Im Berliner Fußball sorgen Influencer aktuell für große Ansammlungen junger Fans beziehungsweise Follower – ältere Anhänger tun sich schwer mit dem Hype.
Die alteingesessenen Fans des SV Tasmania und jene von Hertha BSC, die sich auch Spiele der Zweiten Mannschaft ansehen, kamen aus dem Staunen nicht mehr raus. Zur Vorbereitungspartie beider Teams kamen Mitte Juli fast 2.400 Besucher ins Amateurstadion – sicher, der Eintritt war frei, aber sonst verlieren sich hier zu Spielen der blau-weißen Reserve in der Regionalliga Nordost im Schnitt etwa nur 400 Leute. Dass Nader El-Jindaoui das Spiel in Absprache mit Hertha BSC in den sozialen Netzwerken praktisch als Vorstellung bei seinem neuen Verein beworben hatte, war den älteren Fans zum großen Teil wohl entgangen – den „Followern" des 28-Jährigen aber ganz offensichtlich nicht. Und über die verfügt der deutsche Fußballer mit palästinensischen Wurzeln eben in beträchtlichem Ausmaß: 1,2 Millionen Abonnenten sind es bei Youtube, auf Instagram folgen ihm sogar 1,6 Millionen.
Hier hat El-Jindaoui während einer längeren, verletzungsbedingten Auszeit begonnen, Videos aus dem Alltag seiner Familie hochzuladen – und über seine Anstrengungen, sich den Traum vom Profifußball doch noch zu erfüllen. Damit hat der Flügelstürmer einen Nerv getroffen, vor allem bei jungen Leuten mit Migrationshintergrund. Und die sind an diesem Sommertag in den Olympiapark geströmt, um ihr Idol zu erleben – schließlich hat ihnen „Nader" via Internet versprochen, nach dem Spiel mit jedem ein Foto zu machen. Allgegenwärtig an diesem Nachmittag die Smartphones, mit denen die Fans immer wieder kurze Aufnahmen machten, um der Netzwelt zu beweisen, dass man hautnah dabei war. Kein Wunder also, dass der Onlineshop von Hertha BSC zum Erliegen kam, als dort zuvor El-Jindaouis Trikot mit der Nummer 37 in den Verkauf ging. Das besagte Testspiel musste dann – beinahe absehbar – vorzeitig beendet werden. Denn die Fans wollten nach der Auswechslung ihres Helden nicht mehr länger mit dem Selfie warten und stürmten das Spielfeld. Sicher kam es dabei auch zu kleineren Sachbeschädigungen, und ein paar Fußbälle sollten auch stibitzt werden – im Großen und Ganzen blieb es jedoch bei einer durchaus friedlichen Form der Hysterie Heranwachsender. Nicht zu vergleichen jedenfalls mit den Ausschreitungen, die sich weit über 50 Jahre zuvor nur wenige hundert Meter vom Spielort entfernt rund um das Konzert der Rolling Stones in der Waldbühne abspielten – und die manch ein älterer Fan, der sich nun über den Spielabbruch echauffierte, inzwischen vielleicht verklärt haben mag. Bei allem Werbeeffekt und dem damit verbundenen Geschäft aber wird man bei Hertha BSC nun darüber nachdenken, wie in den Heimspielen die strengeren Regeln des Ligabetriebs besser eingehalten werden können – auch, wenn der dort verlangte Eintritt wohl für deutlich weniger Auftrieb sorgen wird. Zum Saisonstart von Hertha II war das „Problem" aber ohnehin noch nicht akut, denn Nader El-Jindaouis Einsatz war aufgrund einer Verletzung lange offen.
Fans stürmten auf das Feld
Übertroffen wurde jener Ansturm dann sogar noch Ende Juli bei einem weiteren Vorbereitungsspiel des SV Tasmania – diesmal empfing man im heimischen Stadion Neukölln das Team von Delay Sports Berlin, erst seit diesem Sommer neu dabei in der Kreisliga C. So viele Zuschauer hatte die Spielstätte wohl seit über 30 Jahren bei einem Heimspiel Tasmanias nicht mehr gesehen: Deutlich mehr als 3.000 Besucher – oder besser Follower? – kamen zu der Partie. Denn hinter Delay Sports steckt der Gamer und Influencer Elias Nerlich (25), der bei Instagram (780.000 Follower) oder Twitch (circa eine Million) eine große Fanbasis besitzt.
Der Verein darf dank einer Sondergenehmigung sogar direkt in den regulären Spielbetrieb des Berliner Fußball-Verbands einsteigen – denn der BFV verspricht sich davon hohe Aufmerksamkeit für den Hauptstadtfußball in einer besonders interessanten Zielgruppe. Nerlich – stets in angesagten Klamotten und mit gezücktem Handy unterwegs – hat sein Vereinsprojekt dabei mit Ex-Hertha-Profi Sidney Friede entwickelt. Gemeinsam konnte man eher für höhere Spielklassen befähigte Kicker zusammentrommeln, die einfach Spaß an diesem Projekt haben (wollen) – und irgendwie nebenher auch noch Geld verdienen. Neben mehr oder weniger fähigen Amateurkickern gehört etwa auch Kevin Pannewitz zu ihnen, der nach seiner von Disziplinproblemen geprägten Profikarriere nun auch bei Delay Sports mitmischen will – Motto: „Ich bin zwar fett, aber für die Kreisliga reicht’s noch." Den Vereinsnamen durften übrigens Fans von „Eli97" (so ein Internet-Pseudonym Nerlichs) aussuchen, er geht zurück auf den englisch geprägten Begriff delay, der im „Fifa"-Onlinespiel für Verzögerung steht. Und nicht nur der BFV zeigte sich kooperativ, auch beim Sportartikelhersteller Adidas war man sogleich sehr offen für eine Partnerschaft mit dem Verein aus der Kreisliga C. Schließlich konnte der innerhalb kürzester Zeit bei Instagram mehr Follower als die Erstligisten Hertha BSC oder 1. FC Union vorweisen. Auffällig: Die Klientel ist eine andere als die bei Nader El-Jindaoui. Die Fans von Delay Sports sind im Schnitt etwas älter (15 bis 22 Jahre) und legen Wert auf einen gewissen Style. Der Abend verläuft auch deutlich entspannter: Alle wollen Spaß haben, Tasmania hat Eintritt verlangt und damit nicht nur einen guten Schnitt gemacht, sondern auch für einen angemessenen Ordnungsdienst gesorgt. Kurz vor Schluss – Erfahrung macht klug – wird den Followern von Delay Sports per Stadiondurchsage dazu für ihren Besuch gedankt und außerdem wiederholt, was Elias Nerlich bereits über das Internet verbreitet hatte: Jeder Spieler von Delay Sports wird nach Abpfiff für Selfies zur Verfügung stehen.
„Für die Kreisliga reicht‘s noch"
Und so gibt es im Anschluss zwar Gedränge, aber wer möchte, bekommt auch eine Stunde nach Abpfiff noch ein Bild – während die sechs Klassen höher spielenden Tasmanen unbehelligt in die Kabinen marschieren. Die älteren Fans des Gastgebers, die vielleicht fünf Prozent der Kulisse ausmachten, schwanken unterdessen erneut zwischen Staunen und Ablehnung: „Toll, dass das Stadion so voll war – aber jede Woche muss ich das nicht haben", sagt einer.