Die saarländische Singer-Songwriterin Henriette stellt im September ihr neues Album „Dear Shadow" in Merzig live vor. Ein besonderes für sie, denn sie hat dem Country-Pop den Rücken gekehrt.
Henriette, die Arbeit an Deinem Album ist in den letzten Zügen, soll aber bereits am 23. September erscheinen. Dann wird es wohl keine physische Veröffentlichung geben?
Ich habe lange darüber nachgedacht, ob es sich noch lohnt, das Album auch physisch zu veröffentlichen. Meine nostalgische Seite, die mit Kassetten und CDs aufgewachsen ist, ist natürlich ohne Wenn und Aber dafür. Gleichzeitig sieht die Realität so aus, dass die meisten Leute Musik streamen. Eine CD ist heutzutage für die meisten eher ein Liebhaberstück. Schade, aber wahr. Hinzukommt, dass uns die aktuelle Lage zum Sparen zwingt. Ein Album kaufen, wenn man es auch streamen kann, kommt für viele nicht infrage – was mich zwar traurig macht, ich aber auch verstehe. Auch weiß man als Musikerin heutzutage nicht, wie oft man aufgrund der Corona-Lage überhaupt live spielen und dementsprechend CDs verkaufen kann. All diese Gründe führten letztlich dazu, dass ich mich gegen eine physische Veröffentlichung entschied.
Dein Release-Konzert findet zwei Wochen vor der Albumveröffentlichung statt. Das ist ungewöhnlich, oder?
Vor einigen Jahren war es noch ungewöhnlich, das stimmt. Inzwischen machen das sehr viele Künstlerinnen. Dazu muss man ein bisschen das Spiel der heutigen Streamingdienste verstehen. Auf Spotify werden täglich etwa 28.700 neue Songs veröffentlicht. Ich vergleiche das immer mit einem Geburtshaus, da wir Musikerinnen unsere Songs oft als Babys bezeichnen. Die Phase, in der der Song geschrieben, arrangiert, aufgenommen, gemixt und gemastert wird, ist mit den ersten sieben Schwangerschaftsmonaten vergleichbar. Wenn man dann das Artwork erstellt und die Pressetexte schreibt, ist man bereits im achten Monat. Dann kommt der neunte Monat – und der ist bei der Songgeburt der Wichtigste. Denn da lädt man das Baby über einen Anbieter auf Spotify und Co. hoch und macht es für die Geburt bereit. Alle anderen 28.699 Babykreatoren machen das aber auch. Und hier beginnt das Spiel: Logischerweise kann Spotify nicht allen Babys dieselbe Aufmerksamkeit schenken. Also schauen sie, welche interessant sind. Interessant sind die, die schon vor der Geburt viel Aufmerksamkeit bekommen haben. Je mehr Interesse besteht, desto netter behandelt Spotify das Baby. Sobald das Album dann veröffentlicht ist, hilft es natürlich, die Songs oft anzuhören und sie an Menschen weiterzuleiten, die sie ebenfalls mögen könnten. Die ersten zwei Wochen nach der Veröffentlichung zählen. Ist das Baby dann nicht „würdig" genug, stempelt Spotify es als unwichtig ab. Klingt brutal, ist aber leider die Realität. Gerade Künstlerinnen ohne Label sind unheimlich auf die Unterstützung ihrer Fangemeinde angewiesen. Ist das Irrsinn? Wahrscheinlich schon. Hat man ohne den Irrsinn eine Chance? Leider nein. Lange Rede, kurzer Sinn: Mit einem Vorab-Konzert hoffe ich, viele Menschen und damit Geburtshelfer für mein neues Baby zu gewinnen. Außerdem ist es schön, den Saarländern als Erstes meine neue Musik zu präsentieren. Viele sind schon lange Teil meiner Reise, was mich unglaublich freut und rührt.
„Viele sind Teil meiner Reise"
Deine aktuellen Pressebilder erwecken den Eindruck einer tiefgründigeren und reiferen Künstlerin. Täuscht das oder hat sich in den letzten Monaten etwas bei Dir verändert?
Das kann ich ohne Umschweife mit „ja" beantworten. Ich denke, die letzten Monate haben uns alle geprägt und teilweise auch verändert. Man musste über Dinge nachdenken, von denen man gehofft hatte, nie darüber nachdenken zu müssen. Viele haben Dinge gefühlt, die sie nie fühlen wollten. Das macht etwas mit einem.
Man sagt, ein kreatives Herz muss leiden, um sein Bestes geben zu können – und da ist was Wahres dran. Auch ich gehöre zu den Tausenden von Kulturschaffenden, die sich die Frage stellen mussten, ob und wie es weitergeht. Aber trotz der Schwierigkeiten habe ich entschieden, mich durchzubeißen. Es klingt vielleicht abgedroschen, aber ich bin nicht so weit gekommen, um nur so weit zu kommen. Um nicht unterzugehen, habe ich in Berlin eine Weiterbildung zur Trauerrednerin absolviert, was mich durch die schlimmsten Corona-Tiefs gerettet hat. So konnte ich meine Brötchen bezahlen und gleichzeitig auch etwas fürs Album ansparen.
Deine neuen Singles geben einen ersten Einblick in Deinen neuen Musikstil, den Du Cindie-Folk beziehungsweise Cinematic Indie Folk nennst. Wie kam der zustande?
Schon als Kind hatte ich zwei sehr ausgeprägte Seiten in mir. Entweder ich war ausgelassen und voller Action mitten im Geschehen oder ich war introvertiert und in Gedanken versunken irgendwo im Wald. Das ist noch heute so. Von daher spiegelt sich das auch in meiner Musik wider. Ich liebe das Handgemachte, das Pure und Unverfälschte; im gleichen Atemzug liebe ich aber auch große Emotionen und gutes Drama. Die Idee, cinematische Elemente mit handgemachten zu verbinden, war keine bewusste Entscheidung, sondern wuchs aus den Emotionen, die ich mit meiner Musik ausdrücken möchte.
„Große Emotionen und gutes Drama"
Wie kam es dazu, dem Country-Pop den Rücken zuzukehren?
Auch das war keine bewusste Entscheidung, sondern ein Prozess. Ich liebe es, in Bewegung zu sein und mit dem Flow zu gehen. Vor vier Jahren floss dieser vielleicht als kleines Bächlein durch eine sonnige Kakteenwüste. Danach wurde er etwas größer und bahnte sich seinen Weg durch eine hügelige Landschaft, bis er sich nun als junger Fluss in einem wunderschönen Wald neu entfalten kann. Der Herzschlag meiner Musik bleibt allerdings derselbe: Geschichten von mir für dich, direkt aus dem Tagebuch – nur diesmal halt eben aus einem, das normalerweise verschlossen ist.
Stimmt es eigentlich, dass Du das musikalische Programm im Zeltpalast kuratierst?
Letztes Jahr habe ich Joachim Arnold einige Künstler aus dem Singer-Songwriter-Bereich vorgeschlagen, von denen er manche engagiert hat. Seine Idee, das Programm zu erweitern und weitere Sparten anzubieten, finde ich großartig. Überhaupt finde ich es bewundernswert, was dieser Mensch für eine Energie aufbringt, die Kunst weiter am Leben zu erhalten. Ich wünschte, die Welt hätte mehr von diesen Visionären.
Dazu gehört auch im August die Zirkusshow für die Ukraine. Ich habe die große Freude, diese Show moderieren zu dürfen. Da ich mit einem ukrainischen Zirkusartisten verheiratet bin, liegt mir das Thema Ukraine besonders am Herzen.