Das wohl umstrittenste Kleidungsstück der Modegeschichte feiert diesen Sommer ein Comeback. Allerdings nicht als Korsett, in der einschnürenden, den Body formenden und auf Dauer deformierenden Variante vergangener Tage, sondern vor allem in tragbarer Weise als Corsage.
Schon erstaunlich, an welche Szene aus einem berühmten Filmstreifen sich einige Moderedakteurinnen jüngst zur Einführung ihrer Leserinnen in das aktuelle Trendthema Korsett zurückerinnern konnten. Denn das enge Einschnüren des Oberkörpers der weiblichen Hauptfigur Rose DeWitt Bukater alias Kate Winslet durch ihre Mutter Ruth DeWitt Bukater alias Frances Fisher zählt fraglos nicht unbedingt zu dem Spektakulärsten, was der Streifen „Titanic" anno 1997 von Regisseur James Cameron zu bieten hatte. Zumal die Sequenz mit ihrer Abschreckung und mitleidiges Entsetzen auslösenden Assoziation wohl kaum dazu geeignet gewesen sein dürfte, die Damen positiv auf das Comeback des Korsetts in der Sommersaison 2022 einzustimmen. Auch nicht wesentlich besser war der gelegentliche Verweis auf spektakuläre modische Neuinterpretation des Korsetts aus der jüngeren Fashion-Vergangenheit. Beginnend mit Vivienne Westwood in den 1970er-Jahren, die das wohl umstrittenste Kleidungsstück der Modegeschichte als festen Bestandteil ihrer auf Rebellion und maximalen öffentlichen Schockwert ausgerichteten Punk-Ästhetik eingesetzt hatte. Gefolgt von Jean Paul Gaultiers mit Sex und Erotik aufgeladener Korsett-Kreation für Superstar Madonna, die dieses Piece auf ihrer „Blonde Ambition Tour" anno 1991 weltberühmt gemacht hatte.
Sprunghafter Anstieg von Anfragen
Na gut, mögen sich diverse Stil-Expertinnen da gedacht haben, wählen wir einfach den sicheren Weg zur Erklärung des aktuellen Korsett-Revivals. Weil es da nun mal die Erfolgsserie „Bridgerton" gab, aus der sich in den letzten Monaten mühelos eine ganze Reihe neuer Trends ableiten ließ. Und tatsächlich war das Korsett natürlich in der im Jahr 1813 spielenden Netflix-Produktion aufgetaucht, allerdings in einer modehistorisch ziemlich freien und verfälschenden Interpretation, weil im damaligen Empire-Stil dem Korsett eigentlich nicht mehr die Aufgabe übertragen worden war, die Taille betonend einzuengen. Da diese von einer unterhalb des Brustbereichs einsetzenden Stofflawine ohnehin nahezu unsichtbar geworden war, sollte das Korsett nur noch die Büste vorteilhaft heben. Aber die weiblichen Fans der Serie hatten sich offenbar keinen Kopf über solche Petitessen gemacht, sondern zeigten plötzlich reges Interesse an dem Teil, wie ein geradezu sprunghafter Anstieg der Anfragen auf dem Portal der weltgrößten Modesuchmaschine Lyst belegen konnte. Weil die erste Staffel der Netflix-Serie aber schon Ende 2020 an den Start gegangen war, hätten sich die Designer schon ziemlich lange Zeit gelassen, um sich ausgerechnet erst für die Sommersaison 2022 für die Corsage zu erwärmen.
Viel naheliegender scheint uns daher mal wieder ein ziemlich trivialer, aber schon in der Vergangenheit mit Erfolg gekrönter Inspirationsansatz für die Kreativen der Fashionwelt. Weil schon anno 2016 eine ganze Reihe von Prominenten das Korsett für sich wiederentdeckt hat. Und zwar im Unterschied zur klassischen, immer wieder scharf verurteilten einschnürenden Umsetzung des Teils in einer neuen Variante, die auch diesen Sommer im Mittelpunkt des Designer-Interesses steht. Denn in Abwendung von der die weibliche Gesundheit über 400 Jahre lang von der Spätrenaissance bis ins frühe 20. Jahrhundert prägenden Funktion einer Formung oder Deformation des weiblichen Körpers im Sinne eines patriarchalisch vorgegebenen Schönheitsideals wurde das Korsett schon vor sechs Jahren von Protagonistinnen wie Gigi Hadid, Hailey Baldwin oder Rihanna Richtung Fashion-Corsage umgedeutet.
Corsage ohne Unterwäsche-Fantasien
Weil die Damen das Teil im lässigen Layering-Style einfach als zusätzlichen Eyecatcher über Blusen, Hemden, T-Shirts, Hemdkleidern oder Pullovern getragen hatten. Ohne dabei auch nur einen Gedanken an frühere Schmähungen des Korsetts oder seiner viel späteren Neubewertung als Symbol weiblicher Freiheit oder Selbstbestimmung zu verschwenden. Dieser spielerische Umgang mit dem pfiffigen Accessoire, völlig frei von gesellschaftlich nicht mehr akzeptierter körperlicher Einengung oder sexueller Konnotation, wird von den Promi-Ladys auch auf ihren Instagram-Accounts vorgeführt. Der Trend scheint daher im Sommer 2022 wieder mal, zugegebenermaßen mit einigem Zeitverzug, vom Street Style auf den Laufsteg übergesprungen zu sein. Dass sich auch Supermodel und Stilikone Kendall Jenner als Korsett-Fan präsentiert hatte und dadurch laut der deutschen Ausgabe der „Elle" „dem Hype um das einstmals antiquierte Kleidungsstück zu einem neuen Höhepunkt" verholfen haben soll, kann man unkommentiert so stehen lassen. Die deutsche „Vogue" richtete das Hauptaugenmerk ihrer Leserinnen auf den Einsatz der Corsage als pfiffiges Layering-Teil über Kleidern auf den Laufstegen für die aktuelle Sommersaison. Wobei das Korsett optisch meist durchaus noch an Miederwaren erinnert hatte, ohne dabei jedoch irgendwelche Unterwäsche-Fantasien heraufzubeschwören.
Besonders gelungen war die Umsetzung auf der Haute-Couture-Show von Schiaparelli, weil das Piece in goldfarbenen skulpturalen Details dramatische Akzente auf einem eher bewusst schlicht gehaltenen, wadenlangen schwarzen Kleid zu setzen verstand. Beim Stockholmer Label Acne Studios wurde der Aha-Effekt des Korsetts durch feine Stickeinlagen erzielt, wobei das Piece über einem langarmigen, hautfarbenen Seiden-Negligékleid zu kniehochgeschnürten Stiefeln getragen wurde.
Dass frau selbst eine festliche Abendrobe mithilfe einer Corsage zusätzlich aufpimpen kann, bewies Alaia mit einem weit ausgestellten Organza-Kleid, dessen fließend-ausladende Silhouette im Taillenbereich durch das Korsett gezähmt wurde. Bei Alexander McQueen wurde die Funktion des Korsetts als reines Deko-Accessoire besonders deutlich, weil das Model ein mit Nieten und Schnallen besetztes schwarzes Lederkorsett blickfangmäßig über einem ziemlich braven Jeanskleid drapiert hatte. Als Schutz vor allzu nackten Tatsachen hatte das Label AZ Factory das Korsett sogar mal unter dem transparenten Kleid seines Models arrangiert.
Verschiedene Kombi-Partner anstatt Tops
Wem die Layering-Kombi in Verbindung mit einem Kleid zu umständlich oder angesichts der zusätzlichen Stoffauflage bei wärmeren Temperaturen womöglich unangenehm sein könnte, für den haben die Designer von Valentino bis Versace diesen Sommer eine ganze Reihe neuer, attraktiver Bustierkleider entworfen. Die ärmellosen Kleider schmiegen sich angenehm an den Körper und bringen das Dekolleté vorteilhaft zur Schau. Bei Material, Länge, Schnitt und Farbe hat frau die Qual der Wahl. Roberto Cavalli präsentierte ein Minikleid aus schwarzem Leder. Alexander McQueen eine eher sportliche Variante, die bestens mit Sneakern als Partner harmonierte. Verrucht mit einem Hauch Goth das schwarze Bustierkleid in schwarzer Latex-Optik vom Label Rokh. Funkelnd dank zahlloser Applikationen ist das transparente Bustierkleid von Dior aus dessen Haute Couture Show. Um etwaige Bedenken für ein versehentliches Abrutschen an heikler Stelle zu beheben, haben einige Marken wie Cecilie Bahnsen oder Reformation ihre Bustierkleider sicherheitshalber mit hauchdünnen Trägern ausstaffiert.
Doch zurück zur Corsage, die diesen Sommer nicht nur zu Kleidern, sondern auch zu Röcken oder Hosen eine gute Figur macht. Bei Hermès wurde die mit dünnen Trägern über bloßen Schultern gehaltene Corsage mit einem Midirock kombiniert, Acne-Studios wählte einen Minirock als Kombi-Partner. Hose und Corsage aus gleichem Leder waren bei Dion Lee zu bestaunen, aber auch ein lässiger Mix mit Jeanshose ist derzeit angesagt.
Wer etwas wagemutiger ist und gerne nackte Haut zeigen möchte, kann sich für Korsett-Tops entscheiden, wie sie Dolce & Gabbana oder Givenchy in ihrer aktuellen Kollektion führen. Fraglos eine pfiffige Alternative zu BHs. Die aktuell auch durch die Variante Bikini-Tops (im Zuge des aktuellen Beachwear-Trends) zu sehen, beispielsweise auf den Laufstegen von Chanel, Coach, Isabel Marant oder Rejina Pyo, ersetzt werden können.
Aber auch offenherzige Bras können diesen Sommer anstelle von Tops getragen werden, auch wenn die Ladys damit wohl reichlich Blicke auf sich ziehen werden. Auf den Catwalks von Missoni, Miu Miu, Tom Ford, Alberta Ferretti oder Dolce & Gabbana sahen die BHs auf der nackten Model-Haut jedenfalls sehr verführerisch aus.