Seit über 30 Jahren ist Sandra Bullock ein strahlender Fixstern am Himmel von Hollywood. Kurz vor ihrem 58. Geburtstag hat sie jetzt ihren Abschied von der Schauspielerei verkündet. Wird die Actionkomödie „Bullet Train" (seit 4. August im Kino) tatsächlich ihr letzter Film sein?
Ein Linienbus jagt im frühen Berufsverkehr mit mehr als 80 Sachen über einen Freeway in Los Angeles. Am Steuer eine junge Frau namens Annie. Annie ist im Ultra-Stress. Fährt sie nämlich langsamer als 80 km/h, explodiert der Bus mit 13 Fahrgästen an Bord. Diesen teuflischen Plan hat sich ein Psychopath ausgedacht, um 3,7 Millionen Dollar Lösegeld zu erpressen. Zusammen mit einem L.A.-Cop versucht Annie, die Katastrophe zu verhindern. Das größte Problem: Der Freeway ist nicht fertig gebaut. Mitten auf einer Brücke klafft noch eine 15 Meter breite Lücke …
In der Rolle der toughen Busfahrerin wider Willen wurde Sandra Bullock zum Weltstar. Allein in Deutschland sahen über drei Millionen Zuschauer den nervenaufreibenden Action-Thriller „Speed" (1994) im Kino. Sandra Bullock war die Idealbesetzung für Annie: sympathisch, attraktiv, aber ohne ausgestelltes Sex-Appeal. Mit jugendlichem Charme und dem Herzen auf dem rechten Fleck bediente sie perfekt das Girl-Next-Door-Image, das sie später so gekonnt einsetzte. Auch in vielen romantischen Komödien, zum Beispiel im bezaubernden Liebesfilm „Während du schliefst" (1995). Und genau wie Annie packte sie die Gelegenheit beim Schopf – und stand plötzlich im Mittelpunkt. Mit ihren folgenden Filmen – den Thrillern „Das Netz" (1995) und „Die Jury" (1996) – etablierte sie sich als eine der bestbezahlten Schauspielerinnen in Hollywood.
Amerikas Sweetheart
„Ich war selbst überrascht, dass es plötzlich so gut für mich lief", erinnert sich Sandra Bullock mit einem Lächeln auf den Lippen. „Denn bevor ich mit ‚Speed‘ meinen großen Durchbruch erlebte, hatte ich ja schon in ein paar TV-Serien mitgespielt und war in einigen Kinofilmen zu sehen. Ich konnte also schon seit einer Weile ganz gut von der Schauspielerei leben. Aber ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich auf der Karriereleiter so weit nach oben fallen würde. Ich war wohl einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort." Was wohl eine leichte Untertreibung ist: Denn Mitte der 90er-Jahre war Sandra Bullock – neben Julia Roberts – nicht nur ein Superstar, sondern auch das Sweetheart Amerikas.
1964 in Arlington, Virginia, geboren, wurde Sandra Bullock natürlich vom American Way of Life geprägt. Sie war Cheerleaderin an der Washington-Lee Highschool und wurde dort zum „Most Likely to Brighten Your Day"-Girl gewählt. Die charmante Herzlichkeit, die so typisch für ihren Charakter ist, hat sie sich bis heute bewahrt. Hat man das Glück, sie im Interview zu erleben, ist man von ihrer Liebenswürdigkeit schnell eingenommen. Und nicht selten blitzt bei ihren Antworten der Schalk in ihren braunen Augen auf.
Nach dem Schulabschluss studierte sie ab 1982 an der East Carolina University Schauspielerei, brach das Studium aber 1986 ab, ging nach New York und besuchte dort Schauspielkurse beim berühmten Schauspiellehrer Sanford Meisner, der auch schon Tom Cruise, Diane Keaton und Steve McQueen unter seine Fittiche genommen hatte. Trotz ihrer vielseitigen Ausbildung kam Sandra Bullock zunächst aber nirgends als Schauspielerin unter. Also schlug sie sich als Bedienung, Reinigungskraft und sogar als Hundefrisörin durch. Ihr erstes Engagement bekam sie im Off-Broadway-Stück „No Time Flat" – doch die Resonanz darauf war gleich null. Unbeirrt zog sie 1989 nach Los Angeles, um dort ihr Glück zu versuchen.
Neben der amerikanischen Prägung hat Sandra Bullock jedoch auch einen deutschen – oder besser gesagt europäischen – Background. Als Tochter einer deutschen Opernsängerin verbrachte sie nämlich ihre ersten zwölf Lebensjahre überwiegend in Nürnberg, wo ihre Mutter am Staatstheater engagiert war. Zeitweise lebte die Familie auch in Wien und Salzburg. Sandra Bullock erinnert sich: „Ich kann immer noch ganz gut Deutsch und denke sehr gerne an diese Zeit zurück." Und mit einem herzhaften Lachen gesteht sie: „Nürnberger Bratwürste sind immer noch mein Lieblings-Snack!"
Als sie mit ihrer Familie in die USA umzog, fand sie sich schnell in den neuen Lebensstil ein. „Ja, das war leicht. Mein Vater war ja Amerikaner und ich bin zweisprachig aufgewachsen. Damals habe ich auch die Erfahrung gemacht, dass die meisten Amerikaner ziemlich tolerant sind. Und wenn man sich nicht gerade als Besserwisser präsentiert, sind sie sehr offen. Ich fühlte mich nie dazu berufen, den Leuten meine Meinung aufzuoktroyieren. Und ich sitze auch heute nicht – nur weil ich eine bekannte Schauspielerin bin – auf Talkshow-Sofas und verkünde lauthals, dass ich die Welt verändern will und wie. Natürlich habe ich privat eine sehr klare Meinung von den Dingen, die in der Welt so passieren. Aber mein Beruf – und meine Berufung – ist es, Leute zu unterhalten. Und das ist es, was ich seit über 30 Jahren getan habe. Ich bin sehr dankbar dafür, dass man mich das so lange hat machen lassen."
Oscarprämierte Darstellerin
Gute Kinofilme drehte Sandra Bullock auch nach dem Millenniumswechsel, hatte aber bei der Auswahl ihrer Rollen oft weniger Glück als zuvor. Nur mit den beiden „Miss Undercover"-Krimi-Komödien (2000 und 2005) konnte sie an der Kinokasse an ihre großen Erfolge anknüpfen. Immer wieder versuchte sie auch ihr RomCom-Image loszuwerden und spielte in Independent-Movies mit, wie zum Beispiel in dem von der Kritik gefeierten Drama „L.A. Crash" (2004). Doch die meisten Hollywoodproduzenten wollten „ihr" Sweetheart nach wie vor nur in Liebesfilmen glänzen sehen. „Damals hatte ich die Nase gestrichen voll von den sogenannten ‚romantischen Komödien‘, die mir stapelweise angeboten wurden. Die meisten dieser Filme waren dermaßen öde und klischeebeladen, dass es mir davor schlicht grauste. Vor allem die Frauenrollen waren furchtbar öde. Ich wollte endlich wieder etwas Frisches, Unverbrauchtes machen."
Die Chance dazu bekam sie 2009 mit „Blind Side – Die große Chance", einem Film nach einer wahren Begebenheit. Sie spielt Leigh Anne Tuohy, eine wohlhabende Frau aus Memphis, Tennessee, die einen aus armen Verhältnissen stammenden schwarzen Teenager – trotz aller Rassen- und Klassenschranken – im Kreise ihrer Familie aufnimmt. Mit viel Geduld und Mutterwitz hilft sie ihm dabei, ein großartiger Football-Spieler zu werden. Für diese Rolle wurde Sandra Bullock 2010 mit dem Oscar als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet. Fünf Jahre später war sie für „Gravity" noch einmal für den Oscar nominiert: Ihre Rolle in diesem Science-Fiction-Thriller halten viele Kritiker für Bullocks beste schauspielerische Leistung. Wie sie nach einer Katastrophe im Weltraum – bei der ein gewisser George Clooney langsam unwiderruflich in den Kosmos abdriftet – mutterseelenallein in einem Raumschiff um ihr Überleben kämpft und es schließlich schafft, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen, ist ganz großes Kino. „Gravity" ist mit 800 Millionen Dollar Einspielergebnis auch ihr größter Boxoffice-Erfolg. Dass Sandra Bullock für diese Rolle schlappe 90 Millionen Dollar Gage bekommen haben soll, sei hier nur am Rande erwähnt.
Wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen, versuchte sie auch nach einer Katastrophe in ihrem Privatleben. Denn auf die Oscar-Verleihung 2010 fiel ein tiefschwarzer Schatten. Der Grund: die peinlichen Enthüllungen zu den außerehelichen Affären ihres Ehemanns Jesse James (Moderator der TV-Show „Monster Garage"), die im März öffentlich wurden. 2005 hatte Bullock den tätowierten Motorrad-Schrauber – zur Verblüffung vieler ihrer Freunde – geheiratet. Noch im Januar 2010 hatten sie gemeinsam ihren Sohn Louis (heute 12) adoptiert. Der Schock, jahrelang betrogen worden zu sein, war Sandra Bullock deutlich anzusehen. Im April reichte sie die Scheidung ein. Im Juni war sie geschieden. Danach zog sie sich ins Privatleben zurück. Natürlich war der Skandal ein gefundenes Fressen für die Klatschpresse. Aber Sandra Bullock schirmte sich konsequent ab, und außer ein paar Paparazzi-Fotos, die sie beim Spazierengehen mit ihrem Sohn zeigten, war nichts zu holen. „Glücklicherweise hatte ich ein paar echte Freunde, die mir in dieser schweren Zeit zur Seite standen", sagte sie später.
2015 adoptierte sie als Single-Mutter ein heute zehn Jahre altes Mädchen namens Laila. Sandra Bullock hat in der Erziehung ihrer Kinder, die beide afroamerikanische Wurzeln haben, ein neues Lebensglück gefunden, gab aber zu, „dass es wohl doch einfacher wäre, wenn wir alle dieselbe Hautfarbe hätten. Nicht wegen mir, sondern wegen der Mitmenschen um uns herum. Da gibt es noch überraschend viele Ressentiments." 2015 ging sie zudem eine feste Beziehung mit dem Fotografen Bryan Randall ein. Er sei die Liebe ihres Lebens, so die Schauspielerin. Die Patchwork-Familie lebt heute überwiegend in New Orleans. Zu ihrer damaligen Pause vom Filmgeschäft meinte Sandra Bullock selbstbewusst: „Man muss ja nicht ständig in Hollywood präsent sein. Und seit einiger Zeit gehöre ich zu den wenigen Glücklichen in Hollywood, die ihr Privatleben in vollen Zügen genießen können. Das hat bei mir, ehrlich gesagt, lange gedauert. Denn früher war mein ganzes Streben darauf ausgerichtet, im Filmbusiness Fuß zu fassen. Und als ich das endlich geschafft hatte, tat ich alles dafür, meine Karriere am Laufen zu halten. Deswegen musste ich oft bis zum Umfallen arbeiten. Und ich durfte mir um Himmels Willen keinen Fehler leisten. Dachte ich zumindest … Ich hole den Spaß, den ich damals verpasst habe, eben heute nach."
„Das hat mich ausgelaugt"
Zum Glück war der Abschied damals nicht endgültig. Nach fünf Jahren kehrte Sandra Bullock wieder auf die Leinwand zurück: 2018 feierte sie einen großen Erfolg mit dem Netflix-Thriller „Bird Box", den sie mit ihrer Firma Fortis Film (gegründet 1995) selbst produzierte. Es sieht so aus, als wende sie sich seit einigen Jahren neben der Schauspielerei nun immer mehr dem Produzieren von Filmen zu. 2021 produzierte sie das Drama „The Unforgivable", ebenfalls für Netflix, und danach den Kinofilm „The Lost City" (2022), in dem sie neben Channing Tatum und Daniel Radcliffe die Hauptrolle spielt. Für diese Mischung aus Screwball-Komödie und romantischem Action-Abenteuer à la „Auf der Jagd nach dem grünen Diamanten" konnte Sandra Bullock auch ihren langjährigen guten Freund Brad Pitt gewinnen, der mit seinem furiosen Cameo-Auftritt allen übrigen die Show stiehlt. „Sandra ist eine treue Seele, die alles stehen und liegen lässt, wenn man sie um Hilfe bittet", meint Brad Pitt, „deshalb habe ich keinen Augenblick gezögert, bei ihrem Film mitzumachen. Dabei hatten wir alle richtig großen Spaß." Für diesen Freundschaftsdienst bedankte sich Sandra Bullock, indem sie wiederum in Brad Pitts neuem Film „Bullet Train" (seit 4. August im Kino; siehe Kritik Seite 88) mitspielte.
Was wie ein grandioses Comeback aussah, kam zu einem jähen Ende, als Sandra Bullock vor Kurzem in einem Interview mit dem US-Branchenblatt „The Hollywood Reporter" ihren Ausstieg als Schauspielerin ankündigte. „Ich bin total ausgebrannt! Während der Covid-Pandemie habe ich einen Film nach dem anderen gedreht, und das hat mich ziemlich ausgelaugt. Ich habe mir auch viel Zeit zum Nachdenken genommen. Und da wurde mir bewusst, dass ich mich ab jetzt noch intensiver um meine Familie kümmern will, vor allem um meine Kids. Und ich will auch wieder mehr auf meine Gesundheit achten. Außerdem will ich mich nicht mehr nach Terminplänen richten müssen, die andere für mich aufstellen. Ich bin schließlich meine eigene Herrin."
Ob dies nur eine lange Pause sein wird oder doch der endgültige Abschied von der Schauspielerei, lässt Sandra Bullock bewusst offen. Bleibt zu hoffen, dass sie sich gut erholt und neue Kräfte sammelt. Und dann vielleicht doch wieder Feuer fängt. Denn ihre charmante, witzige und herzerfrischend offene Art fehlt jetzt schon sehr.