Mit seiner Rücktrittserklärung gelang Sebastian Vettel ein Paukenschlag. Geliefert hat auch Ferrari – der Mitfavorit auf den Titel erwies sich als Langzeitlieferant von Negativ-Schlagzeilen.
Mit dem Großen Preis von Belgien am Sonntag (28. August, 15 Uhr, Sky) beginnt für die Formel 1 eine gnadenlose Hatz. Auf dem Terminplan der Teams und Fahrer steht nach der Sommerpause ein „Triple-Header". Das heißt: drei Rennen an drei aufeinanderfolgenden Wochenenden – ohne Verschnaufpause. Nach dem Rennen in den Ardennen geht’s in die Dünen des holländischen Seebades Zandvoort, zum Heimrennen von Lokalheld und Weltmeister Max Verstappen (4. September). Endstation des „Triple-Headers" ist das Ferrari-Mekka Monza (11. September). Da der Russland-Grand-Prix (25. September) wegen des Angriffs auf die Ukraine abgesagt wurde, können Teams und Fahrer nach dem Italien-GP durchatmen, bevor mit dem GP Singapur (2. Oktober) die sechs strapaziösen Überseerennen starten und mit dem Finale in Abu Dhabi (20. November) enden. Bis dahin ist der Kampf um den WM-Thron längst entschieden. Die Frage lautet nämlich nicht, holt Ferrari mit Leclerc den Punkterückstand auf den WM-Führenden Max Verstappen noch auf, sondern: Nach welchem der verbleibenden neun Rennen hat der Red-Bull-Pilot seinen Titel verteidigt?
Entspannt und mit einem satten, komfortablen Vorsprung von 80 Zählern (umgerechnet mehr als drei Rennsiege) auf den WM-Zweiten, Ferrari-Konkurrent Charles Leclerc (178), startet Verstappen (258) in Spa in den 14. von 22 WM-Läufen. Der Punkteverlust ist die brutale Quittung für mehrfaches Versagen der „roten Herrschaft" (dazu später mehr). Leclerc kann bei aller Rechnerei nicht mehr aus eigener Kraft Weltmeister werden. Selbst wenn der „Rote Kronprinz" immer gewinnt, reichen Bulle Verstappen genauso viele zweite Plätze. Im vergangenen Jahr sicherte sich Max Verstappen erst in der allerletzten Runde der Saison in Abu Dhabi den Titel und krönte sich mit acht Punkten Vorsprung auf Mercedes-Star Lewis Hamilton (395,5:387,5) erstmals zum Weltmeister. Leclerc war am Saisonende abgeschlagen WM-Siebter (159).
Verstappen hat alle Trümpfe in der Hand
Im aktuellen Rennjahr kann Verstappen deutlich schneller seinen zweiten WM-Titel einsacken. Nach Anfangsschwierigkeiten mit seinen Ausfällen in Bahrain und Australien in den ersten drei Rennen und einem Rückstand von 46 Punkten auf den Führenden Charles Leclerc, fanden die Bullen immer besser in die Spur. Nach dem sechsten Lauf übernahm Verstappen in Spanien mit seinem vierten Saisonsieg die Führung in der Fahrer-WM vor Dauerrivale Leclerc. Mit vier weiteren Erfolgen (Aserbaidschan, Kanada, Frankreich, Ungarn) baute der Niederländer seinen Vorsprung auf Leclerc kontinuierlich aus.
Die beiden vergangenen Rennen könnten dem Ferrari-Star den „Gnadenstoß" versetzt haben – das Aus im WM-Titelkampf. In Le Castellet sah Leclerc wie der Sieger aus. 18 Runden führte er das Feld von seiner siebten Jahres-Pole an, also vom ersten Startplatz. Dann fuhr er seine Siegchance buchstäblich gegen die Wand. Sein Ferrari verlor das Heck, Leclerc drehte sich und verabschiedete sich mit einem Abflug krachend in die Bande. Es war das dritte Mal in dieser Saison, dass der Ferrari-Chefpilot in Führung liegend ausschied. „Ich liefere die besten Leistungen meiner Karriere ab, aber wenn solche Fehler passieren, ist das inakzeptabel, und das muss ich in den Griff bekommen", gestand der Monegasse zähneknirschend seinen Fauxpas. Auf 32 Punkte bezifferte Leclerc schon seine Punktverluste durch eigene Fehler. Profiteur in seinem 300. Grand Prix war Verfolger Verstappen, der seinen siebten Saisonsieg auf dem Silbertablett serviert bekam. Ex-Mercedes-Sportchef Norbert Haug sagte abends im „AvD-Talk" auf Sport 1: „Das war ein Schlag in die Magengrube."
DTM-Legende Manuel Reuter sprach in der gleichen Sendung von einem „Desaster für Ferrari". Für den Markenbotschafter und Fahrtrainer für Opel war der ungewohnte Fehler von Leclerc „Sinnbild für den Meisterschaftskampf". Der Mainzer meinte: „Irgendwann ist Unruhe im Team durch Fahrfehler, technische Fehler, Strategiefehler und Standfestigkeitsfehler. All das springt auf den Fahrer über. Und wenn Leclerc unter Druck ist, dann muss er pushen, und es war dieses Quäntchen zu viel." Für DTM-Routinier Reuter (203 Rennen) war nach Saisonlauf zwölf in Frankreich sogar schon eine WM-Vorentscheidung gefallen: „Wenn man sich das ganz realistisch anschaut, ist das Ding fast durch für Red Bull und Verstappen. So viele Fehler werden sie nicht mehr machen."
„Irgendwann ist Unruhe im Team"
Nur ein Rennen später, in Ungarn, zeigte der „stramme Max" seine ganzen Qualitäten. Nach Problemen in der Qualifikation wurde Verstappen auf den ungewohnten Startplatz zehn verbannt und ins Rennen geschickt, sein Bullen-Teamkollege Sergio Pérez startete sogar von Rang elf. Mercedes-Jungstar George Russell stand überraschend auf seiner ersten Pole Position, Leclerc auf Platz drei hinter seinem Ferrari-Stallgefährten Carlos Sainz junior. Ferrari galt auf dem Papier als klarer Sieger. Aus aussichtsloser Position zehn auf Sieg zu fahren, scheint fast unmöglich. Doch Max macht’s möglich. Als „fliegender Holländer" stürmt Verstappen wie ein wild gewordener Bulle versessen, besessen und wie entfesselt außer Rand und Band durchs Feld, schnupft den führenden Leclerc trotz seines Verstappen-Drehers zweimal auf, setzte sich an die Spitze – und verteidigte sie bis ins Ziel. Mit Platz sechs vergeigte Leclerc sein Ziel – seinen vierten Saisonsieg. Verstappen versetzte mit Saisontriumph Nummer acht Rennbahn-Rivale Leclerc den nächsten Tiefschlag. „Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet, hier zu gewinnen. Ich wollte nur so nah wie möglich ans Podium heran", so der Sieger etwas verwundert. „Es war ein verrücktes Rennen, das wir glücklicherweise gewonnen haben", gab die „ehrliche Haut" Verstappen zu. Die niederländische Tageszeitung „AD" stellte fest: „Die Art, wie Max Verstappen gewann, kam der Perfektion sehr nahe. Seine Konkurrenten von Ferrari haben wieder mal die Sache vermasselt. Das scheint der Gnadenstoß im Kampf um die WM zu sein." Die italienische Sportzeitung „La Gazzetta dello Sport" urteilte: „Rotes Desaster. Das nächste Eigentor von Ferrari. Der rote Untergang. Nach einer Flop-Strategie verabschiedet sich Leclerc vom WM-Titel". Die Tageszeitung „L’Equipe" in Frankreich stellte fest: „Verstappen hat einmal mehr die strategischen Fehler von Ferrari für sich genutzt und gewonnen." Die österreichische Tageszeitung „Kurier" bringt das Desaster schmunzelnd auf den Punkt und spottet: „Das Team von Ferrari fällt in diesem Jahr durch extrem soziales Verhalten auf. Die Italiener scheinen in Geberlaune, denn mit Fehlern beschenkt man vor allem Red Bull und Max Verstappen mit Siegen." F1-Experte Christian Danner kommentiert nach diesem Verstappen-Coup überzeugend kurz und knapp: „Das war’s". Leclercs Ferrari-Teamkollege Sainz analysierte das Fiasko von Ungarn knallhart: „Wir haben viele Schritte zurück gemacht, wir wurden immer schlechter."
Dabei hat die Saison für Ferrari zukunfts- und hoffnungsvoll begonnen: Zwei Leclerc-Siege (Bahrain, Australien), Platz zwei (Saudi Arabien) in den ersten drei Rennen, und eine komfortable WM-Führung bis nach dem fünften Lauf in Miami (Sieger Verstappen) haben für eine Ferrari-Gefühlseruption gesorgt. Doch von da an ging’s bergab. Technische Gebrechen wie fehlende Zuverlässigkeit in Baku und Spanien, gröbste Strategiefehler in Monaco, Silverstone und zuletzt in Ungarn, Fahrfehler in Frankreich vermasselten Bestplatzierungen. Zwischendurch folgten noch zwei Ferrari-Siege in England (Sainz) und Österreich (Leclerc). Aber Statistiken lügen nicht: Sieben Ausfälle in den ersten 13 Rennen mussten die Roten verkraften. Zuverlässig unzuverlässig, so der prägnante, gehaltvolle Slogan, den man Ferrari zuordnen kann oder sogar muss.
„Da kann man nur den Kopf schütteln"
Zutreffend und besonders hart trifft es die Strategie-Abteilung. Fragwürdige Fehlentscheidungen des roten Kommandostandes mit verkehrter Reifenwahl zum verkehrten Zeitpunkt sind den Strategie-Ingenieuren knallhart anzukreiden. Mangelhafte Arbeit des „Boxen-Balletts" beim Reifenwechsel steigerten die Fehlerzahl. Die Palette des Versagens ist vielschichtig. Ex-F1-Pilot und TV-Experte Marc Surer fällt auf dem Youtube-Kanal von Formel1.de ein vernichtendes Urteil: „Die Leute von der Strategie würde ich alle feuern!" Peng, das sitzt! Der Schweizer zu seiner drastischen, stringenten Entscheidung: „Da kann man eigentlich nur den Kopf schütteln, dass die Strategen es einfach immer wieder schaffen, eine falsche Entscheidung zu treffen." Laut dem 70-jährigen 82-maligen GP-Teilnehmer „müsste irgendwie eigentlich einer von ganz oben eingreifen und klare Kante zeigen, wie das früher Präsident Luca di Montezemolo und Nachfolger getan haben. Dann würde es jetzt nicht so dahinplätschern."
Die Formel 1 ist ein brutales Geschäft. Nur Leistung zählt. Und WM-Punkte. Und die Tabelle lügt bekanntlich nicht. So grüßt Verstappen von ganz oben der Fahrer-Wertung. In der Marken-Wertung liegt Ferrari sogar 97 Punkte hinter den Bullen und nur noch 30 Zähler vor Mercedes. Dabei haben Leclerc und Sainz mit dem „Ferrari-Pferd" den schnellsten „Galopper" (Renner) im ganzen F1-Feld. Der schwarze Hengst schneller als der dunkelblaue Bulle – und Ferrari trotzdem im Hintertreffen mit erstaunlich wenig Zählbarem. Die Roten erleben ihr blaues Wunder. Aber wie dieses? Fakt ist: Red Bull unterlaufen im Gegensatz zu Ferrari keine renntechnischen Pannen. Um die auszumerzen blieb den Teams nur wenig Zeit. In der Sommerpause hieß es für volle zwei Wochen: „Finger weg von den Rennwagen". Entwicklungs- und Forschungsarbeit waren streng verboten. Mit kaum weiterentwickelten Rennboliden gehen die zehn F1-Rennställe in den Rest der Saison.
Mit zwei Siegen im Rücken reist Verstappen mit breiter Brust in Spa an. „Wir wollen nach der Sommerpause so viele Rennen wie möglich gewinnen. Wichtiger aber ist, die Führung in der Fahrer-WM zu sichern", so die Vorgabe des Bullen-Chefpiloten.