke. Statt vorne mitzukämpfen, regelmäßig aufs Podium zu fahren, zuckt der 35-Jährige im Mittelfeld, im Niemandsland, herum. Immer öfter gurkte der Ex-Star dem Feld hinterher. Heute ist Vettel nur noch ein Mitläufer. Dieser Status ist eines Fahrers vom Kaliber Sebastian Vettel nicht würdig. Und die Hoffnung auf Besserung im grünen Rennwagen erfüllt sich auch im zweiten Jahr nicht. Aktuell belegt Vettel mit gerade mal mit 16 Punkten WM-Rang 14 in den bisherigen 13 Rennen. Dass der nächstjährige Aston-Martin-Bolide besser zündet als in den vergangenen zwei Jahren ist eher unwahrscheinlich.
Nur vier Tage nach Vettels Rücktrittsankündigung hat Aston Martin den Vettel-Nachfolger bekannt gegeben. Der 41-jährige Spanier und aktuell blaue Alpine-Pilot Fernando Alonso wurde mit einem mehrjährigen Vertrag für die Britisch Grünen geködert. Ein zweimaliger Renault-Champion (2005 und 2006) mit 32 GP-Siegen ersetzt einen viermaligen Red-Bull-Weltmeister (2010 – 2013). Das Team gab die Verpflichtung auf Twitter und der Unternehmenswebseite so bekannt: „Das gesamte Unternehmen freut sich sehr darauf, Fernandos unglaubliche Erfahrung und sein brillantes Tempo und Renngeschick mit dem Team zusammenzubringen." Alonso schreibt zu seinem Wechsel, mit dem er auch einer Ausbootung bei Alpine zuvorgekommen sein könnte: „Aston Martin setzt eindeutig die Energie und das Engagement ein, um zu gewinnen. Sie sind eines der aufregendsten Teams in der heutigen Formel 1. Niemand zeigt derzeit eine größere Vision und absolutes Engagement für den Sieg." Starke Worte, viele Vorschusslorbeeren. Abwarten. Fakt bis jetzt ist zweifelsohne: Der Altmeister aus Oviedo im Fürstentum Asturien besitzt echten Star-Status. Zwar ein wichtiger Faktor für sein neues Team – mehr und weniger aber jetzt noch nicht.
Verstappen schon fast durch
Nach der Saison 2018 hat Alonso als McLaren-Pilot und WM-Elfter der Formel 1 adiós gesagt, um sich auf nordamerikanische Rennserien zu konzentrieren. Dann angeheuert 2021 beim Ex-Renault-Team Alpine. Seinen Sitz im blauen Alpine neben Esteban Ocon wird 2023 wohl das australische Supertalent Oscar Piastri (21) übernehmen. Mit Alonsos Wechsel ist auch klar: Haas-Pilot Mick Schumacher wird nicht Nachfolger von Vettel bei Aston Martin. Sein Mentor hat Jung-Schumi zuletzt bei seinem Noch-Arbeitgeber des Öfteren ins Spiel gebracht. Micks Vertrag beim US-Rennstall läuft zum Ende der Saison aus. Ausgang noch offen.
Nach seinen beiden Höhenflügen in England (Platz acht/vier WM-Punkte) und in Österreich (Platz sechs/acht WM-Punkte) wurde der kurzzeitige „Überflieger" beim GP Frankreich in Le Castellet vom Chinesen Zhou im Alfa Romeo zu einem Dreher gezwungen und mit Platz 15 geerdet. „Bulle" Max Verstappen bekam seinen siebten Saisonsieg von Ferrari-Star Charles Leclerc auf dem Silbertablett serviert. Nach dessen 18 Führungsrunden ging’s per Abflug in die Bande. Aus und vorbei für einen möglichen Sieg nach seiner siebten Jahres-Pole-Position für den Monegassen. Teamkollege Carlos Sainz kam auf Platz fünf hinter Sergio Perez im zweiten Bullen-Boliden. Mercedes-Star Lewis Hamilton fuhr in seinem 300. Grand Prix auf Rang zwei, gefolgt von seinem Teamkollegen George Russell. Ein Topergebnis für die Mercedes-Piloten.
Dieses Ergebnis wiederholte sich auch acht Tage später in Ungarn. Wieder siegte Weltmeister Verstappen. Und wie! Nach Problemen im Qualifying nur von Platz zehn gestartet, pflügte Verstappen wie entfesselt und besessen als „fliegender Holländer" durch das Feld, war trotz eines Drehers außer Rand und Band und schnupfte einen Gegner nach dem anderen auf, überholte zweimal den führenden Leclerc im Ferrari und setzte sich an die Spitze. Es war sein achter Saisonsieg (sein 28. insgesamt) und ein weiterer Weg zur Titelverteidigung. Mercedes komplettierte das Podium mit Hamilton und Russell, der als Überraschungs-Pole-Starter das Puszta-Rennen bis zur 30. Rennrunde anführte, sich dann aber als Dritter „geschlagen" geben musste.
Das Ferrari-Duo Carlos Sainz und Charles Leclerc startete von den Plätzen zwei und drei in den Ungarn-GP. Am Ende reichte es aber nur für die Plätze vier und sechs. Falsche Strategieentscheidungen und verkehrte Reifenwahl wurden den Fahrern wieder einmal zum Verhängnis. Vettel kämpfte sich von Startplatz 18 bis auf Rang zehn vor (ein Punkt), Mick Schumacher im Haas konnte sich nicht verbessern, blieb auf Startrang 14.
Mit einem satten, komfortablen Vorsprung von 80 WM-Punkten auf WM-Rivale Leclerc (178) konnte sich Verstappen (258) mit seinem achten Saisonsieg ganz gelassen aus der Puszta in die Sommerpause verabschieden. Wie sich ein Sieg beim nächsten Rennen in Spa/Belgien (28. August) anfühlt, weiß der Bulle noch als Triumphator aus der „Regenschlacht" des vergangenen Jahres.