Es war die wohl größte Sensation von Olympia 1972. Ulrike Meyfarth, damals gerade 16 Jahre alt und mit noch junger Technik am Start, gewann bei den Spielen in München quasi aus dem Nichts die Goldmedaille im Hochsprung. Sie ist bis heute die jüngste Siegerin in einer olympischen Leichtathletik-Einzeldisziplin.
Es war ein „Goldener Sonntag", der der bundesdeutschen Leichtathletik gleich drei Olympiasieger bescherte. Am 3. September 1972 waren Hildegard Falck über die 800-Meter-Strecke, Bernd Kannenberg im 50-Kilometer-Gehen und Klaus Wolfermann im Speerwurf als Sieger hervorgegangen. Daher hatte die Mehrzahl der Zuschauer am folgenden Tag deutlich weniger Medaillenhoffnungen für das bundesdeutsche Team. Mit rund 80.000 Besuchern war das Olympiastadion zu den Olympischen Spielen in München erneut restlos ausverkauft. Die niedrigen Erwartungen galten auch für die am frühen Abend des 4. September bei spätsommerlichen Temperaturen anstehende Entscheidung im Hochsprung-Wettbewerb der Frauen. Zwar hatten sich gleich drei bundesdeutsche Athletinnen für das mit 23 Sportlerinnen ungewöhnlich umfangreiche Teilnehmerfeld des Finales qualifizieren können. Doch Chancen auf einen Podiumsplatz wurden den Sportlerinnen mit dem Adler auf den Trikots keine eingeräumt.
Ihr erster Trainer erkannte Potenzial
Zu klar schien der Favoritenkreis mit der österreichischen Weltrekordhalterin Ilona Gusenbauer, der Bulgarin Jordanka Blagoewa und der Britin Barbara Inkpen abgesteckt zu sein. Ellen Mundinger und Renate Gärtner wurden im Vorfeld am stärksten eingeschätzt – mit den Plätzen zehn beziehungsweise zwölf. Die dritte bundesdeutsche Teilnehmerin hatte niemand auf dem Schirm. Schließlich handelte es sich um die 16-jährige Ulrike Meyfarth, ein hoch aufgeschossenes „Küken" mit stufig geschnittenen braunen Haaren. Sie war nur für München nominiert worden, um bei den Olympischen Spielen erstmals Erfahrung bei Großveranstaltungen sammeln zu können. Sie hatte erst im Alter von zwölf Jahren mit dem Sport begonnen. Und das auch nur dank der Überredungskünste des späteren Sprint-Asses Elvira Possekel im Umfeld ihres Wohnortes Wesseling, einer von der petrochemischen Industrie geprägten Stadt südlich von Köln. Meyfarths erster Trainer Günter Janietz hatte allerdings ziemlich schnell ihr besonderes Talent für den Hochsprung erkannt.
Er hatte sie gleich mit der innovativen Hochsprung-Technik Fosbury-Flop vertraut gemacht. Mit diesem hatte der US-Amerikaner Dick Fosbury die Leichtathletik-Szene nach seinem Olympiasieg in Mexiko 1968 revolutioniert. Mit dem Flop konnten deutlich höhere Regionen als mit dem bis dahin üblichen sogenannten Straddle-Stil anvisiert werden. Bei diesem mussten die Sportler die Latte bäuchlings überqueren. Das Erlernen des Fosbury-Flops, bei dem die Latte nach einem bogenförmigen Anlauf und Rumpfdrehung bei den letzten Schritten vor dem Absprung rücklings passiert wird, sollte für Meyfarth der große Vorteil bei den Münchner Spielen werden.
Denn fast keine andere Finalteilnehmerin – vor allem nicht die Favoritinnen – hatten auf Fosbury umgestellt, sondern hatten ihr Glück weiterhin mit dem Straddle versucht. Das funktionierte in der Herren-Konkurrenz mit dem Sieg des sowjetischen Athleten Jurij Tarmak in München sogar noch. Aber eben nicht mehr beim Frauen-Finale. Doch vor 50 Jahren wurde mit dem Triumph von Ulrike Meyfarth endgültig der unaufhaltsame Siegeszug des Fosbury-Flops eingeläutet.
Die Schülerin eines im Kölner Nobelstadtteil Rodenkirchen ansässigen Gymnasiums war während ihrer Jugend von Altersgenossinnen wegen ihrer ungewöhnlichen Größe von 1,88 Meter häufig als „Langer Lulatsch" oder „Klappergestell" gehänselt worden. Nach München war sie 1972 eigentlich mit einem Nichts an sportlichen Vorleistungen angereist. Mit 14 Jahren hatte sie den bundesdeutschen Schülerrekord auf 1,68 Meter steigern können. Ein Jahr später war sie bei den Erwachsenen mit übersprungenen 1,80 Meter bundesdeutsche Vizemeisterin geworden. Daraufhin wurde sie zur Europameisterschaft in Helsinki 1971 geschickt, war dort aber schon in der Qualifikation gescheitert. Im Vorfeld der Münchner Spiele war sie im Juli 1972 im Trikot der LG Rhein-Ville bei den nationalen Titelkämpfen mit übersprungenen 1,79 Meter gerade mal auf dem dritten Platz gelandet. Und das, obwohl ihre persönliche Bestmarke damals schon bei 1,85 Meter gelegen hatte.
Sie war einer der Stars der Spiele
In das Münchner Finale konnte sie daher mit der Startnummer 168 völlig unbelastet hineingehen. Niemand erwartete von ihr ein Eingreifen in die Medaillenentscheidung. „Vom Olympiasieg bin ich völlig überrumpelt worden. Dabei sein ist alles, Erfahrungen sammeln, lautete das Motto. Doch dann kam alles anders. In keinem Traum hatte ich das jemals gedacht", so Ulrike Meyfarth im Rückblick. Der ganze Wettbewerb sei für sie wie in Trance abgelaufen. „Die Situation war einmalig, das lief ab wie im Film", sagte sie im Gespräch mit der „Süddeutschen Zeitung". „Ich hab gesehen, wie mein Name auf der Anzeigentafel immer höher kletterte. Und wie das Publikum hinter mir stand. Aber als ich die 1,90 Meter einmal gerissen habe, haben sie gebuht. Die können auch anders, dachte ich da." Bis zu ihrem ersten Fehlversuch hatte sie jede Höhe im ersten Anlauf nehmen können. Da waren nur noch die beiden Top-Favoritinnen Gusenbauer und Blagoewa im Wettbewerb verblieben – Meyfarth hatte die Bronzemedaille daher schon sicher.
Nachdem sie die auf 1,90 Meter liegende Latte nach neun schnellen Anlaufschritten als einzige der Konkurrenz im zweiten Versuch überqueren konnte, war sie plötzlich Olympiasiegerin – unter dem tosenden Beifall der Zuschauer. Das Ganze steigerte sich zu einem Orkan, als Meyfarth um exakt 19.05 Uhr im ersten Versuch mit übersprungenen 1,92 Metern auch noch den von Gusenbauer gehaltenen Weltrekord egalisieren konnte. Dabei wäre es fraglos cleverer und auch kraftsparender gewesen, mit 1,93 Metern gleich einen Angriff auf einen neuen Weltrekord zu unternehmen.
Dass sie danach dreimal an der neuen Rekordhöhe von 1,94 Meter scheitern sollte, nahm ihr natürlich niemand übel. Die Sensation war perfekt, Ulrike Meyfarth war aus bundesdeutscher Sicht aus dem Nichts neben Heide Ecker-Rosendahl zum Star der Spiele aufgestiegen. Und sofort setzte der Medienrummel ein, worauf die junge Sportlerin überhaupt nicht vorbereitet war. Erste Interviews im grasgrünen Trainingsanzug im ARD-Studio mit Moderator Eberhard Stanjek, dann gleich weiter ins „Aktuelle Sportstudio", wo ihr als Glückwunsch ein roter Rosenstrauß im Auftrag vom damaligen Bundeskanzler Willy Brandt überreicht werden sollte.
Nach dem Olympiasieg war für Ulrike Meyfarth nichts mehr wie früher. Im Privatleben wurden sie und ihre Familie von der Presse überlaufen, im Sportlichen erwartete jeder nur noch Höchstleistungen: „Ich hatte immer im Hinterkopf: Die super Olympialeistung muss ich bestätigen. Eine Olympiasiegerin kann es sich nicht leisten, 1,80 Meter zu springen." Diesem Druck war sie lange nicht gewachsen. Vier Jahre nach München scheiterte sie bei den Olympischen Spielen in Montreal mit 1,78 Metern schon in der Qualifikationsphase.
Erst mit dem Wechsel zu Gerd Osenberg in Leverkusen, einem der erfolgreichsten deutschen Leichtathletik-Trainer, ging es wieder aufwärts, obwohl Osenberg gar kein Hochsprung-Spezialist war. Gleich viermal in Folge wurde Ulrike Meyfarth zwischen 1981 und 1984 zur Sportlerin des Jahres gewählt, womit unter anderem der Sieg bei den Europameisterschaften in Athen 1982 mit Weltrekordhöhe von 2,02 Metern, die Steigerung des WM-Rekords um einen Zentimeter und der Gewinn der Silbermedaille bei der Leichtathletik-WM in Helsinki im Jahr 1983 sowie schließlich ihr ultimatives Comeback mit ihrem Olympiasieg von Los Angeles 1984 mit übersprungenen 2,02 Metern gewürdigt wurde. Das war zwölf Jahre nach ihrem ersten Olympia-Triumph von München.
Mit 28 Jahren Karriere beendet
In Los Angeles hatte sich für Meyfarth „der Kreis geschlossen", bald danach beendete sie im Alter von 28 Jahren ihre Karriere. Sie selbst stufte ihr zweites Olympiagold gegenüber der „FAZ" viel höher ein: „München, das war die einmalige Sache, davon träumt jeder Mensch. Aber ich musste mir diesen Sieg erst hinterher verdienen. Das ist viel härter, als wenn man auf ein Ziel hinarbeiten darf, wie auf Los Angeles. Sportlich war das die größere Leistung. Man baut sich auf, und das baut einen auf. Das ist gesünder, als wenn einem der Erfolg so überraschend in den Schoß fällt."
Nach ihrer Heirat mit dem Kölner Rechtsanwalt Roland Nasse hat die am 4. Mai 1956 in Frankfurt am Main als Tochter eines Maschinenbau-Ingenieurs geborene Ulrike Meyfarth ihren Mädchennamen abgelegt. Seitdem heißt sie Ulrike Nasse, auch wenn das in Sportpublikationen meist durch Verwendung des von ihr nie benutzten Doppelnamens Nasse-Meyfarth übergangen wird. Sie war nach dem Studium an der Deutschen Sporthochschule in Köln mit dem Abschluss als Diplom-Sportlehrerin über drei Jahrzehnte lang als Trainerin in der Kinder- und Jugendabteilung bei Bayer 04 Leverkusen tätig. Nun lebt sie mit ihrer Familie, zu der auch die inzwischen erwachsenen Töchter Alexandra und Antonia gehören, in einem Stadtteil der Gemeinde Odenthal im Oberbergischen Kreis.