Bakterien gelten per Definition als mikroskopisch klein. Doch nun stellt die Entdeckung einer bis zu zwei Zentimeter großen Spezies die diesbezüglichen Maximen der Mikrobiologie infrage. Und weil bislang nur ein winziger Teil der Bakterien erforscht ist, ist mit weiteren Überraschungen zu rechnen.
Die sogenannte Schwefelperle von Namibia schaffte es wegen ihrer außergewöhnlichen Größe von bis zu 0,75 Millimetern ins Guinness-Buch der Rekorde und zierte 2003 sogar eine afrikanische Briefmarke. Die Entdeckung der Thiomargarita namibiensis im Jahr 1997 galt als Riesensensation. Normalerweise sind Bakterien nur wenige tausendstel Millimeter groß und können daher mit bloßem Auge nicht erkannt werden. Die „Schwefelperle", die ihre leuchtend weiße Farbe eingeschlossenen Schwefelbestandteilen verdankt, da sie sich von Sulfiden ernährt, und die im Sedimentschlamm der Meere die Bildung von Gesteinen mit einem hohen Phosphorgehalt auslösen kann, übertraf die Größe üblicher Artgenossen um das Hundertfache und galt seitdem als das größte bekannte Bakterium des Globus.
Alles Schnee von gestern. Der Fund des Bakteriums Thiomargarita magnifica mit einer Größe von bis zu zwei Zentimetern hatte das bisherige Wissen der Mikrobiologie und Bakteriologie über die zur Gruppe der sogenannten Prokaryoten (die nur aus einer einheitlichen Zelle bestehen, aber keinen Zellkern haben) zählenden Bakterien gleichsam pulverisiert. Und hatte damit auch die in der Wissenschaft bis dahin vorherrschende Ansicht über die natürlichen physikalischen Grenzen der Bakterienzellgröße infrage gestellt. Bislang galt in der Forschung die Maxime, dass sich Bakterien, die in gigantischer und kaum bezifferbarer Zahl nahezu jeden Lebensraum unseres Planeten besiedeln, wegen ihrer Winzigkeit nur mit einem Mikroskop und nicht mit bloßem Auge erkennen lassen – obwohl sie wesentlich größer als Viren sind.
Thiomargarita magnifica
Deshalb werden sie auch als Mikroorganismen oder Mikroben bezeichnet. Aber bei einer Größe von bis zu zwei Zentimetern wie bei der Neuentdeckung Thiomargarita magnifica kann beim besten Willen nicht mehr von einer Mikrobe gesprochen werden. Bakterien, die in vielfältigsten Formen vorkommen –
stäbchenförmig, rund, spiralförmig oder fadenförmig – waren als erste Organismen der Ursprung allen Lebens auf der Erde und hatten den Globus über dreieinhalb Milliarden Jahre für sich, bevor die ersten Vielzeller auftauchten, aus denen sich neben den Prokaryoten (zu denen neben den Bakterien auch noch kleine Einzeller namens Archaeen gehören) die zweite große Gruppe von Lebewesen unseres Planeten namens Eukaryoten (zu denen neben Pflanzen und Insekten auch Säugetiere und damit der Mensch gehören) entwickeln sollten, die über einen echten Zellkern verfügen, in dem das Erbgut verpackt ist. Laut dem international renommierten Mikrobiologen Prof. Jack Gilbert von der University of Chicago sind Bakterien ganz essenziell wichtig für sämtliches Leben auf dem Planeten: „Ohne Bakterien hätten wir einen toten Planeten. Es sind fantastische Organismen, die zu den unglaublichsten Dingen fähig sind. Sie sind die kleinsten Lebewesen und haben doch den größten Einfluss auf unseren Planeten."
Nur ein winziger Teil der Bakterien unseres Globus konnte bislang erforscht werden. Bisher ist es dafür nämlich unabdingbar, den Organismus zuvor mühevoll in Laboren zu kultivieren. „Bakterien und Archaeen sind die vielfältigsten und am häufigsten vorkommenden Organismen auf der Erde. Da nur ein kleiner Bruchteil von ihnen in Kultur isoliert werden konnte, sind wir bislang grob unwissend bezüglich ihrer Biologie." Dieses Zitat stammt aus einer aktuellen, jüngst im Fachmagazin „Science" veröffentlichten Studie, in der ein Forscherteam der Universität der Antillen und Guyana auf Guadeloupe unter Leitung des Biologen Prof. Olivier Gros und mit Unterstützung des Biologen Jean-Marie Volland von der University of California in Berkeley die sensationelle Entdeckung eines Riesenbakteriums bekannt gemacht hatte.
Schon 2009 war Prof. Gros in den Mangrovensümpfen des französischen Karibik-Überseegebiets auf die unbekannte, fadenförmige Spezies gestoßen, die auf abgestorbenen Blättern unter der Wasseroberfläche angehaftet war. „Zuerst dachte ich, es sei alles andere, nur kein Bakterium", so Prof. Gros. „Denn etwas, das zwei Zentimeter groß ist, kann kein Bakterium sein." Doch mithilfe der Elektronenmikroskopie konnte bald darauf der Nachweis erbracht werden, dass es doch ein bakterieller Organismus sein könnte. Einer Kollegin von Prof. Gros gelang anschließend die Zuordnung zur Familie der Thiomargarita, einer bereits bekannten Gattung von Schwefelbakterien, die Sulfide für ihr Wachstum nutzen. Die gleiche Gattung, zu der auch der bisherige Größen-Rekordhalter Thiomargarita namibiensis gehört. Weitere Untersuchungen hatten darauf hingedeutet, dass es sich bei dem überraschend großen Organismus, so Prof. Gros, „um eine einzige Zelle" handeln musste. An der Antillen-Universität hatte sich gleichzeitig die Molekular-Biologin Prof. Silvina Gonzalez-Rizzo, die bei der aktuellen Studie als Mitautorin genannt wurde, anhand von verschiedenen in den Mangroven eingesammelten Exemplaren mit der DNA-Sequenzierung des Bakteriums beschäftigt: „Ich hielt sie für Eukaryoten und nicht für Bakterien, weil sie so groß waren und scheinbar viele Fäden hatten. Wir erkannten, dass sie einzigartig waren, weil sie wie eine einzelne Zelle aussahen. Die Tatsache, dass es sich um eine ‚Makro‘-Mikrobe handelte, war faszinierend."
Ein erster Anlauf, die Entdeckung in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift zu publizieren, musste abgebrochen werden, weil die dafür nötigen bildlichen Nachweise nicht erbracht werden konnten. Zum Glück kam dann der junge Forscher Jean-Marie Volland ins Spiel, der dank ausreichender finanzieller Unterstützung durch den Einsatz aufwendiger 3D-Mikroskope eine beeindruckende bildliche Darstellung des Riesenbakteriums möglich machte. Volland war es denn auch, der mithilfe eines verblüffenden Größenvergleichs die Monstrosität des Bakteriums veranschaulicht hatte: „Es ist 5.000-mal größer als die meisten Bakterien. Das ist so, als würde ein Mensch auf einen anderen Menschen treffen, der so groß ist wie der Mount Everest."
Doch neben der Größe machten die Forschenden noch eine weitere wichtige Entdeckung, die ebenfalls die bisherigen Erkenntnisse der Mikrobiologie infrage stellen kann. Denn bislang galt die Maxime, dass bei Bakterien die DNA frei in der Zelle im Zytoplasma herumschwimmt und nicht wie bei den Eukaryoten von einer Membranhülle umschlossen wird. Bei der Thiomargarita magnifica war das aber ganz anders, weil die DNA und einige Ribosomen in an die Zellhülle angelagerten Kompartimenten, die von den Wissenschaftlern „Pepine" getauft wurden, verpackt waren. „Die große Überraschung war, dass die vielen Genomkopien in Strukturen verpackt sind, die eine Membran besitzen", so Vollant. „Das ist unerwartet bei einem Bakterium." Und es sei „normalerweise ein Merkmal menschlicher, tierischer und pflanzlicher Zellen, komplexer Organismen, aber nicht von Bakterien". Das neu entdeckte Bakterium könnte daher die altbewährte strikte Unterscheidung der Lebewesen in die beiden Gruppen Prokaryoten und Eukaryoten zumindest etwas aufweichen. „Diese Kompartimentierung von DNA und Ribosomen erinnert an den Zellkern und die Kompartimente von Eukaryoten", so die Forschenden. Thiomargarita magnifica ist laut den Wissenschaftlern „das erste und bisher einzige Bakterium, das sein Erbgut in membrangebundenen Organellen in der Art von Eukaryoten eindeutig trennt und damit unser Konzept einer Bakterienzelle infrage stellt."
5.000-mal größer als andere Bakterien
Mehr als ungewöhnlich war auch die große Zahl von Erbinformationen. Das Genom des Riesenbakteriums enthielt elf Millionen Basen, also DNA-Bausteine, und mehr als 11.000 proteinkodierende Gene, was dreimal so viel ist wie in den meisten bekannten Bakterien bisher ermittelt werden konnte. All diese Besonderheiten können laut den Forschern erklären, warum Thiomargarita magnifica so groß werden und die physikalischen Grenzen von einzelligem Leben aushebeln konnte. Auch ihre lange, dünne Form mit den im Schnitt bis zu 9,7 Millimeter langen Fädchen könnte für das Wachstum von Vorteil gewesen sein, weil sie damit bestens an den Schwefel in den Bodenablagerungen der Mangroven herankommen kann. Aus Sicht der Forschenden wäre es überhaupt keine Überraschung, wenn künftig noch viel größere Bakterien entdeckt werden würden: „Die Entdeckung von Thiomargarita magnifica deutet darauf hin, dass es von uns unbemerkt sogar noch größere und komplexere Bakterien geben könnte."