Lange vor Corona haben sich antibiotikaresistente Keime laut der WHO zu einer der größten Gefahren für die globale Gesundheit entwickelt. Allein 2019 starben mindestens 1,27 Millionen Menschen an den direkten Folgen einer bakteriellen Infektion, 4,95 Millionen Todesfälle wurden durch eine solche mitverursacht.
Als Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Antibiotika entdeckt wurden, galt das als echte medizinische Sensation und als Segen für die Menschheit. Plötzlich war es möglich geworden, Krankheiten, die jahrhundertelang Millionen von Erdbewohnern mangels wirksamer Gegenmittel dahingerafft hatten, erfolgreich zu bekämpfen: beispielsweise Lungenentzündung, Tuberkulose, Typhus oder Blutvergiftung. Auch wenn das 1928 entdeckte Penicillin das bekannteste Medikament und längst zu einem Synonym für Antibiotika geworden ist, so gibt es doch inzwischen eine Vielzahl weiterer Medikamente gegen bakterielle Infektionskrankheiten. Umso erschreckender ist die Erkenntnis, dass inzwischen global wieder viele Menschen an Krankheiten sterben, deren erfolgreiche Behandlung eigentlich dank Antibiotika-Verabreichung problemlos möglich sein sollte.
Wiederaufleben tödlicher Krankheiten
Eine von internationalen Forscherteam unter Federführung von Professor Christopher J. L. Murray vom Institute for Health Metrics and Evaluation der University of Washington in Seattle erarbeitete und im Fachmagazin „The Lancet" publizierte Analyse konnte für das untersuchte Jahr 2019 ein frappierendes Wiederaufleben von tödlichen Lungenentzündungen, Blutvergiftungen und Blinddarmentzündungen nachweisen. Nicht weniger als 400.000 Menschen starben direkt an den Folgen einer bakteriellen Infektion der Atemwege wie etwa einer Lungenentzündung, darüber hinaus konnten 1,5 Millionen Todesfälle als von antimikrobieller Resistenz, kurz AMR, mitverursacht eingeschätzt werden. Für tödliche Blutvergiftungen und Sepsis lagen die Sterblichkeitszahlen bei 370.000 beziehungsweise knapp 1,5 Millionen, für Blinddarmentzündungen bei 210.000 beziehungsweise rund 800.000. Die drei genannten infektiösen Syndrome waren im Jahr 2019 allein für fast 80 Prozent aller auf AMR zurückführbaren Todesfälle verantwortlich.
Insgesamt taxierte das Forscherteam für das Jahr 2019 die Zahl der Todesfälle, die direkt durch eine Infektion mit antibiotikaresistenten Keimen verursacht worden waren, auf 1,27 Millionen. Noch höher war die Zahl der mit AMR in Verbindung stehenden Sterblichkeitsfälle, sie wurde mit 4,95 Millionen angegeben. Was schon erschütternd hohe Todesraten sind, wie der Vergleich mit HIV/Aids oder Malaria verdeutlichen mag: An ersterer Krankheit verstarben 2020 geschätzt 680.000 Menschen, an Malaria 627.000 Menschen. Die Seriosität der Arbeit des Forscherteams, das die bislang umfassendste Schätzung der weltweiten AMR-Belastungen vorgenommen hat, lässt sich schon allein daran ablesen, dass die Weltgesundheitsorganisation WHO in ihrer im Sommer 2022 publizierten Aufforderung an mögliche Geldgeber für Studien zu Impfstoffen gegen resistente Bakterien genau diese Zahlen übernommen hatte. Die WHO hat resistente Erreger unter die aktuell zehn größten Gefahren für die globale Gesundheit eingeordnet und spricht von einer „stillen Pandemie". Sie möchte angesichts der wachsenden Bedrohung durch AMR die Forschungsprozesse für die Entwicklung neuer Impfstoffe beschleunigen und sieht vor allem in der Corona-bewährten mRNA-Technologie große Chancen für „einzigartige Möglichkeiten". Die WHO führte zwölf resistente Bakterien an, gegen die ganz dringend neue Antibiotika entwickelt werden müssten, allerdings hatte sie wenig Hoffnung geäußert, dass in absehbarer Zeit mit einer Erfolgsmeldung gerechnet werden könne. Als besonders „kritisch" wurden die beiden Krankenhauskeime Acinetobacter baumannii und Pseudomonas aeruginosa sowie ein Erreger aus der Enterobacteriaceae-Gruppe bewertet.
Das internationale Forscherteam hatte nach Auswertung von 471 Millionen Einzeldaten und Schätzungen für 204 Länder und Territorien 23 Krankheitserreger und 88 Kombinationen von Krankheitserregern und Medikamenten unter die Lupe genommen. Daraus wurden sechs Erreger ermittelt, die jeweils für mehr als 250.000 Todesfälle und insgesamt für mehr als 70 Prozent aller Mortalitäten in Zusammenhang mit AMR verantwortlich gemacht werden konnten, wobei der Erreger Escherichia coli für die meisten Sterblichkeiten ursächlich war. In der Rangfolge der Todesfallzahlen ergab sich folgende Auflistung: Escherichia coli, Staphylococcus aureus, Klebsiella pneumoniae, Streptococcus pneumoniae (Pneumokokken), Acinetobacter baumannii und Pseudomonas aeruginosa. Laut den Forschern ist der Grad der AMR-Belastung weltweit ziemlich unterschiedlich stark ausgeprägt. Von den 21 untersuchten Regionen des Globus war demnach im Jahr 2019 Australasien mit 6,5 direkten Todesfällen pro 100.000 Einwohner und mit 28 Todesfällen pro 100.000 Einwohner in Zusammenhang mit AMR am geringsten betroffen. Das westliche Subsahara-Afrika hatte noch vor Südasien die höchste Belastung mit direkten 27,3 Todesfällen pro 100.000 Einwohner beziehungsweise 114,8 Todesfällen mit AMR-Verbindung. Was vermutlich auf hohe Infektionsraten und einen mangelhaften Zugang zu Antibiotika zurückgeführt werden kann, auch wenn die Datenlage für die betroffenen afrikanischen Regionen ziemlich lückenhaft war. In den reichen Ländern konzentrierte sich ungefähr die Hälfte der tödlichen AMR-Last auf lediglich zwei Erreger: Escherichia coli und Staphylococcus aureus.
Zeit für konkrete Maßnahmen
Die wachsende Gesundheitsbedrohung durch AMR ist schon seit Längerem bekannt. Laut dem Forscherteam ist es höchste Zeit, konkrete Maßnahmen dagegen einzuleiten, beispielsweise Stärkung des öffentlichen Bewusstseins, bessere Überwachung sich ausbildender Resistenzen, Verbesserung der Diagnostik und Kontrolle der Infektionen, rationellerer und gezielterer Einsatz von Antibiotika, weltweiter Zugang zu sauberem Wasser und möglichst keimfreien sanitären Einrichtungen oder Investitionen in neue antimikrobielle Mittel und Impfstoffe. Die Ergebnisse ihrer Studie müssten eigentlich die Alarmglocken läuten lassen: „Diese neuen Daten zeigen das wahre Ausmaß der weltweiten Antibiotikaresistenz und sind ein klares Signal, dass wir jetzt handeln müssen, um die Bedrohung zu bekämpfen. Frühere Schätzungen gingen von zehn Millionen jährlichen Todesfällen aufgrund von Antibiotikaresistenzen bis zum Jahr 2050 aus, aber wir wissen jetzt mit Sicherheit, dass wir heute dieser Zahl schon viel näher sind als wir dachten. Wir müssen diese Daten nutzen, um den Kurs zu korrigieren und Innovationen voranzutreiben, wenn wir im Wettlauf gegen die Antibiotikaresistenz die Nase vorn haben wollen." In einem ebenfalls in „The Lancet" publizierten Kommentar zu der Forschungsarbeit bezeichnete Ramanan Laxminarayan, Gründer und Direktor des Center for Disease Dynamics, Economics & Policy in Washington, D. C. das Problem der antibakteriellen Resistenzen als „übersehene Pandemie": „Innovation war extrem langsam. Impfstoffe sind nur für einen der sechs in der Studie beschriebenen führenden Krankheitserreger verfügbar. Die klinische Pipeline für Antibiotika ist zu klein, um das zunehmende Auftreten und die Verbreitung von AMR zu bewältigen. Viel Forschung hat das Problem der AMR beschrieben, aber es wurde nicht genug getan, um Lösungen zu untersuchen oder die politische Diskussion zu ändern. Nationale Führer sind nun verpflichtet, AMR auf ihrer politischen Agenda eine höhere Position zu verschaffen."